Hugh Walpole: Der Täter und der Tote (The Killer And The Slain)

  • Ich habe einen frühen "Mystery" gelesen, "Der Täter und der Tote" (im Original: "The Killer And The Slain") von Hugh Walpole, erschienen erstmals 1942 aus Walpoles Nachlass (er starb 1941). Das Thema ist eine Variante des Jekyll & Hyde-Motivs. Der ermpfindsame, um nicht zu sagen zimperliche Schriftsteller und Antiquitätenhändler John Talbot fühlt sich verfolgt von dem vulgären, lebensprallen James Tunstall, den er seit seiner Schulzeit kennt. Nachdem er Tunstall auf recht geschickte Weise ermordet hat - es sieht wie ein Unfall aus und niemand verdächtigt ihn -, nimmt er zu seinem eigenen Entsetzen nach und nach die Züge des verhassten Gegners an. Das geht soweit, dass er sogar Erinnerungen des Toten als seine eigenen erzählt.


    Interessant an dem Buch, das Walpole Henry James gewidmet hat (mit dem er persönlich bekannt war), ist der Stil: Während Talbots Verwandlung in Tunstall wandelt sich die Erzählstimme in gleicher Weise. Immer wieder beschäftigen sich die Gedanken des Erzählers mit Hitler: Während dem Engländer Talbot Hitlers Politik verhasst war, äußert er in Gestalt seines alter ego Tunstall Verständnis. "Ich sagte, dass wir (gemeint sind die Briten) in Wirklichkeit eine Nation von Heuchlern seien . Welches Recht wir hätten, Deutschland an seiner Ausbreitung zu hindern? Wir besaßen ja schon mehr als den halben Globus - und wie hätten wir das erreicht? Durch Plünderung, Raub, Unterjochung von Eingeborenen. Ich für meinen Teil hielte Hitler für einen feinen Kerl. (...) Er sei klug und wisse, was er wolle, während wir borniert und dekadent seien." Das ist nur einer unter vielen derartgen Absätzen.


    Zudem bewirkt die konsequente Ich-Perspektive, dass der Leser nicht anders kann, als alles in Frage zu stellen. Wenn Talbot so offensichtlich verrückt geworden ist, wie wahrheitsgetreu kann dann seine Darstellung des Fieslings Tunstall sein? Das Buch ist äußerst vielschichtig. Dem heutigen erfahrenen Mystery-Leser ist natürlich klar, wo die Handlung hinsteuert, aber das mag für Walpoles Zeitgenossen noch nicht gegolten haben. Auf dem Weg in die Schlusskatastrophe gibt es einige überraschende, sogar pikante Wendungen.


    Walpole hat eine Menge Romane geschrieben, die heute aber kaum noch zu bekommen sind. Meine Ausgabe ist 1991 in der "Du Monts Bibliothek des Phantastischen" erschienen.

  • sandhofer: Otranto ist von Horace Walpole, der wesentlich früher gelebt hat (erschienen 1764). Ich weiß nicht, ob die beiden Walpoles verwandt sind.


    ps. Ich habe noch einmal nachgesehen: Auf der englischsprachigen Wiki-Seite steht tatsächlich, dass Horace Walpole ein Vorfahr von Hugh Walpole gewesen sei.
    Dort steht übrigens auch, dass Hugh Walpole homosexuell war. In "Der Täter und der Tote" gibt es einige subtile Hinweise auf homosexuelle Beziehungen.

  • Danke, Zefira. Du machst uns da auf einen sehr interessanten Roman aufmerksam, der in der Tat viel vielschichtiger zu sein scheint, als der berühmte, aber schlecht geschriebene Roman "The Castle of Otranto" seines Vorfahrs. Den habe ich mal während des Studiums mit Mühe im Seminar gelesen und in Erinnerung behalten, dass es da u.a. um einen großen Helm geht, der im Innenhof eines Schlosses liegt und irgendwelche unsäglichen Dinge verursacht. Der Nachfahr scheint dagegen nicht nur den Beginns eines Genres mitgestaltet zu haben, sondern auch Qualität zu bringen.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)