Gontscharow hat eine detailierte Kritik geschrieben, die eine Antwort verdient.
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Zitat von: Lost am 27. August 2010, 21:34
Grass muss einfach noch einen letzten Roman schreiben, der sich in andere Sprachen übersetzen lässt. Er kann doch nicht als Provinzmichel in den Hintergrund treten.
Das wird er in keinem Falle, auch wenn er kein weiteres Buch mehr schreiben sollte. Schließlich ist oder war er jahrzehntelang amtierender "Großschriftsteller" der BRD, ist Nobelpreisträger und zumindest seine Danziger Trilogie ist in viele Sprachen übersetzt.
Es ging mir bei meinem Hinweis um das letzte Buch von Grass und da mir "Grimms Wörter" unübersetzbar erscheint, braucht es wohl noch eines, das sich nicht so intensiv mit der deutschen Sprache beschäftigt.
Die Kritiker leiden tatsächlich an einer Grassen Müdigkeit, der "Zeitgeist" hat sich im Laufe der Schriftstellerkarriere von Grass gewandelt und die Luftgeister sind in Mode gekommen, die können mit einem Querkopf und Egomanen eben nichts mehr anfangen. Was ich bei Perlentaucher mitbekommen habe, ist weitgehend belangloses Zeugs.
Was den Vorwurf der Rechthaberei betriifft, so nimmt die, nach meinem Lektüreeindruck, überhaupt keinen großen Raum ein. Es sind Schilderungen seiner politischen Auftritte und seiner Meinungen, allenfalls hat er die ausgesucht, die seine Meinungen eher bestätigen, als das sie widersprechen. Mir sind auch noch Positionen bekannt, die ich vor 40 Jahren hatte, und die ich auch heute noch habe und über die ich auch lieber rede, als über die wenigen, bei denen ich nicht Recht hatte :zwinker: Wenn du das bemängelst, dann kann ich dir da zustimmen.
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Zur Biographie der Grimms habe ich schon Besseres gelesen.
Das kommt mir so vor, als wärest du durch einen Wald gegangen um hinterher festzustellen, du hast schon einen höheren Baum gesehen. Ich habe noch keine Biographie über die Märchenbrüder gelesen, doch jetzt im Buch von Grass für mich interessante Details und Einschätzungen erfahren. Hugo kann man so auch vorwerfen, er hätte in "Die Elenden" Napoleon nicht umfassend dargestellt, sobald man eine rororo Monografie über Bonaparte gelesen hat. Die biographischen Skizzen sind auch nicht das zentrale Thema des Werks, vieles ist auch erkenntlich fiktiv und einzig die Begegnung von Darwin mit Jakob empfand ich als überbemüht .
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Grass fleddert das Wörterbuch, greift willkürlich Wörter heraus, die ihm als Stichworte für seine autobiographischen Exkurse dienen
Das ist zum Teil richtig und zum Teil falsch, aber es ist genau das zentrale Thema, das Spiel mit den Wörtern aus dem Wörterbuch, und es ist alles andere als Willkür. Grass hat die Wörter mit Bedacht ausgewählt, auch aus dem Grund um seine autobiografischen Teile damit einzuleiten und zu schmücken aber nicht alleine deswegen. Grass spielt mit Bedeutungen und Widersprüchen, mit den Veränderungen und ihren Wirkungen, er sucht nach Lücken und fragt nach den Gründen, stellt die eigene Gegenwart der Grimmschen gegenüber.
Wahrscheinlich bist du wortgewandter als ich und deshalb wirst du nicht die gleiche Erregung spüren wie ich sie gespürt habe, aber das Buch ist auch bestimmt nicht geschrieben um anderen Wortakrobaten zu imponieren.
Wenn Grass keine
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erotisch-obszönen Manierismen und Anspielungen
mehr verwendet, dann ist er tot. Das ist sicherer als eine Sterbeurkunde.
Ich kann damit leben, ich kann damit sogar gut leben, besser als mit sterilem Zeugs mit dem Triebe durch einen Heiligenschein getarnt werden und ein Röslein auf der Heide.... Hätte Goethe nicht in einer bigotten Zeit gelebt, könnten wir auch von ihm mehr Frivoles erwarten.
Recht hast du möglicherweise, wenn dir auffällt, dass er seinen Frauen aus dem Weg geht. Das fiel mir auch auf den ersten Seiten der Box auf. "Schönbrüstige Ute" ist aber nicht mehr als ein Anklang an Übersetzungen von antiken Epen. Die Würdigung Utes ist eher der mehrfache Hinweis, dass sie die Frau ist, bei der er zur Ruhe kam, wie Heinrich der Achte bei seiner Sechsten, wenn ich mich nicht irre. Die Frauen wären dann was für das letzte Buch und der darauf folgende Giftmord an ihm noch eine dicke Schlagzeile für die Springerpresse :zwinker:
Also ganz persönlich: Bezogen auf die Sprachphantasie, ist für mich "Grimms Wörter"neben "Das Treffen von Telgte" das Beste, was ich von Grass gelesen habe.
Und wie ich schon sinngemäß sagte: Je weniger ihn mögen, um so weniger muss ich teilen.
Mit Verlaub und mit Respekt, das ist meine Auffassung! zu deinen kritischen Einwänden.
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Was ich noch nachtragen muss, sonst kann ich nicht einschlafen:
Ganz ohne Rechthaberei, schildert Grass seinen Versuch entwicklungspolitisch tätig zu werden, seine Naivität und sein scheitern in dieser Angelegenheit, und das in Ausführlichkeit. Auch seine Hinweise auf das Kriegsende, und die Schilderung seines Einstiegs in die Politik, auf drängen von Willy Brandt, bezeugt seine Bereitschaft eigene Positionen zu überdenken und zu ändern.
So jetzt gehe ich Schäfchen zählen, und wehe es ist ein weißes dabei. Und morgen wollen wir wie Kinder fromm und fröhlich sein.
Guten Nacht