Beiträge von Gontscharow

    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: 11. Januar 2011

    Da sieht man, wohin es führt, wenn man den Flußgöttern zum Jahreswechsel nicht die eine oder andere Jungfrau (meinetwegen auch den einen oder anderen Jüngling) opfert!


    Hallo, Sir Thomas!


    Meine Flussgöttin (es ist eindeutig ein weibliches Wesen wie aus allegorischen Darstellungen hervorgeht) hat sich in ihr Bett zurückgezogen. Ovids "Omnia mutantur … cuncta fluunt…" (alles wandelt sich... alles fließt) – ist mir aus einem gewissen Abstand und als Metapher doch lieber!


    Ich habe nun auch die Briefe fertig gelesen. Die drei Briefpaare sind ja vor allem eins: komisch!


    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: 6. Januar 2011

    Noch dreister als in dem Phädra-Brief wird hier (Brief Paris’ an Helena) die Geliebte zum Ehebruch aufgefordert, noch sorgloser werden die Konsequenzen der Tat geleugnet. Paris beleidigt den Gatten Helenas, nennt ihn einen grobschlächtigen Bauern und leitet daraus sein (Paris') Recht auf die Geliebte ab...
    Aus den „Metamorphosen“ wissen wir, dass Ovid für den Frauenräuber eine gehörige Portion Verachtung übrig hatte. Ich bin nun gespannt, wie die Erwiderung Helenas ausfällt.


    Helena steht Paris in puncto Skrupellosigkeit in nichts nach:
    Du rätst … den Vorteil eines einfältigen Ehemanns zu nutzen … „Kümmere dich um … unseren trojanischen Gast“, sagte er beim Abschied, kaum konnte ich mir ein Lachen verkneifen …
    Zwar ist ihr im Gegensatz zu Paris bewusst, welche Konsequenzen ihr Betrug haben wird. Sie zweifelt nicht daran, dass er einen Krieg auslösen wird, aber – und das ist eigentlich noch perfider als Paris’ tumbe Sorglosigkeit – sie scheint das einzukalkulieren und in Kauf nehmen zu wollen. Sie macht einen sehr oberflächlichen selbstsüchtigen und eitlen Eindruck. Die Fama, ihr Ruf und der äußere Schein sind ihr sehr wichtig:
    Wozu du mich schändlich überreden willst, ach könntest du mich auf schickliche Weise dazu zwingen! Mit Gewalt müsste meine Naivität erschüttert werden. Bisweilen ist das Unrecht denen, die es über sich ergehen lassen nützlich. So könnte man mich sicher auch zu meinem Glück zwingen.
    Wer verführt hier wen? Ist das nicht von fast mephistophelischer Spitzfindigkeit und Chuzpe?
    Waren die vorangegangenen Briefe eher Stoff für Tragödien, könnte dieses Pärchen in einer Gaunerkomödie z. B. der Commedia del arte auftreten – wenn der Krieg nicht seine Schatten überdeutlich vorauswerfen und diesen Briefwechsel düster einfärben würde.


    Ein Höhepunkt an Komik ist der Brief Acontius’ an Cydippe (Brief XX). Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, danach verfährt und so argumentiert er, ohne zu merken, wie lächerlich er sich macht. Er ist sogar bereit, im Namen der Liebe in die Fußstapfen Paris’ zu treten:
    Ich bin keiner von denen, die die Tat des Paris zu tadeln pflegen, noch irgendeinen anderen, der Manns genug war, auch mal ein Mann sein zu können.
    Das steht da wirklich, auch auf Latein: … qui vir, posset ut esse, fuit.
    Ist das nicht ein herrlicher Blödsinn? Heinz Ehrhardt und Karl Valentin lassen grüßen! Nebenbei redet er sich in erotische Phantasien hinein:
    Schon längst solltest du mich wie eine Herrin (domina im lat. Text!) herzitieren. Du kannst gebieterisch mir die Haare zerraufen, und meine Wangen sollen blau geschlagen werden … alles werde ich erdulden … etc.
    Er outet sich als Stalker:
    … schleiche ich oft… insgeheim immer wieder an deiner Tür vorbei… folge verstohlen deiner Magd …
    Der Höhepunkt seines amourösen Furors aber ist eine Eifersuchtstirade auf einen eingebildeten Rivalen, von dem er erst in der Er-form spricht:
    …während er mit seinem Daumen dir den Puls fühlt … begrapscht er deine Brüste … küsst dich womöglich noch …,
    den er dann aber, völlig vergessend, an wen er hier schreibt, direkt anspricht:
    Mein sind die Küsse, die du dir da schändlich genehmigst! Nimm gefälligst deine Hände von dem mir versprochenen Körper! Schuft, Hände weg ! Die du da befingerst … etc.
    Ich musste bei diesem Brief manchmal laut lachen!
    Aber, o Wunder der Liebe, obwohl Cydippe, seine Angebetete, den ganzen Schwachsinn durchschaut und in ihrem Antwortbrief analysiert, ist sie bereit, ihn zu erhören und zeigt ihm (ähnlich wie Helena dem Paris) eine in diesem Fall aber honette Möglichkeit auf, wie er sein Ziel erreichen kann.

    So endet der Reigen unglücklicher und vergeblicher Liebesbekenntnisse mit einem angedeuteten happy end.

    Hallo Sir Thomas!


    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: Heute um 10:21

    Ich bin übrigens mittlerweile fertig mit den Briefen. Du auch?


    Nein, leider noch nicht, da ich - ein Opfer des Winterhochwassers - in den letzten Tagen mit dem Ausräumen meines überfluteten Kellers beschäftigt war. Ich liebe meinen Hausfluss, habe ihn aber nicht so gern zu Besuch!
    Sobald die Pegelstände es zulassen – mehr.

    Faust: Pfui über dich!


    Mephistopheles: Das will Euch nicht behagen;
    Ihr habt das Recht, gesittet Pfui zu sagen.
    Man darf das nicht vor keuschen Ohren nennen,
    Was keusche Herzen nicht entbehren können …


    Das weibliche Gegenstück dazu rund 1800 Jahre früher in: Heroides von Ovid, Brief XV (Sappho an Phaon)


    Gestern habe ich wenig im Nachwort gestöbert. Was musste ich dort lesen? Dass es ernsthafte Stimmen gibt, die Ovids Heldinnen als antike Vorwegnahme der legendären Frauengestalten Tolstois (Anna K.) und Fontanes (Effi B.) sehen. Was hältst Du, Gontscharow, von dieser These? Ich finde sie etwas arg weit hergeholt.


    Ich nicht. Aber die Auswahl finde ich etwas willkürlich. Niklas Holzberg - übrigens ein Altphilologe und vielleicht nicht unbedingt prädestiniert für literarische Komparatistik – sieht (auf diese Stelle im Nachwort spielst du wohl an)„Hedda Gabeler, Effi Briest, Rose Bernd, Anna Karenina und die anderen Protagonistinnen der großen Dramen und Romane des 19. und 20. Jahrhunderts alle in irgendeiner Weise in Ovids Briefschreiberinnen präfiguriert“. Warum nur die Protagonistinnen des 19. und 20. Jahrhunderts? Warum nicht auch Luise, Stella, Iphigenie, Emilia, Sara, Julie, Félicie, Virginie, die Heroinen von Racine, von Corneille bis hinunter in die Antike. Alle diese titelgebenden Heldinnen von Tragödien, Opern, Romanen und Epen, die sich in Arien oder Monologen äußern, aus deren Sicht erzählt wird oder die selber erzählen, sind „ in irgendeiner Weise“ mit den ovidischen Briefschreiberinnen verwandt. Von Frauen erlebtes Liebesleid und -glück zieht sich durch die gesamte Literatur und beginnt auch nicht erst mit den „Heroides“, man denke nur an die Tragödien von Euripides, Sophokles u.a.


    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: Gestern um 10:59 »

    …ich habe gestern den Sappho-Brief geschafft. Nach einer längeren Lesepause entfaltet die wunderbare Sprache Ovids erneut ihren ganz eigenen Zauber.


    Brief XV hat mir auch sehr gut gefallen. Wegen der anmutigen Landschafts - und Naturbeschreibungen, der feinen sensiblen Schilderung seelischer Befindlichkeiten und des freien, selbstbewussten Umgangs mit Erotik. Ja, mir scheint das ein “kongenialer“ Text zu sein, denn all das verbinden wir mit Sapphos Lyrik. Warum Ovid aus Sappho eine heterosexuell liebende Frau gemacht hat (die Liebe zu Phaon und der angedeutete Sturz von dem Leucadia-Felsen scheinen seine Erfindung zu sein), weiß ich nicht. Vielleicht hätte sie sonst nicht in die Riege der Briefschreiberinnen gepasst.


    Es ist der einzige Brief der Sammlung, der nicht von einer mythischen Figur geschrieben ist. Es ist der Brief einer Dichterkollegin! Ich glaube, dass Ovid sich hier als Dichter und Liebender selbst auch darstellt, bzw. aus eigener Erfahrung schöpft, z. B. wenn er Sappho sagen lässt:

    Der Schmerz ist ein Gegner der Kunst, und all mein Talent stockt durch mein Leid…


    Oder wenn Naso das Dichtertalent als Ausgleich für fehlende äußere Reize in die Waagschale wirft:


    Wenn mir die neidische Natur auch Schönheit verweigert hat, so wiege den Mangel an Schönheit mit meinem Genie auf…
    Als ich dir meine Gedichte vorlas, da schien ich dir schön genug…

    Und das Folgende kennen wir irgendwie…


    Mir aber diktieren die Musen lockende, schmeichelnde Lieder; schon wird mein Name auf dem ganzen Erdenrund gepriesen.


    …aus dem Epilog der Metamorphosen.

    Hallo Lost!


    Die Besprechung des Narrenschiffs von dradio kultur kann ich wärmstens empfehlen! Da steht alles über Entstehung, Inhalt, Stil und Rezeption des Buches drin, besser als ich es jetzt aus der Erinnerung zusammenstoppeln könnte.

    Ich habe das Buch in frühester Jugend verschlungen und war begeistert. Fast noch begeisterter war ich von dem Film mit Simone Signoret und Oskar Werner.
    Vor wenigen Jahren habe ich das Buch – schwierig zu beschaffen, da nicht lieferbar- einem jungen Mann geschenkt, der zeitweilig mit Narrenschiffen befasst war; der konnte damit nichts anfangen. Bei der Gelegenheit habe ich das Buch nochmal gelesen und, wie ich befürchtet, für reichlich holzschnittartig, altmodisch, übertrieben und überzeichnet befunden. Es erinnert an Vicky Baums Menschen im Hotel , eine Art Zauberberg für Arme.
    Nichtsdestotrotz eine unterhaltsame und interessante Lektüre, wie ich finde, nicht zuletzt wegen des amerikanischen Blicks auf die Deutschen!

    In einem meiner Lieblingsgedichte von Walter von der Vogelweide (Mädchenlieder: Under der linden) erzählt ein Mädchen von einer Liebesnacht; es beginnt so:


    Under der linden
    an der heide,
    da unser zweier bette was,
    Da mugt ihr vinden
    schone beide
    gebrochen bluomen unde gras.
    vor dem walde in einem tal,
    tanderadei,
    schone sanc diu nahtegal.

    Unter der Linde
    auf der Heide,
    wo unser beider Lager war,
    da kann man sehen
    schön gebrochen
    Blumen und Gras.

    vor dem Wald in einem Tal
    tanderadei
    schön sang die Nachtigall


    1200 Jahre vorher lässt Ovid Sappho an ihren fernen Geliebten Phaon (Heroides, Brief XV) schreiben:


    ivenio silvam, quae saepe cubilia nobis
    praebuit…
    .......................noti mihi caespitis herbas;
    de nostro curvum pondere gramen erat,
    incubui tetigique locum, qua parte fuisti;

    ...............et nullae dulce queruntur aves;
    sola virum non ulta pie maetissima mater
    concinit ....................................ales Ityn.

    Ich finde den Wald, der uns oft eine Lagerstätte bot.... Ich erkannte die zerdrückten Gräser des mir bekannten Rasenstücks … Von unserem Gewicht war das Gras geknickt. Ich liege dort und berühre die Stelle, wo du gelegen hast
    ...
    die tieftaurige Mutter (Prokne), die sich frevlerisch an ihrem Mann gerächt hat, besingt als Vogel
    (Nachtigall!) den Itys


    Die Stimmung ist jeweils eine andere. Das Mädchen bei v. der Vogelweide denkt mit verstohlener Freude an den Ort und die Spuren, die sie hinterlassen haben, während Sappho dort um ihren Geliebten trauert. Aber sind das nicht verblüffende Übereinstimmungen? Zufall? Der Kommentar sagt nichts dazu. Ovid war im Mittelalter sehr bekannt.
    Wie dem auch immer sei, ich finde es faszinierend, wie literarische Motive durch die Jahrhunderte weitergegeben werden und irgendwann wieder auftauchen. Übrigens könnte dieser spezielle locus amoenus auch von Sappho selbst stammen, dann wäre das Motiv noch mal 600(?) Jahre älter.
    Reclam-Kommentar zu diesem Brief: Die Sapphoforschung nimmt an, dass Ovid mit vielen echten biographischen Einzelheiten - er soll auch Sapphozitate eingearbeitet haben - auch Anekdotisches vermischt hat.
    Leider wird nicht gesagt, welche Sapphozitate das sind….

    Salve conlector! Laetum novum annum cum Publio Ovidio Naso!


    Ich bin in etwa so weit wie du.

    Je tiefer ich mich hineinlese in die Heroides, umso mehr habe ich den Eindruck, dass es in diesen fiktiven Briefen mythischer Heldinnen nicht so sehr darum geht, verlassenen und vom Schicksal übergangenen Frauen erstmals eine Stimme zu geben (Wiki) oder sie als unschuldige Opfer treuloser Männer darzustellen, sondern dass hier ein Spektrum unterschiedlicher Arten der Liebe und des Liebeskummers vor uns ausgebreitet wird, das dem Leser Elend, Tragik, aber auch Torheiten und Missverständnisse in der Liebe vorführt, in der Mehrzahl abschreckende Beispiele.

    Die Heroides sind das zweite oder (je nachdem wie die verschollene Medea platziert wird) dritte Werk Ovids nach den Amores, erotischen Gedichten, die auch schon Tipps und Lebenshilfe enthalten, und vor der ausgesprochenen „Ratgeberliteratur“ Ars amatoria und Remedia amoris und den Schmink- und Pflegetipps für Frauen. Die Heroides scheinen mir eine Ars amandi infeliciter(frei nach Watzlawick: Die Kunst unglücklich zu lieben) zu sein, die uns vorführt, wie man es nicht machen sollte.


    Zum Beispiel Medeas Brief an Jason:
    Sie beklagt erwartungsgemäß seine Untreue und Undankbarkeit, zählt auf, was sie alles für ihn getan und aufgegeben hat, lässt aber nebenbei so einen Satz fallen:

    Es ist eine Art Lust, dem Undankbaren die Wohltat vorzuhalten. Die will ich genießen…

    Seiten weiter gipfelt die Tirade in dem Satz :

    Ich will dich, den ich verdient habe… dass du undankbar sein kannst, selbst das ist mein Verdienst.


    Spätestens hier wird der Anteil Medeas am Liebesdesaster deutlich. Sie ist in der Macht- und Manipulationsfalle, fordert Liebe ein für Wohltaten, obwohl gerade sie zu wahren Liebestötern werden, weil sie den anderen ersticken, entmündigen und abhängig machen können. In ihrer Beziehung war von Anfang an der Wurm. Warum meinte sie sich die Liebe Jasons erkaufen, verdienen zu müssen? Fühlte sie sich wertlos? Schachern und Aufrechnen ist ja gerade das Ende der Liebe oder lässt sie gar nicht erst aufkommen.
    Diese mächtige mit Zauberkräften ausgestattete Frau zeigt sich der Liebe gegenüber ohnmächtig und hilflos (ein Topos bei Ovid) und sucht ihr Heil in heilloser Zerstörung.

    Wohin mich meine Wut führen wird, werde ich folgen, sagt sie in ihrem Wahn, wohl wissend, dass Wut der schlechteste Ratgeber ist.

    Es gibt noch viele weitere Beispiele auch in anderen Briefen für die Torheit, Blindheit und den Liebeswahn der Heldinnen, z.B. die immer wieder kehrende Klage, dass man alles aufgegeben und auf die „Liebeskarte“ gesetzt habe. Das war ja gerade der Fehler. Übrigens finde ich das alles (ich wiederhole mich) ziemlich modern, bzw. ich muss feststellen, dass sich bis heute nichts wesentlich geändert hat. Hier kann man heute noch Hilferufe mit ähnlicher Thematik lesen.
    Nach allem, was ich bis jetzt von den Heroides gelesen habe, glaube ich nicht, dass Ovid so etwas wie einen Frauenstandpunkt herausarbeiten oder plump gesagt, feministisch der Damenwelt Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte. Ich meine, es sind allgemeingültige Liebesdramen, in die viel von Ovids Liebeserfahrungen eingeflossen ist. Ovid schreibt in der ars amatoria, dass sie für Männer und Frauen gleichermaßen gelte, so scheint es mir auch mit den Heroides zu sein. Warum sind es vor allem Briefe von Frauen? Auch in den Metamorphosen kamen ja Frauen länger zu Wort. Und überhaupt: Die Dramen und Tragödien von Sophokles und Euripides haben vor allem Protagonistinnen, später bei Racine, Hebbel u.a. gibt es fast nur weibliche Helden. Und die bedeutendsten Romane des 19.Jahrhunderts? Emma, Anna, Effi!


    Also, mich würde entsprechend zu Flauberts Diktum Mme Bovary c’est moi ein Medea/ Phädra ego sum von Ovid nicht wundern. :zwinker:

    Zitat von Autor: meier« am: Gestern um 13:37 »

    Irritiert war ich dennoch vom Vorwort Racines, der dort vom Gedanken an eine Vergewaltigung Phädras durch Hippolyt spricht, was mir im eigentlichen Drama nirgends augenfällig wurde.


    Ihr könnt eigentlich nur diese Stelle im Vorwort meinen:


    Zitat von Racine: Préface ...

    Hippolyte est accusé, dans Euridipe et dans Sénèque, d’avoir en effet violé sa belle-mère: vim corpus tulit. Mais il n’est ici accusé que d’en avoir eu le dessein. J’ai voulu épargner à Thésée une confusion qui l’aurait pu rendre moins agréable aux spectateur.


    Racine spricht hier davon, dass er Euripides’ und Senecas Phädra-Dramen, in denen Hippolyt Theseus gegenüber beschuldigt wird, seine Stiefmutter vergewaltigt zu haben, in seinem Drama dahingehend verändert hat, dass dort "nur" behauptet wird, Hippolyt habe die Absicht gehabt... Racine wollte damit Theseus’ Reaktion herabmildern , die ihn sonst dem Zuschauer „ weniger angenehm“ gemacht hätte.
    Kein Wunder also, dass von „Vergewaltigung“ im Drama nicht die Rede ist, „nirgends augenfällig“ wird.


    Das Vorwort ist übrigens für unsere Thematik sehr interessant, weil darin beschrieben wird, welche Änderungen Racine im Hinblick auf seine Quellen (Ovid wird nicht genannt!) sonst noch vorgenommen hat und warum! Es sind immer Änderungen in Richtung Verharmlosung und Zügelung des Stoffes mit dem Ziel, die Personen weniger hassenswert, ihre Handlungen und Motive weniger niedrig und bösartig erscheinen zu lassen. Das entspricht der französischen Dramendoktrin und ihren Regeln der vraisemblance, grandeur und besonders bienséance (Anstand!) etc.!
    Ja, Racine hat seine Phèdre, wie du, Sir Thomas, in deinem Vergleich so treffend feststellst, zivilisierter, kultivierter angelegt .
    Ovid lässt Phädra, wie ich jetzt beim nochmaligen Lesen bemerkt habe, quasi programmatisch die Begründung für ihre Maßlosigkeit und Zügellosigkeit geben:
    Kein Liebender achtet auf das, was sich ziemt.


    Allerdings sehe ich sie auch nicht als „femme fatale“ oder Vorläuferin einer solchen. Ja, sie wird zum Verhängnis für den Mann. Aber sie liefert sich selbst rückhaltlos aus und macht sich zum Narren. Eine femme fatale lässt den Mann sich zum Affen machen, er ist es, der unglücklich und aussichtslos liebt, nicht sie.


    Erstaunlich, wie wenig negative Gefühle diese eigentlich extreme Figur in mir hervorruft. Eher meine ich, wird mir hier etwas vermittelt, was Ovid in den Metamorphosen über die personifizierte Invidia sagt : Sie ist ihre eigene Strafe! Das gilt auch für seine anderen verbrecherischen bösartigen Gestalten: Das Verbrechen birgt Qual und Strafe schon in sich selbst. Ovid dämonisiert Phädra nicht. Sie ist im Grunde ein armes Schw… Mit dem Brief scheint er uns sagen zu wollen: Seht her, was die Liebe aus jemandem machen kann. Wozu sie Menschen treibt!

    Nicht zu vergessen: Venus lässt Phädra so abartig lieben, um sich an dem der Liebe abholden Hippolyt zu rächen und ihre Macht zu beweisen.



    Zustimmung! Ich kann allerdings nicht beurteilen, ob Schillers Übersetzung "Schuld" daran ist und ob der französische Text ähnlich elegant klingt.



    Doch, das tut er!
    Wenn man elaborierte Sprache und das leise Scheppern von Alexandrinern mag. Hélas!

    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: 23. Dezember 2010

    Diese Schilderungen (Du nennst sie bukolisch) können auch anders aufgefasst werden: zum einen als Parodie des Großdichters Vergil, zum anderen aber auch als Schlichtheit und Naivität der Briefeschreiberin.


    Auf jeden Fall! Dass Ovid mit seiner Idyllik hier in Spuren geht - parodistisch oder adaptierend – glaube ich auch! Und dass sich darin „Schlichtheit und Naivität“ der Schreiberin ausdrücken, ebenfalls. (Ihrem Status als Naturnymphe entsprechend lässt Ovid sie ja auch ausschließlich florale Metaphorik verwenden. Sie vergleicht ihren wankelmütigen Liebhaber mit Grashalmen und Blättern …)
    Das alles tut aber den das friedliche Landleben beschwörenden Versen keinen Abbruch, deren wehmütige Schönheit sich angesichts des Wissens um den unweigerlich kommenden Krieg besonders entfaltet!


    Zitat von Autor: sandhofer« am: Heute um 14:14

    Dass Reclam sich rechtfertigt, die Briefe seien wirklich von Ovid, könnte natürlich auch dem Wunsch entspringen, den zugkräftigen Namen des Autors nicht weglassen zu müssen. Aber wirklich handfeste Beweise haben wohl weder der Verlag noch ich.


    Reclam rechtfertigt sich nicht und versucht auch keine Beweise beizubringen. Ovids Autorschaft wird als selbstverständlich vorausgesetzt und die Zweifel an der Echtheit im Nachwort als eine Episode der Ovid- Rezeption nur am Rande erwähnt. Bis auf besagten Wikipedia-Artikel habe ich so gut wie nichts gefunden, was auf eine solche Diskussion hinweisen würde , dagegen viele Ausgaben und Besprechungen, in denen Ovid ganz selbstverständlich als Autor der Heroides geführt und genannt wird.


    Zitat von Autor: sandhofer« am: Heute um 14:14

    Eine rein gefühlsmäsige Reaktion: Diese Briefe hatten für mein Gusto so gar nichts von Ovid an sich.


    Von der Lektüre der Metamorphosen herkommend muss ich sagen, dass ich sehr viel Ovid in den Heroides wiederfinde! Man darf auch nicht vergessen, dass – vorausgesetzt, sie sind von Ovid - sie vor den Metamorphosen entstanden sind.
    Ich bin keine Altphilologin und kann die „Beweise“ des Wiki-Artikels, unovidische Wendungen in den Heroides o. ä., nicht entkräften.
    Ja, und ich möchte natürlich, dass die Heroides von Ovid sind. :zwinker:


    Zitat von Autor: sandhofer« am: Heute um 14:14

    Ich habe so vor rund 20 Jahren mal - der Phädra wegen übrigens - in die "Heldinnen" hineingelesen.


    Von Euripides, Seneca, Racine oder d’Annunzio? :zwinker:

    Hallo Tom!



    Ich bin mir nicht sicher, ob das haltbar ist, denn meine Erinnerung sagt mir, dass die Racinesche Phèdre viele Ovid-Anteile hat, wenn auch vielleicht nicht ganz so drastisch und so konzentriert. Mir fehlt allerdings im Augenblick die Lust, die alte Schiller-Übersetzung im Regal zu suchen und dann auch noch zu lesen.


    Also, lieber Sir Thomas, das wundert mich nun aber! :zwinker: Ich habe Phèdre erwähnt, weil ich noch dies im Hinterkopf hatte:


    Zitat von Sir Thomas am 3. Dezember 2010

    Erst kürzlich blätterte ich in der Schiller-Übersetzung von Racines "Phèdre" …- und siehe da: Die Phädra-Monologe hätten auch in den "Metamorphosen" stehen können!


    und dies:


    Zitat von Sir Thomas am: 7. Dezember 2010

    Ein wenig enttäuscht war ich über die ovidsche Darstellung der Hippolytus-Phädra-Geschichte. ….Racine hat das in seinem Drama „Phèdre“ sehr viel differenzierter dargestellt, in etwa so, wie Thomas Mann die Versuchung des Joseph durch Potiphars Frau beschrieben hat. Vielleicht hat Ovid der Phädra in seinen „Heroides“ mehr Verständnis entgegengebracht.


    Das klang so, als wäre Phèdre dein täglich Brot :breitgrins: … und ein Vergleich des Phädrabriefes mit dem Drama würde dich besonders interessieren.


    Nun, ich habe mal in meiner alten Racine- Schwarte geblättert:


    Je m’abhorre encor plus que tu me détestes
    (Ich verabscheue mich noch mehr als du mich verachtest)


    sagt Phèdre zu Hippolyt. Das würde Phädra nie schreiben! Phédre ist im Gegensatz zu Phädra zernagt von Gewissensbissen, Zweifeln und Skrupeln. Außerdem geht sie bei ihrem eher unfreiwilligen Geständnis davon aus, dass Theseus tot ist. ( La veuve de Thésée … die Witwe des Theseus) Man merkt das christliche Abendland! Ich glaube, sie erwähnt im Gegensatz zu Phädra nirgendwo den Fluch ihres Elternhauses und die erotischen Extravaganzen ihrer Mutter schon gar nicht, um sie wie Phädra zum Argument zu machen!
    Interessant auch, dass Hippolyt bei Racine kein Frauenverächter ist, dass er in ein Mädchen verliebt ist. Erst als Phèdre das erfährt, schwärzt sie ihn aus Eifersucht an.


    Also, ich finde schon, Ovids Phädra ist skrupelloser, ungebremster, wahnsinniger - umso mehr, als sie noch aussichtsloser und selbstzerstörerischer liebt als Phèdre .


    Ich habe nun auch die Briefe V und VI gelesen. In V schreibt die Brunnennymphe Oenone an Paris, ihren Jugendgefährten und erinnert ihn an Zeiten, als sie gemeinsam die Natur durchstreiften. Bukolische Szenen, die wie immer, wenn Ovid die Natur beschreibt, besonders schön und anschaulich sind. Der Zeitpunkt: Paris ist gerade mit Helena angekommen. Interessant ist der Brief auch, weil hier indirekt Kassandra zu Wort kommt, die vor der „ Griechischen Kuh“ und dem Unheil, das Paris mit ihr ins Land geholt hat, warnt, von der eifersüchtigen Oenone natürlich nur zum Zwecke der Abwertung ihrer Rivalin kolportiert..
    Es ist der dritte Brief, der mit dem Trojanischen Krieg zusammenhängt, geschrieben unmittelbar vor seinem Ausbruch! Nun wird deutlich, dass die Chronologie der Briefe rückläufig ist.
    Das macht dem Leser besonders deutlich, dass die paradiesischen Zustände in Phrygien, die Oenone beschreibt, nun unausweichlich vorbei sind ...

    Hallo Sir Thomas!



    Das dachte ich auch - und sehe diesen Glauben unerschüttert, weil es sich bei den "Heriodes" nicht um einen klassichen Briefroman im Sinn der "Gefährlichen Liebschaften" oder Goethes "Werther" handelt ...



    ... Was ich natürlich auch in keiner Weise sagen wollte! Aber dass seit der Antike so etwas wie eine literarische Vor-Form existiert hat, in der das Individuum mit seiner Sicht im Mittelpunkt steht, war mir neu und hat alt hergebrachte Vorstellungen etwas ins Wanken geraten lassen.




    Der Vorwuf der Monotonie bezog sich mWn. eher auf stilistische Fragen, und da sind die Unterschiede bislang wirklich nicht sehr groß.


    Ich habe noch einmal nachgeschaut, es stand doch nicht im Nachwort, sondern bei Wikipedia:
    Den Heroides wurde immer wieder Monotonie vorgeworfen, da sich die Briefe immer wieder um ganz ähnliche Themen drehe.


    Und dort findet sich auch die Entgegnung:

    In den Heroides wird ein breites Spektrum von Liebe und Leidenschaft behandelt.


    Das finde ich auch!



    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: 19. Dezember 2010

    Der Briseis- und der Phädra-Brief sind interessante Varianten der "krankhaften" Liebe, der amour fou.


    Die befremdliche Tatsache, dass Briseis einen Liebesbrief an den Schlächter ihres Mannes und ihrer Brüder schreibt, hatte ich in meinem letzten Posting zu erklären versucht. Jetzt fand ich eine ganz ähnliche Interpretation:


    As a barbarien, as a captive … Briseis finds her ability to bargain and to plead wakening with each turn of events … Her only salvation lies in her ability to be loved by Achilles…her fate is hat she remains no more than an item of exchange between two powerfull men… he( Achilles) is dominant because he was first her master and she was his slave ... the bonds of love only followed the initial bonds of defeat and captivity.
    The irony of her situation is only heightened in the reader’s mind by the fact that the originary language of erotic literature refers to the experience of love as slavery, a kind of captivity.

    [Blockierte Grafik: http://t2.gstatic.com/images?q=tbn:aT-yAoEGz-OU2M:http://fotogalerie.herr-der-ringe-film.de/data/500/BriseisAchilles.jpg]
    Achilles und Briseis


    Interessant finde ich, dass in dem Troja-Film von Petersen Briseis keine Fremde aus XY ist, deren Verwandtschaft massakriert wurde, sondern eine trojanische Priesterin Apolls, die Achill Kontra gibt – Eine ganz andere, sicher zuschauerfreundlichere Konstellation! Ich habe im Internet so etwas wie Fanclubs für die Achilles- und- Briseis –Szenen des Films gefunden. Unter anderem wurden sie zum sexiest couple alive(or dead) gekürt.


    Zu Phädra und Phèdre schreibe ich vielleicht morgen noch etwas. :zwinker:

    Die ersten vier Briefe habe ich gelesen.
    Mein Staunen über dieses Genre der Heroinen-Briefe, in denen weibliche Haupt- aber auch Nebenfiguren bekannter Mythen mit ihrer Sicht der Dinge zu Wort kommen, hat sich noch nicht gelegt! Wie ich gelesen habe, hat sich seit der Spätantike, über das Mittelalter, die Renaissance, bis ins Barock eine sich an Ovid orientierende Tradition der Heroinen- Briefe entwickelt und etabliert. Vor allem in Frankreich, Italien und England, aber auch in Deutschland gab es Heroinen-Literatur ( z.B. von Christian Hofmann von Hofmannswaldau).
    Das war mir alles neu! Ich dachte immer, die subjektive, intime Äußerung des Individuums im fingierten Brief ( Stichwort: Briefroman! ) sei erst eine Erfindung des 18. Jahrhunderts!


    Der erste Brief (Penelope an Ulixes) ist im Vergleich zu den folgenden drei am unspektakulärsten.
    Er ist geschrieben etliche Jahre nach Ende des Trojanischen Krieges und beklagt das lange Ausbleiben Ulixes’. Penelope zeigt sich zwar ein bisschen argwöhnisch bezüglich seiner Treue (und da ist ihre Hauptsorge, dass er sie als Bauerntrampel hinstellen könnte), aber ihre Klage bezieht sich vor allem auf die Bedrängnis und Not, der sie ohne seinen männlichen Schutz ausgeliefert ist:
    Wir Wehrlosen sind drei an der Zahl , ein schwaches Weib, der greise Laertes und dein Sohn Telemachos …du Hafen und Altar der Zuflucht für die Deinen.
    Ich glaube, das ist echt. Der Brief schildert ihre prekäre Situation. Trotzdem lässt Ovid sie das mit Mutterwitz und einem respektlosen Realismus vortragen:
    Priamus und das ganze Troja war den Aufwand doch nicht wert…. und: Ganz gewiss werde ich … selbst wenn du sofort kommst – wie eine alte Frau aussehen.
    Es hilft nichts, wenn du zurückschreibst, komm selbst!


    Im zweiten Brief beklagt Phyllis, ähnlich wie wir das schon aus den Metamorphosen von Medea und Dido kennen, dass sie viel für ihren Geliebten getan und aufgegeben hat, nun als Betrogene und Verlassene dasteht und keine Zukunft für sich sieht . Auch sie kündigt eine Gewalttat an, an der ihr Geliebter schuld sein wird. Allerdings nimmt ihre Geschichte einen anderen Verlauf als die Medeas oder Didos.


    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: 15. Dezember 2010

    Ziemlich unglaubwürdig finde ich den dritten Brief (Briseis an Achilles). Warum sollte eine verschleppte Sklavin demjenigen, der zuvor ihre gesamte Familie massakrierte, einen Liebesbrief schreiben?


    Das ging mir ähnlich. Ich konnte es mir nur so erklären, dass sie aus Überlebenswillen sich bis zur Selbstaufgabe mit dem Täter solidarisiert hat und nun, da sie seine Liebe verloren zu haben glaubt, sich als Treibgut des Krieges fühlt und Angst um ihr Leben hat:
    … wenn ich nur nicht missachtet zurückgelassen werde - dies ist die Furcht, die mich peinigt, die mir elenden Frau die Gebeine erzittern lässt.
    Oh rette lieber mein Leben, das ich ohnehin dir verdanke! Die Freundin bittet dich um das, was du als Sieger der Feindin schenktest.

    Sie entwirft im Brief aber noch weitere Szenarien der Unterwürfigkeit, so dass ich fast den Eindruck habe, dass da so etwas wie Devotismus durchgespielt wird. Der Kommentar spricht vom literarischen Motiv des servitium amoris (Liebesknechtschaft), die in Briseis’ Lebenssituation als Geliebte und Sklavin des Achilles in einer Person dargestellt sei.


    Ich glaube im Nachwort gelesen zu haben, dass man Ovid Monotonie vorgeworfen hat. Ich kann das bis jetzt nicht bestätigen. Die ersten drei Briefe zeigen schon mal drei ganz unterschiedliche Frauen und der vierte Brief lässt einen weiteren gänzlich anderen Frauentyp zu Wort kommen:
    Phädra wendet sich mit ihrem Brief an Hippolyt und gesteht ihm ihre Liebe. Dabei passt nichts zusammen: Es ist ihr Stiefsohn. Es wäre Inzest und Ehebruch. Er ist jung, sie alt. Er mag keine Frauen. Sie weiß im Grunde, dass er sie ablehnt und es total aussichtslos ist. Aber sie befindet sich im Liebeswahn: So zieht sie alle Register und versucht mit jeder Menge rationaler und scheinrationaler Argumente (Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode!) sich selbst und ihn davon zu überzeugen, dass er sie liebt, sie lieben soll, lieben muss. Ein aussichtsloses Unterfangen. Der Höhepunkt ihrer wahnwitzigen Argumentation ist die Berufung auf die Liebeserfolge ihrer Mutter: Die Mutter konnte den Stier schwach machen; wirst du selbst unbeugsamer sein als ein wilder Stier?
    Ich glaube, neben dieser Phaedra nimmt sich die Phèdre von Racine wie eine Nonnenschülerin aus. :zwinker:

    Erklärende Worte wozu? Wofür? Wogegen? :?:


    Hierzu:


    Warum nicht?


    Im Nachwort der Reclam-Ausgabe werden die Zweifel an Ovids Autorenschaft als unbegründet dargestellt. Zweifler (wie z.B. der Verfasser des wikipedia-Artikels) führen Stilfragen als Argument an. Ich fühle mich nicht berufen, in diese Diskussion einzugreifen, stelle aber einfach mal fest: So ein Fragezeichen im Leserunden-Titel sieht echt bescheuert aus ... :zwinker:


    :idea:

    "Er las immer "Agamemnon" statt angenommen, so sehr hatte er den Homer gelesen..."
    (Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher)
    Ich las heute "Medea"statt Media-(Markt), so sehr hatte ich meinen Ovid gelesen...


    Schön, dass du angefangen hast. Ich hatte ja noch immer auf (er)klärende Worte unseres Moderators gewartet... pchallo


    Auch ich habe bereits einige Briefe gelesen. Eine "Dramaturgie" kann ich auch nicht erkennen. Es ist wohl eine lockere Folge von Briefen, die keinem bestimmten Ordnungsprinzip folgen. Noch nicht einmal die Chronologie ist eingehalten. Es fängt mit Penelopes Brief an, aus dem hervorgeht, dass Jahre nach dem Ende des Trojanischen Krieges vergangen sind. Zwei Episteln später folgt der Brief der Brindeis an Achilles, geschrieben mitten im Krieg...
    Leider kann ich mich erst am Freitag eingehender zu den einzelnen Briefen äußern, da ich mal wieder zwei Tage unterwegs bin.
    :winken:

    Zitat von Autor: scheichsbeutel^« am: Gestern um 20:19

    …Österreich als Inbegriff des Kitsches ...


    Kein Smilie? :breitgrins:


    Du hast recht. Bevor man über die Qualität von Werken diskutiert, sollte man verwendete Begriffe, in diesem Fall den des Kitsches, definieren und klären. Und das ist ein weites Feld , wie du uns hier eindrücklich an interessanten Beispielen gezeigt hast, und würde, wie auch eine weitere Analyse des Werkes, den Rahmen des Ovid-Threads sprengen.
    Auf zumindest zweierlei können wir uns aber in Bezug auf Ransmayrs Leistung, glaube ich, in jedem Fall einigen:


    Nämlich, dass Die letzte Welt ...
    .

    Zitat von Autor: scheichsbeutel^« am: Gestern um 20:19

    ..eine implizite Anerkennung der zeitlosen Schönheit der Metamorphosen (ist), die alles Menschliche abzudecken vermögen …


    und dass...

    Zitat von Autor: Gontscharow« am: 8. Dezember 2010

    ... durch Ransmayrs Buch das Interesse an Ovid erheblich gestiegen ist


    :winken:

    Zitat von Autor: scheichsbeutel^« am: 8. Dezember 2010

    Vielleicht ist deine ablehnende Haltung auch darin begründet, dass du es nach der eben erfolgten Lektüre als eine Art Sakrileg empfindest, dass sich da einer an die "Verwurstung" des Themas gemacht hat (allerdings gibt es - vielleicht von der Bibel abgesehen - kein Werk, das öfter eine solche Verarbeitung erfuhr - ob in Literatur, Malerei oder Musik).


    Ja, die Metamorphosen sind wohl neben Homers Epen und der Bibel das wichtigste Buch Europas, Stoff- und Motiv-Liferant für die gesamte abendländische Kultur! Wir haben das ja während der Lektüre hinlänglich erfahren: Mit jeder Geschichte tut sich eine (manchmal erdrückende) Fülle von Bezügen und Querverbindungen zu Literatur, bildender Kunst und Musik von der Antike bis heute auf.
    Aber es waren einzelne Motive, einzelne von Ovid erzählte Mythen, die Eingang in Literatur und Kunst fanden. Das Werk in seiner Gesamtheit, seine Person und Biographie zum Thema zu machen, ist neu und hat vor Ransmyr noch niemand unternommen.


    Zitat von Autor: scheichsbeutel^« am: 8. Dezember 2010

    Kitsch kann man Ransmayr m. E. nicht vorwerfen.


    Danke für den Hinweis auf Musils Überlegungen zum Kitsch. Klingt interessant. In den Unfreundlichen Betrachtungen kann man das im Zusammenhang nachlesen? Scheint ein Projekt für lange Winterabende.


    Nun denn, auf vielfältigen Wunsch: Wie ist das mit dem Kitsch bei Ransmayr?


    Die Biographie des historischen Ovid gibt Rätsel auf, während sein Hauptwerk, die Metamorphosen,
    erhalten, bekannt und jedem zugänglich sind. In Ransmayrs Roman ist es umgekehrt. Ovids Leben wird ausgebreitet, die Gründe für seine Verbannung aufgedeckt: Ovid ist ein Dissident, ein glühender Verfechter der Freiheit, ein Opfer der Tyrannei. Die (unvollendeten) Metamorphosen lässt Ransmayr in Flammen aufgehen. (Im wahren Leben hat zwar Ovid auch so etwas wie eine Verbrennung seiner Bücher veranstaltet, aber der fiel nur eine Abschrift der M. zum Opfer.) Durch diese Umkehrung ist aus der widersprüchlichen historischen Person eine gefällige, dem Wunschdenken der Nachgeborenen entsprechende Person geworden und der Leser ist in der schmeichelhaften Position, mehr zu wissen als der herumtappende Protagonist Cotta, der sich auf die Suche nach seinem Freund und den- wie er hofft- rekonstruierten und vollendeten Metamorphosen gemacht hat. Am Verbannungsort stößt er auf mysteriöse Zeichen und bedeutungsschwangere Hinweise, da wird gerätselt und geraunt und Cotta mit seltsamen Dingen konfrontiert und der Leser kann ständig die Nachtigall trapsen hören : Aha, da ist der im Winter Früchte tragende Maulbeerbaum, dessen Früchte durch Pyramus’ Blut dunkel gefärbt sind, da ist Echo, natürlich wird das nichts mit Cotta, sie ist ja nicht liebesfähig, und da Arachne, natürlich ist sie Weberin und Fama, wie sinnig, ist Betreiberin eines Klatsch-und Tratschzentrums und so fort. Schon die Namen der Prokne, Philomela, Maryas, Battus, Thies(Dis)und wie sie alle heißen – sogar Jason als skrupelloser Menschenschlepper kommt auf seiner Argos vorbeigeschippert - wecken jede Menge Assoziationen und Gefühle, die aber von der mehr oder weniger großen Vertrautheit der Leser mit ihrem mythischen Schicksal herrühren, denn trotz „Modernisierung“ sind sie eigentlich nur Namensträger, Pappkameraden ohne Eigenleben.


    Der Leser wandelt durch einen Metamorphosen- Erlebnispark, durch ein Disney-Land ovidischer Personen und Situationen .


    Das ist für mich Kitsch: Diese Häufung der Effekte, die bedeutungsschwangeren Andeutungen, das künstliche Mystifizieren, die Durchsichtigkeit der Machart und der Wirkungsabsichten. Dieses unverbindliche Spielen mit Textbausteinen und Versatzstücken, ihre Beliebigkeit (denn warum z. B. gerade diese Personen und Verwandlungen und nicht andere) und damit ihr offenbar werdender Deko-Charakter, ja und auch die Reduzierung der Komplexität und Widersprüchlichkeit der historischen Person und ihres Werkes zu "Ovid light".


    Das von mir Beschriebene betrifft jetzt nur die Verarbeitung der Biographie Ovids und der Metamorphosen, für das zweite Standbein des Romans, die Endzeitszenarien, Modethema der „katastrophilen“ 80er, gilt m.E. Ähnliches.


    Ich bitte sich durch meine Ausführungen nicht dahingehend beinflussen zu lassen, die Letze Welt nicht zu lesen, Sir Thomas!
    Die Toleranzschwelle für Kitsch ist bei verschiedenen Menschen verschieden hoch. Außerdem gibt es gut gemachten und schlechten Kitsch. Die letzte Welt würde ich dem gut gemachten Kitsch zurechnen. Ich muss zugeben, dass ich einige Passagen schön und das Buch insgesamt auch nicht unspannend fand. Außerdem möchte ich noch erwähnen, dass ich jetzt schon mehrere Male in altphilologischen Texten gelesen habe, durch Ransmayrs Buch sei das Interesse an Ovid erheblich gestiegen!


    Noch eine Anmerkung zum „Übelnehmen“, scheichsbeutel:
    Ich glaube, dass es einen nicht so kalt lässt, wie man gerne möchte, wenn ein Werk, das man selber gut findet und das einem etwas bedeutet, von einem anderen negativ beurteilt wird. Der Kritisierende, der über etwas, was wir schön finden, die Nase rümpft, wertet damit ja auch uns als Beurteilende irgendwie ab. Das kann einen fast kränken und wütend machen. Ich habe ganz tief in mich hineingehorcht und muss gestehen :redface:, dass die Schärfe meines Urteils in diesem Fall vielleicht auch ein ganz kleines bisschen mit der „ätherischen Zuckerwatte“ und deinen anderen Urteilen über Rilkes Malte zu tun hat. Malte ist ein Text, den ich ganz besonders schätze!
    Lost hat mir ja auch schon Revanche angeboten für seinen geliebten Grass. :zwinker:

    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: Gestern um 15:37 »

    By the way: Du hast Ransmayr "Kitsch" vorgeworfen und angeboten, diesen Begriff ein wenig aus Deiner Perspektive zu erläutern. Kommt da noch etwas? Ansonsten verfluch einfach meine Hartnäckigkeit ... :breitgrins:


    Mein Angebot bezog sich nur auf den von mir zitierten Satz:


    Zitat von Autor: Gontscharow« am: 6. Dezember 2010

    Sie hatte ihren Sohn aus der Zeit genommen und zurück in ihr Herz gelegt. Diesen Satz fand ich bei Literaturschock zitiert als Beispiel für die Wucht der Ransmayr’schen Sprache. Für mich ist das Kitsch! Bei Bedarf erläutere
    ich,warum


    Darauf du:


    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: 7. Dezember 2010

    Den Vorwurf kann ich nachvollziehen.


    Dann ist ja gut. Evidenz ist auf diesem Gebiet immer noch die beste Erläuterung und der beste „Beweis“!



    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: Gestern um 15:37 »

    Sollen wir der Einfachheit halber diesen Ordner für die Heriodes "missbrauchen"?


    Ja, wenn der Moderator nichts dagegen hat.



    Mein Text ist da! Es gibt ausführliche Anmerkungen und Erläuterungen und ein Nachwort von Detlev Hoffmann, das gut und kompetent zu sein scheint. Dort heißt es im Kapitel Fortwirken der Heroides:


    …Vielleicht hat gerade die Zurückhaltung im deutschsprachigen Raum ihren Grund in der Geringschätzung Ovids durch die klassische Philologie des 19.Jahrhunderts. Auch wenn man seine virtuose Sprachbeherrschung mitunter anerkannte, als Dichter, nachgerade als Klassiker, wurde er nicht geschätzt. Besonders an den Heroides wurde in hohem Maße Anstoss genommen. Das ging schließlich so weit, dass Ovid sogar als Autor der Heroides in Frage gestellt wurde, man die Heroides bestenfalls als „verifizierte rhetorische“ Stilübung gelten ließ….
    :freu: Mit anderen Worten: die von uns mit einer gewissen Irritation zur Kenntnis genommenen „Zweifel an der Echtheit der Heroides“ (Wikipedia) scheinen eine vernachlässigbare Marginalie der Ovid-Rezeption zu sein!
    Dann steht ja unserer Lektüre nichts mehr im Wege.


    Es ist vollbracht.


    Ja, und ich bin stolz auf uns!
    Ohne das Stützkorsett der Leserunde hätte ich nicht durchgehalten. Wahrscheinlich hätte ich die Lektüre irgendwann abgebrochen und/oder mir nur einzelne Schmankerl rausgepickt..
    Ich bin froh, das Werk trotz stellenweiser Sprödigkeit und Kryptik in seiner Gesamtheit gelesen und dabei Ovids doch sehr eigenwillige Konzeption, mittels zeitloser Mythen geschichtliche Entwicklung zu beschreiben und darzustellen, kennengelernt zu haben.


    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: Gestern um 09:03 »

    Großartig ist dieses letzte Buch – vor allem die Ausführungen des Pythagoras über das Wesen der Dinge: „Keinem bleibt seine äußre Gestalt, die Verwandlerin aller Dinge, die Natur, läßt aus dem Einen das Andere werden … Nichts in der Welt geht wirklich zugrunde, es wandelt sich nur, erneuert sein Gesicht … Nichts verharrt auf lange im gleichen Zustand ...“ usw. Hier haben wir also endlich den „programmatischen“ Teil, die alles umfassende Klammer.


    Und in welchem Gegensatz steht dieses pazifistisch vegetarisch utopische Manifest von der ewigen Wandlung und Wiederkehr( Zarathustra, ick hör dir…) zu Glanz und Gloria der jüngeren Geschichte Roms und des Augustus, um den es im Schlusskapitel eigentlich angeblich gehen soll.

    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: Gestern um 09:03 »

    Recht kurz und knapp wird die unmittelbare Vergangenheit Roms abgehandelt. Die Verschwörung gegen Cäsar (sehr düsteres Szenario!) wird noch recht ausführlich „gewürdigt“, die Regentschaft des Augustus hingegen nur als kurze Pflichtübung abgehandelt.


    Ist dir auch aufgefallen, dass die Zeichen vor und bei der Ermordung Caesars eine eklatante Ähnlichkeit zu denen beim Kreuzestod Jesu aufweisen? Erdbeben, Verfinsterung der Sonne, nur dass hier kein Vorhang zerreißt.
    Die Lobhudeleien auf die göttlichen Herrscher sind fast unerträglich, besonders die Darstellung des Augustus als filius divi : Damit dieser nicht einem sterblichen Geschlecht entstamme, musste also jener ein Gott werden. Und damit Rom in den Genuss der Herrschaft Augustus’ komme, musste der Vater sterben. Fast eine Heilsgeschichte, nur dass hier der Vater und nicht der Sohn sterben muss.
    Man weiß und Ovid wird es auch nicht verborgen geblieben sein, dass Augustus seit Machtantritt die dauerhafte Etablierung seiner Alleinherrschaft betrieb und die Devise von der Wiederherstellung der Republik eine Propagandalüge war. Daher finde ich es interessant, dass Ovid Augustus’ Regentschaft zwar quasi als Ziel römischer Geschichte in den Himmel hebt, er aber als Kontrapunkt(?) nicht nur die Rede des gewaltlosen Spinners Pythagoras davorsetzt, sondern auch die seltsame Geschichte des Prätor Cipus, dem ein Geweih(!) als Zeichen seines Anspruchs auf die Königswürde wächst, der aber als vorbildlicher Republikaner lieber ins Exil geht, als diese anzunehmen.( Tipp an Augustus, sich ein Beispiel zu nehmen?)
    Der Leser erlebt so in diesem Kapitel ein Wechselbad an unterschiedlichen,teils kontroversen Eindrücken in Bezug auf Ovids Intentionen und Meinungen.

    Hier wie im ganzen Werk konnte ich es nicht lassen, nach subversiven, politisch unkorrekten, anti-augusteischen Tendenzen und damit letztlich nach Hinweisen und Gründen für seine Verbannung zu suchen. Man muss als Leser Ovids aber damit leben, dass diese Fragen nicht schlüssig beantwortet werden können und sich davor hüten, dem Werk und der Biographie heutige Vorstellungen überzustülpen! Alle Andersartigkeit und Fremdheit des aus der Tiefe der Jahrhunderte zu uns sprechenden Textes geht dann verloren. Bei Ransmayr z.B. sind alle Lücken zugepappt, Naso ist ein Dissident, ein Oppositioneller, ein Fürsprecher der Entrechteten punktum. Das hätten wir wohl gern. Deshalb sprach ich von Ovid light.


    Zitat von Autor: Sir Thomas« am: Gestern um 09:03

    Vielleicht hat Ovid der Phädra in seinen „Heroides“ mehr Verständnis entgegengebracht. Ich bin durchaus gewillt, es herauszufinden (mit anderen Worten: das zweisprachige Reclamheft ist bestellt; vielleicht wartest Du, Gontscharow, mit Deiner Lektüre auf mich ...).


    O.K. mach ich. Gib bitte Bescheid, wenn dein Text angekommen ist und wann wir anfangen können.


    @scheichsbeutel:



    Ich nehme nicht übel :smile:.



    Danke! Ich bin so erleichtert! Schon die bei dir sonst unübliche inflationäre Verwendung von Smilies zeigt mir, dass ich beruhigt sein kann, oder?



    Das jemand, der die Metamorphosen nacherzählt, die Metamorphosen nacherzählt, kann ihm allerdings nicht vorgeworfen werden ;).


    In der Tat nicht, tut das jemand? Ich wollte damit sagen: die Metamorphosen beflügeln die Phantasie, das muss aber ja nicht gleich in ein Buch ausarten. Ich schreib ja auch nicht über den Piccolo-Abruzzo- Betreiber. Es war zudem ein nicht ganz ernst gemeinter Einwurf!


    Ansonsten: Wie gesagt, mich stört vor allem die Verwurstung des armen Ovid und die Beliebigkeit und Bescheidenheit des Endprodukts.