Tibor Déry: Der unvollendete Satz

  • Es gibt zu diesem Buch einen lesenswerten Zeit-Artikel von Rudolf Härtung (leider inzwischen anscheinend nur noch mit Anmeldung lesbar*), der eine zeitgeschichtliche und stilistische Einordnung versucht. Das hat mir beim Lesen dieses schwierigen Buches sehr geholfen. "Der unvollendete Satz" entstand in den dreißiger Jahren, spielt hauptsächlich in Budapest (zum Teil auch in Dubrovnik) und entwirft ein breites Gesellschaftsbild vor dem Hintergrund der Arbeiterkämpfe dieser Zeit in Ungarn.


    Zum Inhalt: Im Mittelpunkt steht der junge Lörinc Parcen-Nagy, Angehöriger des gehobenen Bürgertums und reicher Erbe. Sein Vater, Teilhaber an einem Trust metallverarbeitender Fabriken (u.a. Militärmunition), hat sich nach einer persönlichen Krise das Leben genommen. Lörinc fühlt sich in seiner eigenen großen Familie als Fremdkörper. Nach einer Begegnung mit dem Arbeiterjungen Péter (der zu dieser Zeit 12jährige Péter weigert sich, in einer Art überheblichen Klassenbewusstseins, von Lörinc Geld anzunehmen, obwohl er fast am Verhungern ist) wendet sich Lörinc von seiner Familie ab, nimmt den rebellischen, wenig entgegenkommenden Péter zunächst in seine Wohnung auf und zieht später selbst in ein großes Mietshaus in einem Arbeiterviertel. Dieser Wechsel der Umgebung wird in unterhaltender Weise dargestellt: im ersten Viertel des Romans werden wir Zeuge einer bürgerlichen Teegesellschaft, auf der sich zwei Familienparteien, die einander spinnefeind sind, heuchlerisch umschleichen - im letzten Viertel finden wir ein genaues Spiegelbild dieser Veranstaltung in einer Geburtstagsfeier im "Proletarierhaus".


    Neben den Szenen um Lörinc und seine Familie gibt es etliche Kapitel, die vom Überlebenskampf der Arbeiter in den Munitionsfabriken jenes Trusts handeln, von ihrer Organisation, Versammlungen, Demonstrationen usw. Der Autor verknüpft und verbindet sein umfangreiches Personal sehr geschickt, in ähnlicher Weise, wie Zola Menschen ganz unterschiedlicher Gesellschaftsschichten in seinen Romanen verbunden hat.


    Lörinc Parcen-Nagy ist ein wenig energischer Mensch, der sich meistens auf zauderndes Beobachten beschränkt. Es gibt am Anfang des Romans, als er - kurz nach dem Selbstmord seines Vaters - in Dubrovnik Urlaub macht, eine sehr sprechende, für seinen Charakter bezeichnende Szene. Lörinc sitzt mit seiner jüngeren Schwester Désirée auf einer Klippe oberhalb des Badestrandes, als ein anderer Badegast, ein Deutscher, offenbar in Seenot gerät. Man sieht in weit draußen schwimmen und hilfesuchend den Arm heben. Von jenem Badegast geht das Gerücht, er sei Vorsteher eines KZs, und niemand kann ihn so recht leiden. Désirée wendet sich an ihren Bruder, "man müsse doch helfen"; dieser sagt weder ja noch nein, unternimmt aber auch nichts. Worauf Désirée selbst die Klippe hinunterläuft zum Strand, kurz den Wellengang studiert, sich hineinwirft und zu dem Deutschen hinausschwimmt, sich völlig verausgabt und, selbst in Gefahr, den anderen ans Ufer rettet. Währenddessen sitzt Lörinc oben auf der Klippe und rührt sich nicht, gibt auch zu keiner Zeit einen Kommentar ab. Dieses Verhalten ist typisch und zieht sich durch den ganzen Roman. Lörinc gegenüber gestellt ist die andere Hauptfigur, die Arbeiterfrau Rosza (Mutter des jungen Péter), die als statuenhaft riesige Frau beschrieben wird; Lörinc selbst ist, verglichen mit ihr, ein ziemlich kümmerliches, farbloses Männchen; wenn sich auch einige Male im Lauf des Romans sein Aussehen sehr verändert.



    Es gibt in dem Buch immer wieder in nüchternem Stil geschilderte, aber mit Bedeutung (oft mit unterschwelliger Gewalt) aufgeladene Szenen wie die oben beschriebene am Strand, dann aber wieder seitenlange, völlig bedeutungsleere Dialoge, die zum Teil ganz witzig sind, aber oft einfach zu lang. Der Stil ist meistens schlicht und präzise, schwingt sich aber manchmal zu einer überaus kühnen Metaphorik auf: so beschreibt Déry an einer Stelle die Mutterzärtlichkeit der Frau Rosza als den Kern einer Matrioschka-Puppe, die, umschlossen von Dutzenden anderer Eigenschaften wie Stolz, Hochmut, Schadenfreude, Neid usw. kaum je zum Vorschein kommt - er führt das über mehrere Seiten in aller Breite aus. Solche Stellen gibt es immer wieder und sie haben mich jedesmal zum Weiterlesen verführt, wenn ich das Buch nach einer Passage Langeweile weglegen wollte. Immerhin, ich erwähnt es schon, warnt Déry in einem Vorsatz seine Leser, sie möchten, wenn sie das Buch "der Aufmerksamkeit wert finden", die Zeit zum Lesen "nicht zu knapp bemessen". Nie ward ein wahreres Wort gesprochen! :)


    Ich weiß nicht so recht, wie ich dieses Buch für mich persönlich bewerten soll; auch vor dem Hintergrund der Zustände, die sich später im Ostblock aus der "leninistischen Bewegung" entwickelt haben. Stilistisch finde ich es sehr eigenwillig und schon allein deshalb lesenswert; es geht über weite Strecken um Gedanken über Wahrnehmung, die Art wie Erinnern funktoniert, Selbstbetrug und beschränkten Horizont. Eine wirkliche Sympathiefigur finden wir leider nicht, am ehesten wohl noch in dem kleinen, etwas glorifiziert dargestellten Péter.


    +) Rudolf Härtung: Das Maß ist der Mensch