Jean Paul: Hesperus oder 45 Hundposttage


  • Wie kommst du auf ein thüringisches Fürstentum?


    Weiß auch nicht mehr, hat sich bei mir festgesetzt. Vielleicht durch Sätze wie diesen:


    Wie die "Unsichtbare Loge "ist auch der Hesperus ein Erziehungsroman und wie dort bildet auch hier das Leben in einem der kleinen thüringischen Fürstentümer den Schauplatz…(Deutsche Literaturgeschichte von Alfred Biese 2. Band, S.29/30, Europäischer Geschichtsverlag)


    Es stimmt schon, die einzige nicht fiktive Ortsangabe im Text ist Göttingen. Die beschriebenen Landschaften des Fürstentums "Scheerau" sind nicht zu verorten, scheinen mythische Landschaften zu sein, tragen aber Mittelgebirgszüge( :breitgrins:), alpin kommen sie mir beim besten Willen nicht vor. Welche Anhaltspunkte hat denn dein Kommentartar für den Lago Maggiore? Verwechselt er das nicht mit Wilhelm Meister?

  • Ich hab wohl irgendwie eine Hirnverknotung :breitgrins:. Verwechselt habe ich die Insel im Hesperus mit der im Titan (Isola Bella im Lago Maggiore). Die Szene kam mir so ähnlich vor, dass ich den Ort einfach gleichgesetzt habe. Das verband ich im Kopf wohl mit der Vorstellung vom Maiental, das es tatsächlich in den Schweizer Alpen gibt und durch das ich in diesem Sommerurlaub gefahren bin, allerdings ein tiefes, eher schroffes Tal, nicht annähernd so lieblich wie das hesperische Maienthal. Du hast natürlich Recht, Gontscharow.
    Wenn nicht das thüringische Mittelgebirge, dann vielleicht die Gegend um Bayreuth. Das ist jedenfalls wohl die Lieblingslandschaft Jean Pauls. Oberfranken und Thüringen liegen aber auch nahe beieinander.
    Es tut mir leid, dass ich so langsam vorankomme. Ich habe insgesamt nicht so viel Zeit zum Lesen und hier kommt noch hinzu, dass diese zuckersüße Liebesromanze nur in homöopathischen Dosen erträglich ist. Habe mit dem 35. Hpt begonnen.


    Meint er das wirklich ernst mit diesen Kitschkapiteln oder nimmt er uns auf den Arm? Dafür gibt es auch eine Menge Textanzeichen ... . Aber erträglicher wird das dadurch auch nicht, wenn diese Gefühligkeit auf zig Seiten ausgewälzt wird.

  • Hallo finsbury!


    Jetzt habe ich, während Du gepostet hast, noch so etwas wie einen Nachtrag zu meinem letzten Post geschrieben. Eventuell erübrigt sich das eine oder andere, ich sende ihn trotzdem unverändert:



    Der Lago Maggiore :zwinker: ließ mir keine Ruhe und ich hab noch mal im 34. Hundposttag geblättert. Es ist wohl diese Stelle, auf die der Kommentar Deiner Ausgabe bezug nimmt:


    Endlich kamen sie auf den Thron der Gegend, auf den Berg, wo Viktor am Morgen nach der durchreisten Nacht über Maienthal geschauet hatte. O wie zog sich die lebendige Ebene Gottes, der Vorgrund einer Sonne und eines Edens, in so unbändigen, grünenden, atmenden, wehenden Massen dahin! Wie hing der Himmel voll Berge aus Duft, voll Eisfelder aus Licht!....– Aber rund auf die Wälder hatten sich stille Eisberge aus Wolken gelagert. – – Ach dieses mit Tag und Nacht gefleckte Gefilde, dieser Wall aus Nebelgletschern stellte ja Viktors Herz in den alten Traum zurück, wo er Klotilde auf einem Eisberg mit ausgebreiteten Armen sah! – Ach auf dieser über den südlichen Berg reichenden Felsenspitze konnte er die Insel der Vereinigung dunkel mit ihren Gipfeln und mit ihrem weißen Tempel liegen sehen, …. (Hervorhebungen von mir)


    Zwar erscheint in dieser Passage die Landschaft alpin angetönt, aber es sind eben nur Eisberge aus Wolken, Gletscher aus Nebel etc, Metaphern oder optische Täuschungen … Was die Insel der Vereinigung betrifft, so habe ich mir entspechende Stellen nochmal angesehen, um zu erfahren, wo sie sich befindet Der Erzähler nennt sie ein zauberisches Eiland; eine magische Insel, die nicht ohne weiteres, meist nur im Traum, in der Phantasie zu erreichen ist. Als im 12. Hpt Viktor verabredungsgemäß sich dort einfindet, um das Geheimnis um Flamins Herkunft zu erfahren, weiß der Leser nicht, wie er dorthin gekommen ist Die Insel stand vor ihm heißt es lapidar, man erfährt, dass sie künstlich ist, Horion senior hat sie errichten lassen, und dass sie eigentlich ein Mausoleum ist. Es gehen dort allerlei seltsame Dinge vor sich, man hört Stimmen etc. Im Netz habe ich gelesen, dass Jean Paul hier seiner Vorliebe für schauerromantische Geisterinseln folgt ( Claudia Cloot, Geheime Texte:Jean Paul und die Musik.)


    Im letzten Hpt.(eigentlich bin ich noch nicht so weit) spielt die Insel eine wichtige Rolle. Jean Paul besucht sie höchstselbst. Übrigens stimmt es nicht, dass Göttingen die einzige konkrete Ortsangabe ist. Im letzten Hpt. kommt Jean Paul nach Hof. Der Berghauptmann behält aber ausdrücklich für sich, aus welcher Himmelrichtung er gekommen und wie lange sein Ritt gedauert hat: Ich nenne mit Fleiß weder die Tage meiner Reise noch das Tor, wodurch ich zu Hof einschoß, damit ichs nicht neugierigen Schelmen und mouchards durch die Marschroute verrate, wie Flachsenfingen heißet. Allzu weit kann Flachsenfingen von Hof jedoch nicht entfernt sein, sonst wären die Vorsichtsmaßregeln obsolet. Auf der Rückreise gelangt er dann auf die Insel. Und zwar im Schlaf, im Traum, wie er meint. Es war aber kein Traum. Ich stand von der Stufe auf und wollte in den griechischen durchhellten Tempel…,


    Ich fasse zusammen: die Residenzstadt Flachsenfingen liegt irgendwo zwischen Göttingen ( Viktors Ritt mit Tostato nach St Lüne dauerte „anderthalb“ Tage) und Hof, die Insel der Vereinigung, wenn überhaupt geographisch zu verorten, zwischen Hof und Flachsenfingen.


    Zufällig stieß ich auf folgende selbstreferenzielle Äußerung Jean Pauls aus der Erzählung „Das Kampaner Tal“, die wunderbar sein Verfahren der Kompilation deutlich werden lässt und eigentlich jedes geographische Nachforschen überflüssig macht:


    Ich schlug häufig in der Destillation über den Helm das Phlegma der Erdkugel nieder, die Polarwüsten, die Eismeere, die russischen Wälder, die Eisberge und Hundsgrotten, und extrahierte mir dann eine schöne Nebenerde, ein Nebenplanetchen, aus dem Überrest: man kann eine sehr hübsche, aber kleine zusammengeschmolzene Erde zusammenbringen, wenn man die Reize der alten exzerpiert und ordnet. Man nehme zu den Höhlen seiner Miniatur- und Dito-Erde die von Antiparos und von Baumann – zu den Ebenen die Rheingegenden – zu den Bergen den Hybla und Tabor und Montblanc – zu den Inseln die Freundschaftsinseln, die seligen und die Pappelinsel – zu den Forsten Wentworths Park, Daphnens Hain und einige Eckstämme aus dem paphischen – zu einem guten Tal das Seifersdorfer und das Kampaner: so besitzt man neben dieser wüsten schmutzigen Welt die schönste Bei- und Nachwelt, ein Dessertservice von Belang, einen Vorhimmel zwischen Vorhöllen. – –


    Deshalb kann er auf den Saale-Gewürzinseln am Äquator sitzen…
    In dem Zusammenhang muss ich noch etwas loswerden. Bei der Insel der Vereinigung musste ich gleich an die Insel La Réunion denken. Bis 1793 hieß sie Île Bourbon
    Am 19. März 1793 wurde die Insel im Zuge der Französischen Revolution in La Réunion umbenannt. Der neue Name bezieht sich auf die Vereinigung von Revolutionären aus Marseille mit der Nationalgarde in Paris am 10. August 1792 und den nachfolgenden Sturm auf die Tuilerien.(wiki)
    Ich halte den Namen für eine Hommage an die Französische Revolution, fand das aber bislang nicht bestätigt.



    Meint er das wirklich ernst mit diesen Kitschkapiteln oder nimmt er uns auf den Arm? Dafür gibt es auch eine Menge Textanzeichen ... .


    Gib doch mal welche zum besten. Ich habe auch eins: Viktor und Klotilde wandeln Arm in Arm durch die Maiennacht. Die Träne quillt. Da heißt es: Ihr Arm ruhte in seinem wie in einer Bandage (oder Schiene) (nach dem Gedächtnis zitiert)

  • Danke Gontscharow,


    dass du mir nochmal die Abwege aufgezeigt hast, die meine vorgefertigte Meinung dann durch den eigentlichen Metaphernreigen genommen hat.


    Zu deiner Anfrage wegen Textstellen, die auf Ironie inmitten des sentimentalen "Gesülzes" deuten lassen.


    Zitat von 34. Hpt

    Und als sie in die dunkle Laube traten, die nur eine kleine Öffnung gegen die durch den Regen hereinbrennende Sonne hatte: lag vor der Öffnung das Abendgefilde mit den wankenden Feuersäulen, zwischen denen der goldne Fluß der zerschmolzenen Sonne schlug, und mit den Auen, die bis an die Blumen in einem Meer von Lichtkügelchen standen. – Und herabgefallene Regenbogen lagen mit ihren Trümmern auf den Blütenbäumen. – Und kleine Lüftchen wehten das Lauffeuer in den Wiesenblumen an und warfen Funken aus den Blüten. – Und das Menschenherz wurde von den Wonneströmen fortgezogen und schwamm brennend in seinen eignen Tränen. –


    Für mich ist die parataktische Reihung mit "und" ein Mittel der Ironie, da JP die Sprache aus dem EffEff beherrscht und es sicherlich nicht nötig hat, ständig mit "und" zu beginnen.


    Dann der Kommentar im 35. Hpt., dass er sich eine Flasche Burgunder geöffnet habe, um die beseligenden Momente umso besser auszumalen.


    "Und" es gibt viele solcher Stellen ... . Sandhofer hat irgendwo oben geschrieben, dass man bei Jean Paul Ironie und Kitsch nicht voneinander trennen kann. So muss man es wohl stehen lassen. Innerhalb dieser Gefühligkeiten blitzt neben der Ironie auch immer wieder der zeitgeschichtliche Kritiker auf, wenn er im Erzählerkommentar z.B. - ich glaube, im 35. Hpt - auf die Sklaverei und auf die Kriege der europäischen Fürsten gegen die französische Armee zum Zwecke der Niederschlagung der Französischen Revolution anspielt.
    Bin jetzt im 36. Hpt.


  • Für mich ist die parataktische Reihung mit "und" ein Mittel der Ironie, da JP die Sprache aus dem EffEff beherrscht und es sicherlich nicht nötig hat, ständig mit "und" zu beginnen.


    Parataxe in überschwänglichen Liebesszenarien ist mir auch aufgefallen. Ich nahm das für eine Nachahmung des Luther- Bibelsprache, denn oft kulminiert das ganze auch noch in einem "siehe" … Kurz nach dem von dir zitierten Abschnitt heißt es:

    Siehe da wurde die warme Wolke in den Garten gleichsam wie ein ganzer Paradiesesfluß niedergeschüttet, und auf den Strömen flossen spielende Engel herab...


    Wie Jean Paul im Hesperus ja überhaupt die Liebe in Verbindung zur Religion bringt und Klotilde wie eine Heilige oder Gottheit erscheint. Natürlich kann das schlussendlich auch wieder ironisch gemeint sein. :zwinker:

  • Wie Jean Paul im Hesperus ja überhaupt die Liebe in Verbindung zur Religion bringt und Klotilde wie eine Heilige oder Gottheit erscheint. Natürlich kann das schlussendlich auch wieder ironisch gemeint sein. :zwinker:


    Seid Ihr schon so weit, dass Euch aufgefallen ist, dass Klotilde am Schluss praktisch - aus dem Roman verschwindet?

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Leider bin ich noch nicht am Schluss, obwohl ich mich rechtschaffen durchquäle. Ich habe aber im Moment fast immer nur vorm Einschlafen Zeit zum ungestörten Lesen, und da entfaltet sich die sedierende Wirkung des Hesperus auf das Intensivste :schnarch:.
    Momentan bin ich im 37. Hpt.


    Im 36.Hpt. gibt es eine nette Referenzstelle zur Schauerromantik:

    Zitat

    Emanuel öffnete darüber die Augen, warf sie durch das Laubwerk in den über das Dörfchen erhöhten Kirchhof und sagte mit einer Zuckung seines ganzen Wesens: »Horion, wach auf, Giulia hat die Ewigkeit verlassen und steht auf ihrem Grabe.« – Viktor blickte fieberhaft hinauf; und in einem schneidenden Eisschauer wurden alle warmen Gedanken und Nerven des Lebens hart und starr, da er oben am Grabe eine weiße verschleierte Gestalt ruhen sah. Emanuel riß sich und seinen Schüler auf und sagte: »Wir wollen hinauf auf das Theater der Geister: vielleicht ergreift die Tote meine Seele und nimmt sie mit.«... Fürchterlich schwiegen die Gegenden um ihren Weg... die Menschen fahren aus dem Fußboden wie stumme Knechte, wie Maschinen zur Bedienung, und fallen wieder hinunter, wenn sie abgeleeret sind.... Das Menschengeschlecht zieht wie ein fliegender Sommer durch den Sonnenschein, und das betauete Gewebe hängt sich flatternd an zwei Welten an, und in der Nacht vergehts.... So dachten beide Menschen auf der Wallfahrt zur Toten, sie wunderten sich über ihre eigne schwere Verkörperung und über das Geräusch ihrer Tritte. – Emanuel knüpfte seinen Blick auf die verschleierte Gestalt, die jetzt niederkniete; er dachte, sie höre seine Gedanken und fliege zu seinem Herzen durch das Mondlicht herüber....


    Die Brust der zwei Menschen hob sich gleichsam unter zwei Leichensteinen auf und nieder, da sie die übergrasten langen Stufen zum Kirchhof aufstiegen und das schwere Tor, das mit verwitterten, weggewaschenen Auferstandenen angemalet war, berührten und aufdrehten. Das warme Erdenblut friert ein und das weiche Gehirn gerinnt zu einem einzigen Schreckenbilde, wenn von der Ewigkeit und von der Pforte der Geisterwelt die große Wolke wegrückt; Emanuel rief auf der Bühne der Toten wie außer sich: »Schauderhafter Geist, ich bin ein Geist wie du, du stehst auch unter Gott, willst du mich töten: so töte mich durch keinen Schauer, durch keine zermalmende Gestalt, sondern lächle wie die Menschen und drehe still mein Herz ab.« – Da stand die verhüllte Gestalt auf und kam – Emanuel griff wild nach seinem Freund, hüllte sich in das Angesicht desselben und sagte angedrückt: »An dir sterb' ich, an deinem warmen Herzen – o lebe glücklich, wenn du nicht mit mir erkaltest, ach! ziehe mit!«...


    Das könnte so ähnlich auch in einem Roman der Radcliffe oder anderer schwarzer Romantiker stehen.

  • Leider bin ich noch nicht am Schluss, obwohl ich mich rechtschaffen durchquäle.


    [quote author=F. Th. Vischer, Aesthetik. § 850, S. 1219]J. Paul’s Styl geht von dem ſchweren Irrthum aus, daß die Sprache für ſich ein dicker, ſalzüberfüllter Säuerling ſein müſſe, und quält uns mit der Entzifferung der läſtig pikanten Form, wo wir den Inhalt ſuchen.[/quote]


    :breitgrins:

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  • [quote author=F. Th. Vischer, Aesthetik. § 850, S. 1219]J. Paul’s Styl geht von dem ſchweren Irrthum aus, daß die Sprache für ſich ein dicker, ſalzüberfüllter Säuerling ſein müſſe, und quält uns mit der Entzifferung der läſtig pikanten Form, wo wir den Inhalt ſuchen.


    :breitgrins:
    [/quote]


    Dass der Realist Vischer mit Jean Pauls „Styl“ nicht viel anfangen konnte, verwundert nicht. Sein Vorwurf des“schweren Irrthums“, der den literarischen Modetrend seiner Zeit verabsolutiert, ist jedoch ein Armutszeugnis für einen Literaturhistoriker oder ästhetischen Philosophen. Jean Paul würde darauf antworten :
    Der Mensch hält sein Jahrhundert oder sein Jahrfunfzig für die Kulmination des Lichts, für einen Festtag, zu welchem alle andre Jahrhunderte nur als Wochentage führen.(6. Schalttag)
    Dass Form und Inhalt bei Jean Paul gar nicht zu trennen sind, dass seine subjektive Annäherung an die Wirklichkeit keineswegs weniger welthaltig ist als die der angeblich objektiven Beobachtung des Realismus, dass es bei ihm um Wahrheiten geht, die zu komplex, geheimnisvoll und zu wenig fassbar und z.T. auch zu gefährlich sind, als dass man sie einfach „geradeheraus“ aus- und ansprechen könnte, das alles scheint Vischers einengendem, unhistorischen Blick zu entgehen.
    Obwohl - sein Bild vom dicken, salzüberfüllten Säuerling ist köstlich und zeugt von rhetorischer Phantasie. :zwinker:

  • Dass der Realist Vischer mit Jean Pauls „Styl“ nicht viel anfangen konnte, verwundert nicht. Sein Vorwurf des“schweren Irrthums“, der den literarischen Modetrend seiner Zeit verabsolutiert, ist jedoch ein Armutszeugnis für einen Literaturhistoriker oder ästhetischen Philosophen.


    Als Realisten würde ich Vischer zwar nicht bezeichnen; er ist der Weimarer Klassik verpflichtet: Goethe, Schiller, Winckelmann etc. Als Literatur- bzw. allgemein als Kunsthistoriker ist er tatsächlich fast ausschliesslich diesen Ansichten verpflichtet und verabsolutiert diese unhinterfragt. In puncto aestheticis nimmt Vischer unsern Jean Paul allerdings durchaus ernst - dessen "Vorschule der Ästhetik" hat er offenbar gründlich gelesen. Jean Pauls Wichtigkeit vor allem auf dem Gebiet des Komischen/Satirischen hat Vischer vielleicht als erster erkannt. Allerdings haben wir im "Hesperus" ja selber gesehen, dass Jean Paul in der Praxis ein ziemliches Kuddelmuddel von Komik, Satire und Sentimentalität abliefert.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Als Realisten würde ich Vischer zwar nicht bezeichnen;


    [quote=sandhofer, in: litteratur.ch, Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik,
    am: 09. November 2015, 20.45 Uhr »]Da verlässt den Realisten Vischer dann die Dialektik. [/quote]


    Was geht mich mein Gerede von gestern an? :smile:


    Seid Ihr schon so weit, dass Euch aufgefallen ist, dass Klotilde am Schluss praktisch - aus dem Roman verschwindet?


    Nein. Bei mir geistert Klotilde noch leibhaftig durch den Roman. Viktor will sie heiraten, aber seltsamerweise nicht, um ihrer unsterblichen Liebe Dauer zu verleihen, sondern aus „Pflichtgefühl“, damit Klotilde nicht ins Gerede kommt. Und wieder ist der Frauenversteher und Satiriker Jean Paul in seinem Element. An der Hofschranze Le Baut, Klotildes Vater, lässt er kein gutes Haar, entlarvt schonungslos dessen Opportunismus, der vor der Tochter nicht halt macht. Ich zitiere nur die unter dem Sauerteig verborgene Kernstelle, die unumwunden ( Vischer müsste seine Freude haben) Le Bauts utilitaristischen Kleingeist zeigt:


    Natürlicherweise war ihm also ein Schwiegersohn jetzt am meisten erwünscht, da ihm etwan die Tochter gar mit Tod abgehen könnte, ohne daß er sie noch zu einem Springstab und Hebebaum seines Leibes gebraucht hätte …


    Viktor hingegen ist sich bewusst, dass für eine Frau die Ehe (damals) Selbstaufgabe bedeutet.


    Viktor wurde …unaussprechlich gerührt, daß eben diese Klotilde, diese feste stolze Ball- und Himmelkönigin, … nun durch die Verlobung ihre Independenzakte mit sanftem Lächeln in Viktors Hände gibt …


    Ich bin gespannt, wie’s weitergeht, denn Le Baut hat gleichzeitig auch dem perfiden Matthieu den „Zuschlag erteilt“.



    Die vorangegangenen Hundposttage(34, 35, 36,37?) , offensichtlich so etwas wie der Höhepunkt des Romans, fand ich gar nicht so einschläfernd finsbury. Ich war ehrlich gesagt z.T. verzaubert von den Liebesszenen und Naturschilderungen. Ich greife die fulminanteste heraus:


    Da schloß er unter dem Spatzen- und Schwalbengetobe im Dorfe und unter dem Feldgeschrei der Lerchen und vor den blendenden Wellen der Bäche die Augen zu und ließ seine Seele in das klingende Meer und in das vom Augenlid gemalte Helldunkel untertauchen; aber dann wäre sein Herz erdrückt worden von der Schöpfungflut, die über dasselbe ging aus allen Röhren und Betten und Mündungen des Lebens um ihn, aus dem verstrickten Geäder des Lebensstroms, der zugleich durch Blumenrinnen, durch Baumgassen, durch weiße Mückenadern, durch rote Blutröhren und durch Menschennerven schießt.... er wäre Freuden-ohnmächtig ertrunken im tiefen weiten Lebens-Ozean, den Lebensströme durchkreuzen und nachfüllen, hätt' er nicht wie jener Ertrunkne ein Glockengeläute in die Wellen hinunter gehört....


    Ganz neue Töne im ausgehenden 18.Jahrhundert, oder? Ich kenne Vergleichbares erst wieder aus dem 20., bei Hans Castorp im Zauberberg.

  • Gontscharow, natürlich hast du Recht, die Sentimentalität bei Jean Paul ist immer wieder durchsetzt von geradezu surrealistischen Sprachbildern. Es ist die Dichte der Gefühlsseligkeit, die mich solche Stellen dann überlesen lässt.
    Inzwischen bin ich durch mit dem Roman. Das Ende ist tatsächlich, wie sandhofer oben schrieb, etwas hopplahopp, damit noch alle Geheimnisse gelüftet werden.
    In einem Kolportageroman wäre der finstere Mattes sicherlich bestraft worden, Jean Paul entlässt ihn gnädig:


    Zitat von letztes Kapitel

    Der Lord zerfaserte diese Fallstrick-Seele nicht, da sie, wie er sagte, zu unbedeutend zur Genugtuung, zu schwarz gebeizet zur Strafe sei, ...


    sandhofer, Klotilde kommt doch noch auf der vorletzten Seite vor:
    "Wir wollen nur ein wenig schneller auf die Insel zurückeilen; Klotilde bittet uns selber darum, sie lieber ein andres Mal zu sehen. ...


    Später schreibe ich noch mehr, muss jetzt aber arbeiten.

  • Nur mal so nebenbei:

    Heute sah ich in der Mediathek des zdf eine Folge der Sendung Zeugen des Jahrhunderts. Hans-Magnus Enzensberger wurde gefragt, wie gut er sich selbst kenne. Er antwortete mit einem sinngemäß wiedergegebenen Zitat von André Gide:
    Mein Ich ist wie ein Parlament; die reden alle durcheinander, die Ichs. Manchmal muss ich die Glocke nehmen, um sie zum Schweigen zu bringen.


    Selbes Phänomen und selbes Bild 150 Jahre früher bei unserm Jean Paul, vielleicht nicht so griffig, aber umso schöner:

    Nirgends wird so viel gezankt als in einem Menschen – […] Ein tragbarer Nationalkonvent in nuce ist man, ich kann keinen Schritt tun, ohne daß erst die rechte und linke Seite darüber haranguieren, und die enragés und die noirs, und der Herzog von Orleans und Marat. Das Abscheulichste ist im innerlichen Regensburger Reichstage des Menschen, daß die Tugend darin mit zehn Sitzen und einer Stimme sitzt, der Teufel aber mit einem Steiße und sieben Stimmen.(23. Hundposttag) :breitgrins:

  • Was geht mich mein Gerede von gestern an? :smile:


    Wenig. Hier aber war's eigentlich ein unangekündigter Wechsel des Gesichtspunktes: Vom Punkt der (Hegel'schen) Dialektik aus gesehen, der Vischer zumindest zu Beginn seiner "Aesthetik" noch sehr anhängt, ist Vischer bei der Betrachtung der Literatur inzwischen 'Realist' geworden. Vom Punkt eines Realismus oder gar Naturalismus aus gesehen, wie er sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus entwickelte, gehört Vischer noch unbedingt in die klassische (klassizistische) Ära der Goethe-Zeit.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Zu eurer Diskussion über Vischer kann ich nichts beitragen, hätte aber noch eine Erkundigung zu einer Textstelle, in der sich Jean Paul meiner Ansicht nach auf Kants Morallehre bezieht:


    Zitat von Beginn 42. Hundsposttag

    Jetzo riefs laut in Viktors Seele: "Rette den Bruder deiner Geliebten!" - Ja, es war ein Mittel dazu da; - aber der Meineid wars. Wenn er nämlich den beging, daß er dem Fürsten entdeckte, wer Flamin sei: so war er erlöset. Aber sein Gewissen sagte. Nein!- "Der Untergang einer Tugend ist ein größeres Übel als der Untergang eines Menschen - nur Sterben, aber nicht Sündigen muss sein - , soll es mich noch mehr kosten, mein Wort zu brechen, als mich bisher kostete, es zu halten?"


    Bezieht sich das nicht auf den kategorischen Imperativ, dass ein negatives Gebot, wie das Nicht-Lügen, über einem positiven Gebot, das Menschenleben-Retten, steht?
    Man kann dann ja -romanhandlungsinhärent - nur froh sein - dass Mats die Aufklärung übernommen hat :breitgrins: oder -vielleicht hätte die Schuld Viktors am Tod Flamins -den ja aber auch Klotilde mit dem gleichen Risiko hätte retten können, dem Roman noch einen Schlusskick verliehen?!

  • Bezieht sich das nicht auf den kategorischen Imperativ, dass ein negatives Gebot, wie das Nicht-Lügen, über einem positiven Gebot, das Menschenleben-Retten, steht?


    Schwer zu sagen. Näher an Jean Paul wäre sicher Kants kleiner Aufsatz "Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen" von 1797. Der ist eine Antwort auf Benjamin Constant, der schrieb:


    „Der sittliche Grundsatz: es sei eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen, würde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt nähme, jede Gesellschaft zur Unmöglichkeit machen. Den Beweis davon haben wir in den sehr unmittelbaren Folgerungen, die ein deutscher Philosoph aus diesem Grundsatze gezogen hat, der so weit geht zu behaupten: daß die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein würde.“


    Kant bezog das auf sich, Constant meinte allerdings den Göttinger Professor Michaelis mit dem "deutschen Philosophen". Auf wen sich Jean Paul letzten Endes bezieht, Kant oder Michaelis, kann ich nicht sagen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Danke für deinen interessanten Blog-Beitrag, sandhofer.


    Inzwischen denke ich, dass ich einigen sentimentalen Stellen Unrecht getan habe. Bei weniger ungehaltener Lektüre hätte ich wohl einige sprachliche und auch gehaltliche Diamanten entdecken können, die mir in Walter Höllerers Nachwort zu meiner Ausgabe angedeutet wurden.
    Im Nachhinein denke ich, dass der Roman einfach nicht die rechte Lektüre in arbeitsreichen Lebensphasen ist; Vielleicht nehme ich ihn mir im Ruhestand nochmal vor und genieße das, was ich jetzt nicht würdigen konnte.

  • Inzwischen habe auch ich den Hesperus beendet.

    Nach Emanuels langem, langem Sterben, das - angereichert mit schauerromantischen Elementen und antizipierten Kübler-Ross`schen Erkenntnissen über Sterbephasen - in vielem, bes. in Momenten der Gottverlassenheit, dem Sterben Christi ähnelt, nimmt der Roman Fahrt auf. Als Hesperus- Leser daran gewöhnt, nicht die Handlung, sondern die Digressionen als „das Eigentliche“ anzusehen, beginnt man diese geradezu zu vermissen. Sogar den längst fälligen Schalttag lässt Jean Paul unter denTisch fallen:


    Man schenke einem Menschen, der, gleich Pferden, in der Nähe der Nacht und der Heimat stärker läuft, den zehnten Schalttag; am Ende eines Lebens und eines Buches macht der Mensch wenig Ausschweifungen.(41. Hundposttag)

    Die Ereignisse dagegen überstürzen sich. Es stimmt einfach nicht, dass Klotilde „praktisch aus dem Roman verschwindet“. Nach Emanuels Eröffnung auf dem Sterbebett, dass Augenarzt Viktor der Sohn Eymanns (als aufmerksamer Leser hätte man’s wissen können) und damit Klotilde nicht mehr ebenbürtig sei, will er seiner großen Liebe aus Liebe entsagen. Es kommt zu einer herzzerreißenden Abschiedsszene. Selbst als Klotilde nach dem Mord an ihrem Vater in London weilt, ist sie präsent, wenn auch nur postalisch. Und nachdem sich alles aufgeklärt hat und Klotilde zurück ist, steht dem Happy End nichts mehr im Wege… Erst erlebt der Leser aber noch Matthieus Perfidie, Flamin im Gefängnis, Viktor in Gewissensnot…


    Das Buch war für mich ein Erlebnis! Der Reichtum und die Kühnheit der Jean Paul’schen Bilder und Metaphern haben mich immer wieder erstaunt. „Brotwerdung des Geistes“ nennt er sie an einer Stelle und in der Tat entsteht durch das Zusammenbringen verschiedener Bereiche in der Metapher die Suggestion der Gleichzeitigkeit, der Anverwandlung bei gleichzeitigem Fortbestehen der Andersartigkeit … Ähnlich verhält es sich mit der Bandbreite der Themen, der Vielfalt unterschiedlicher Gedanken und Gefühle, der Vielstimmigkeit des Romans. Er ist für mich eine Art Buch der Unruhe des ausgehenden 18. Jh.s : Alles zählt und scheint unterirdisch miteinander verbunden, nichts bleibt unwidersprochen oder ungebrochen, alles ist in Bewegung. Ich greife als Beispiel einen (vielleicht zentralen )Gedankengang heraus:


    Es gibt eine höhere Ordnung […] es gibt eine Vorsehung in der Weltgeschichte und in eines jeden Leben, welche die Vernunft aus Kühnheit leugnet, und die das Herz aus Kühnheit glaubt


    heißt es - in sich nicht ganz ungebrochen - im 6. Schalttag. Dies und u.a. Viktors Gefühl des Einsseins mit der Natur, der Großartigkeit des Lebens und der Schöpfung ( entsprechende Stelle wurde im vorvergangenen Posting zitiert) finden ihren Kontrapunkt u.a.. im Abschiedsbrief Horions, dem die Wirklichkeit zerbröselt:


    Das Leben ist ein kleines leeres Spiel[…] Lös’ ich eine große Schweizergegend in ihre Bestandteile auf: so hab' ich Tannennadeln, Eiszapfen, Gräser, Tropfen und Gries. - Die Zeit zergeht in Augenblicke, die Völker in Einzelwesen, das Genie in Gedanken, die Unermesslichkeit in Punkte, es ist nichts groß […].


    Seltsam eigentlich, dass das vorangestellte Motto des Romans schon diesen schwarzen, pessimistischen Ton anschlägt: Die Erde ist das Sackgässchen in der großen Stadt Gottes… Umso versöhnlicher Horions Grabinschrift, mit der das Buch endet: Es ruht


    Nicht, dass ich nicht zeitweise auch ungehalten über die Kryptik und das Zuviel an aufgetischtem enzyklopädischem Wissen gewesen wäre( finsbury) :zwinker:,zumal mir das Stemmen des Backsteins zusätzlich Gelenkschmerzen verursachte!


    So lege ich mit einer gewissen Befriedigung das Buch beiseite und kann sagen: Es ruht. :winken: