Jean Paul: Jugendschriften

  • Was macht der Jean-Paul-Leser, wenn er von der Unsichtbaren Loge bis zum Kometen fast alles schon kennt? Er schaut sich die Jugendsünden an. Zwei davon, die „Grönländischen Prozesse“ und die „Auswahl aus des Teufels Papieren“ werden hier und da einmal erwähnt, die letzeren erhielt der Firmian Siebenkäs auch in persona untergeschoben, aber wer hat sie im Ernst schon einmal gelesen, und was steht da eigentlich drin? Also, Teil eins: die "Grönländischen Prozesse“.


    Die in den „Grönländischen Prozessen“ enthaltenen Texte stammen von 1783 und 1784. Der gerade zwanzigjährige, aber schon ungeheuer belesene Johannes Paul Richter, damals noch Kandidat der evangelischen Theologie, schrieb eine Handvoll Satiren nieder, in der hauptsächlich die Protagonisten des Literaturbetriebs, Autoren, Kritiker, Rezensenten, aber auch Adel, Hofleute, orthodoxe Theologen, "Stutzer" und am Ende auch geradewegs Frauen ihr Fett erhielten. Die Sammlung war ein wirtschaftlicher Fehlschlag, erlebte aber in den "Flegeljahren" nochmals eine Wiederbelebung: Vult ist mit ihrer Niederschrift befasst...

    Wer mit dem einen oder anderen Roman Jean Pauls vertraut ist, erkennt nicht nur die auf höchstem Niveau mäandernde Sprache, sondern auch die typische Technik seiner Satire wieder. Missstände und Widersprüche werden stets größtmöglich zugespitzt und beim Wort genommen - und dann in ironisch verdrehte Schlüsse und Ratschläge verwandelt. In der wohl stärksten Episode hält der Verfasser als Satiriker den aufs Korn genommenen Ständen und Personen vor, sie verhielten sich nicht töricht genug, um das Heer der Satiriker zu nähren – die angeprangerten Torheiten werden dann folgerichtig als vorgebliche Tugenden ironisch belobigt.

    Jean Paul orientierte sich in den Grönländischen Prozessen erkennbar an populären Vorbildern, namentlich Jonathan Swift und Christian Ludwig Liscow - allerdings ohne dessen persönlich gemünzten Injurien zu wiederholen. Klarnamen fallen fast ausnahmslos nicht, die Grönländischen Prozesse sind kein Pasquill. An vielen Stellen wirkt, das muss angemerkt werden, die Satire reichlich angestrengt. Man spürt, wie der gescheite Kandidat versucht, seinen Vorbildern nachzueifern. Zur Größe seiner späteren Romane fehlt noch das wohlwollend lächelnde Gegengewicht – die Grönländischen Prozesse wirken wie ein Vult ohne Walt.

    Wer sich für den Text interessiert, sei allerdings vorgewarnt: leicht ist die Lektüre nicht. Der junge Jean Paul beherrschte da bereits Latein und Griechisch sowohl als Sprache als auch als Kulturkreise, und er bediente sich großzügig daraus. Hinzu kommt ein Wissen über den Literaturbetrieb des mittleren und späten 18. Jahrhunderts, das heute allenfalls noch Fachleute einigermaßen vollständig nachvollziehen können.

    Wieso übrigens "Grönländische Prozesse"? Der junge Herr cand. theol. erklärt das so:

    "Man wird nämlich aus Kranz und andern wissen, daß die Partheien daselbst ihre Streitigkeiten in getanzten und gesungenen Satiren abthun und sich mit einander, ohne das Sprachrohr der Advokaten, schimpfen."


    Wer mit "Kranz" gemeint sein könnte, kann ich nur vermuten, nicht einmal der riesige Anmerkungsapparat in der WBG-Werkausgabe sagt dazu etwas aus. Ich nehme an, es geht um den Theologen Albert Krantz aus Hamburg und Lübeck, der sich zu seiner Zeit (1448 - 1517) wohl auch mit der Geschichte Skandinaviens befasst haben und einige Schriften dazu hinterlassen haben soll.

  • Sehr interessant, Diaz Grey. Gehört habe ich von diesen frühen Werken schon, und mir im Falle der Grönländischen Prozesse sogar überlegt, sie zu lesen, weil ich ein großer Grönland-Fan bin. Deshalb Dank für deine Aufklärung, wie es zu der Bezeichnung kam.


    Schönes Bild, das "Mäandrieren". Passt wirklich sehr gut auf Jean Paul.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Ich setze meine Kleinserie einmal fort mit der nächsten Folge: die "Auswahl aus des Teufels Papieren".


    Die „Auswahl aus des Teufels Papieren“ von 1789 ist, wie schon die „Grönländischen Prozesse“ von 1783, eine Sammlung satirischer Schriften aus den jungen Jahren des Dichters. Sie ist darüber hinaus so etwas wie ein literarischer Wiedergänger: an dieser „Auswahl“ arbeitet der Armenadvokat Siebenkäs in dem gleichnamigen Roman. Zuvor, 1798, erschien mit den „Palingenesien“ bereits eine überarbeitete Fassung der „Auswahl“.

    Die Satiren richten sich wiederum gegen die gewohnten Ziele: Rezensenten, engstirnige Kleriker, weltfremde Gelehrte, den Adel. Zusätzlich schießt der junge Johannes Paul Richter sich wiederholt auf die weibliche Hälfte der Menschheit ein, und das mit einer manchmal frappierenden bis geradezu befremdlich wirkenden Schärfe, mit der man nicht unbedingt rechnet, wenn man an große Frauengestalten seiner Romane bis hinauf zu einer Klotilde aus dem Hesperus denkt. Überhaupt – und nicht nur in den misogynen Sticheleien – wirkt die satirische Haltung noch etwas angestrengt, wenngleich auch nicht mehr so offensichtlich und im Bemühen zur Nachahmung literarischer Vorbilder feststeckend wie noch in den „Grönländischen Prozessen“. Ihr fehlt noch das Gegengewicht, das den gereifteren Jean Paul so groß werden ließ: die alles umfassende Liebe.

    Die „Auswahl“ ist sehr schwer lesbar, das muss jedem, der den Text in die Hand nimmt, klar sein. Das gilt für die geschachtelte und verwinkelte Sprache wie auch für die Themen. Vieles, was in den Texten aufgegriffen wird, sind Zeiterscheinungen, die uns heute fremd geworden sind und zu deren Verständnis schon sehr präzise Kenntnisse der gesellschaftlichen Verhältnisse und einiger prominenter Zeitgenossen in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts benötigt werden.

    Auch wenn die "Auswahl" zu den Jugendschriften Jean Pauls gerechnet wird: man sollte mit ihr nicht beginnen, wenn man Jean Paul erst kennenlernen will. Kennt man erst einmal die großen Romane, oder zumindest einen Teil davon, dann können sowohl die "Grönländischen Prozesse" als auch die "Auswahl aus des Teufels Papieren" mit Gewinn gelesen werden. Die Einordnung von Formen und Inhalten wird dann leichter fallen.

  • Unterm Strich:


    Lohnt die Lektüre, und gegebenenfalls für wen? Ja, sie lohnt die Mühe für den ausgesprochenen Jean-Paul-Liebhaber mit dem Ziel der Vervollständigung seines Bildes. Die oft erwähnten, aber kaum gelesenen Jugendschriften gehören sicher nicht zu den Höhepunkten des Schaffens, dafür zeigen einen Teil des Weges dorthin. Ich habe es immer so gehalten, dass ich Autoren, die ich schätze, sowohl durch Höhen als auch durch Tiefen folgte - ein Lesen weniger in die Breite als in die Tiefe. So betrachtet waren die Versuche an Jean Pauls Jugendschriften nur folgerichtig, und mir jedenfalls war das eine nicht unwichtige Erfahrung.


    Wie sollte man das keinesfalls lesen? Erstens nicht als Pillowbooks. Zweitens nicht als E-Book, auch wenn es da am einfachsten - und in der Kindle-Version justament zum Nulltarif - zu erhalten ist. Ohne Die ständige Hilfestellung eines sachkundigen Anmerkungsapparates sind die Texte heute inhaltlich nicht mehr zugänglich.

  • Noch ein Nachzügler im doppelten Sinne, und eigentlich gar keine Jugendschrift mehr, aber in diesem Zusammenhang noch nahe dran: "Palingenesien. Fata und Werke vor und in Nürnberg":


    Die "Palingenesien", die Wiedergeborenen, waren eigentlich konzipiert als Überarbeitung der "Auswahl aus des Teufels Papieren", einer Sammlung satirischer Texte des jungen Jean Paul, die ihrerseits im "Siebenkäs" schon einmal neugeboren wurde - indem nämlich der Titelheld an ihrer Niederschrift arbeitete. Nachdem Jean Paul den Siebenkäs abgeschlossen hatte (und, wie den Palingenesien zu entnehmen ist, inzwischen am "Titan" schrieb), nahm das Projekt eine andere Form an. In eine Rahmenhandlung eingewoben, in der der Autor höchstselbst auftritt, erscheinen Motive und überarbeitete Fassungen von mehreren Teufelspapieren nochmals neu. J.P. selbst nimmt sich in der Rahmenhandlung deren zweiter Auflage an, während er sich auf eine Art Arbeitsreise nach Nürnberg begibt. Dort wird er am Ende einer eher schütteren Handlung nicht nur die schmerzlich vermisste Verlobte, sondern auch den vom Reichskammergericht angereisten Advokaten Firmian Siebenkäs und seine Natalie sowie den Schulrat "Pelzstiefel" antreffen. Zu dem Stammpersonal des "Siebenkäs" fehlen eigentlich nur die verblichene Lenette und Leibgeber, dessen Geist aber sichtlich über der Szene schwebt.

    Die satirische Schärfe der "Auswahl aus des Teufels Papieren" ist ungebrochen, aber sie ist reifer geworden und, was den entscheidenden Unterschied ausmacht: sie hat als Gegengewicht die Empfindsamkeit und die Liebe des Jean-Paulschen Romanwerks gewonnen. Es wird viel geweint, es gibt unendlich hohe und tiefe Gefühlswelten zu durchschreiten; berauschende Traumgesichte durchsetzen die Erzählung. Aber dazwischen gibt es immer wieder erstaunlich ungeschminkte satirische Attacken und, natürlich, die bekannten Digressionen auf Themen am Wegesrand.

    Auch die Palingenesien sind typischer Jean-Paul-Lesestoff, mit Widerhaken und Fußangeln in jeder Zeile und mit einer Unmenge eingewobener Privatgelehrsamkeit auf dem Stand des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die ohne einen kundigen Anmerkungsapparat (und, nebenbei, astronomische Grundkenntnisse) kaum zu bewältigen ist. Kennt man das Romanwerk zumindest bis zum Siebenkäs, sind die Palingenesien mit ihren zwei Bändchen von insgesamt etwa 200 Seiten ein nettes Seitenstück des J.P.-Studiums.