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Goethes Variante der Schöpfungsgeschichte, wonach Gott zuerst das Volk der Zwerge erschaffen habe, fand meines Wissens gar nicht mehr den Widerstand zeitgenössischer christlicher Theologen, wie sie sich insgesamt kaum noch zu Goethes Alterswerk äußerten. Der Kommentator Erich Trunz, der eingangs die Vorbildhaftigkeit der Josephs-Familie hervorhob, übergeht dafür die Goethesche Parodie der Schöpfungsgeschichte weitgehend mit Schweigen (HA, Bd. 8, S. 650-652) und spricht nur an einer Stelle rätselhaft von einer „schelmische(n) Kosmologie“.
Um 1829 befand sich die Geistlichkeit bereits im vollen Rückzug, von einer wörtlichen Auslegung der Schöpfungsgeschichte mit Adam und Eva als handelnden Personen, die sich den Zorn Gottes einhandelten, konnte zumindest in den großen Volkskirchen keine Rede mehr sein.
"Solche Rückzüge liegen heute seit Jahrhunderten hinter uns. Christen sahen sich durch Zweifel am tatsächlichen Charakter ihrer Berichte bedrängt; ihre Verteidiger haben den Glauben systematisch gegen Erfahrungsargumente immunisiert; dazu haben sie ihn verdünnt und spiritualisiert. Jetzt auf einmal hat Gott die Welt doch nicht in sechs Tagen erschaffen ... Die Kunst mancher Theologen besteht darin, Formulierungen zu erfinden, denen man nicht leicht anmerkt, daß Eva nicht aus der Rippe gebildet und daß das Grab nicht leer war."
Kurt Flasch: Warum ich kein Christ bin. München 2013, S. 84.
Gott hat zuerst die Zwerge erschaffen? Konsistorialpräsident Herder hätte den Spass bestimmt mitgemacht bzw. stillschweigend geduldet.
Hallo Karamzin,
es hätte mich überrascht, wenn es hier aus dem Blickwinkel der christlichen Theologie Einwände gegeben hätte. Hast Du etwas in der Richtung vermutet oder erwartet? Die von Goethe hier angebotene Variante der Schöpfungserzählung steht in einem solch klar erkennbaren fiktionalen Kontext, dass jeder Widerspruch einer christlichen Theologie sich von vornherein der Lächerlichkeit preisgäbe. Ein solcher Widerspruch hätte sich dann ja auch gegen jegliche Form der nichtchristlichen Mythologie, auch gegen die antiken Erzählungen richten müssen. Damit konnten aber die Kirche - auch damals schon - recht gut leben.
Zu Kurt Flasch: Mich überrascht, was ich da lese. Von einem so profunden Kenner der spätantiken und mittelalterlichen Philosophie hätte ich etwas gründlichere Kenntnis der Hermeneutik religiöser Texte erwartet. :zwinker:
LG
JHN