Dionysios mißtraute den Bildern, Metaphern und Analogien, weil wir Menschen zu leicht unsere Vorstellungen verfestigen und daran hängenbleiben, obwohl sie doch nur unzureichende Hilfen für das Nicht-Vorstellbare sein sollen. Wir müssen die Bildwelt hinter uns lassen, wenn wir »auf eine höhere Ebene des Verstehens durch die genaue Untersuchung der heiligen Symbole« kommen wollen. Dionysios spricht davon, »die Mißgestalt der bildlichen Darstellung der Engel« habe ihn verwirrt, weil sie uns auf »unpassende Gestalten« festlegt, und er fühlt sich genötigt, »die Hinneigung zum Materiellen zurückzuweisen«, um »durch die Erscheinungsformen hindurch die Wege der tieferen Einsicht in die Welt jenseits der Sinnenerkenntnis zu suchen.« Die Größe und Schönheit Gottes ist für ihn das absolut Bestimmende: Gott geht keine Verbindung ein mit etwas Ungleichartigem. Aber es gibt die Angleichung, die Erleuchtung und die »nachahmende Darstellung Gottes«, jeder kann Anteil bekommen am Licht, je nach dem, wie aufnahmefähig er ist. Jeder kann »den Strahl vom Quell des Lichts« aufnehmen, sich davon erfüllen lassen und es weiter ausstrahlen. Das geht nach einer »geheiligten Gliederung« vor sich, die Abbilder der göttlichen Schönheit können immer nur das Empfangene weitergeben. Erst wer gereinigt worden ist, kann andere reinigen, erst wer Erleuchtung empfangen hat, kann die Erleuchtung vermitteln. So kann jeder auf seine Art in der Nachahmung Gottes wirksam werden.
Die Engelwesen offenbaren nun in besonderer Weise »die Verborgenheit des göttlichen Ursprungs«. Zwar hat Gott niemand gesehen (Johannes 1,18), aber das Gestaltlose gestaltet sich, und wer durch Erleuchtung und Einweihung vorbereitet ist, der kann für andere zum Mystagogen werden. Diese Funktion der Vermittlung und Verkündigung hat in bevorzugter Weise der Engel. Selbst Jesus kann als »Bote des großen Ratschlusses« (Jesaja 9,5) bezeichnet werden.
Dionysios versucht nun, die »Organe der Offenbarung«, die Mittler der von Gott ausgehenden Erleuchtung, in ein System zu bringen, was ihm - wegen seines hierarchischen Prinzips, von dem er überzeugt ist - wichtig ist. Dem unaussprechlichen Geheimnis am Nächsten stehen die »Seraphim«, die er als »Entflammer« und »Erhitze« kennzeichnet, weil sie ihre eigene Liebeswärme auf andere übertragen und sie »zur eigenen Hitze entflammen«; sie machen alles glühend und reinigen durch den Verbrennungsvorgang, sie durchlichten mit ihrer Leuchtkraft alle Dunkelheit.
Die »Cherubim« haben die »Fülle der Erkenntnis« mitbekommen und werden ihrerseits zu Wesen, die das empfangene Wissen ergießend weitergeben. Ihre »nie unterbrochene, ewige Bewegung um alles göttliche Wesen« läßt sie dem Ursprung nah sein, führt sie aber zur immerwährenden Weitergabe ihrer Erkenntnis. Sie können die »Lichtausstrahlung höchster Art« aufnehmen, fließen über vom geschenkten Wisse und geben ohne Vorbehalt den Nachstehenden ab. Und nun entfaltet er seine ganze Engel-Hierarchie nach der Struktur: »Das jeweils Zweite hat durch das je Erste an den Erleuchtungen des Gottesprinzips teil«. Die »Throne« sind fähig, »Gott zu tragen und dienstbar zu jeder Art der Aufnahme Gottes offen zu sein. Die »Herrschaften« sind Wesen der Freiheit, sie üben eine Entscheidungsgewalt aus mit bindendem Charakter. Durch ihre Selbstbeherrschung sind sie ein Gegengewicht zur fremdbestimmten Tyrannei. Die »Kräfte« tragen dazu bei, daß den Plänen Gottes zum Durchbruch verholfen werden, sie sind durch Tapferkeit und innere Konsequenz ausgezeichnet. Die »Mächte« haben Verfügungsgewalt, sie können also auch andere ermächtigen, Vollmacht zu übernehmen. Die »Prinzipien« sind Anfangskräfte und grundlegende Strukturmächte. Sie sorgen dafür, daß sich in der Schöpfung ein Ordnungsbild ergibt und wirken ars elementare Verursacher. - Die »Erzengel« werden als vermittelnde Wesen geschildert, die Gemeinschaft stiften und Eingebungen zufließen lassen.
Die »Engel« schließlich sind die Grenzwesen zwischen dem verborgenen Bereich der himmlischen Gedanken und der menschlichen Erfahrungswelt. Sie sind die Boten und können in der Sinnenwelt aufscheinen, können sogar als geheimnisvolle Führungsgestalten eines Volkes wirksam werden. In der Welt und unter den Menschen sind »göttliche Lichtfunken der Erleuchtung« wirksam. Auch bei den »heidnischen« Völkern können die Engelwesen ihre Leitungs- und Erleuchtungsfunktion erfüllen. »Ein Prinzip gilt für alle und die in jedem Volk die Hierarchie ausübenden Engel führen auf dieses Prinzip der ihnen Folgenden empor; man muß Melchisedek als in höchstem Grad Gott liebenden Hierarchen, nicht der nicht existierenden Götter, sondern des wahrhaft seienden Gottes auffassen.« Und jeder einzelne Mensch wird - nach der Überzeugung des Areopagiten - durch einen Engel geleitet »in dem Sinn, daß die allesdurchwirkende Vorsehung des Höchsten alle Menschen zu ihrer Rettung eigenen Engeln zugewiesen hat, damit sie sie mit hilfreicher Hand nach oben ziehen.«
(Otto Betz: Hildegard von Bingen, München: Kösel 1996)