Re: Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre


  • Hallo Karamzin,


    es hätte mich überrascht, wenn es hier aus dem Blickwinkel der christlichen Theologie Einwände gegeben hätte. Hast Du etwas in der Richtung vermutet oder erwartet? Die von Goethe hier angebotene Variante der Schöpfungserzählung steht in einem solch klar erkennbaren fiktionalen Kontext, dass jeder Widerspruch einer christlichen Theologie sich von vornherein der Lächerlichkeit preisgäbe. Ein solcher Widerspruch hätte sich dann ja auch gegen jegliche Form der nichtchristlichen Mythologie, auch gegen die antiken Erzählungen richten müssen. Damit konnten aber die Kirche - auch damals schon - recht gut leben.


    Zu Kurt Flasch: Mich überrascht, was ich da lese. Von einem so profunden Kenner der spätantiken und mittelalterlichen Philosophie hätte ich etwas gründlichere Kenntnis der Hermeneutik religiöser Texte erwartet. :zwinker:


    LG
    JHN

  • Insgesamt habe ich derzeit ein wenig Mühe mit dem dritten Buch. Noch kann ich es nicht so recht fassen. Was geht dort eigentlich vor? Spricht hier ein alternder Goethe, der mit Verve neue Aufbrüche und Neuanfänge beschreibt, die er aufgrund seines eigenen Lebensalters nicht mehr selbst umsetzen kann? Oder ist es der Triumph der Utopie, des Möglichen über seine mitunter bitteren Erfahrungen in der Wirklichkeit? Handlungsanweisung für Auswanderer? Lebensratschläge an die Jugend: so müsst Ihr Euer Leben anlegen, so müsst Ihr es angehen? Vielleicht von allem ein bisschen...


    Mein Unbehagen macht sich auch an so vielen Einwänden fest. Ich möchte dem Meister gern widersprechen. Oder wenigstens rückfragen: Hast Du auch bedacht, dass... Vielleicht wissen wir heute einfach zu viel über die Geschichte etwa der USA, über Migration, sowohl Emigration als auch Immigration. Der Idealismus, mit dem Lenardo den Aufbruch in ein tätiges, gestaltendes Leben preist, mit dem die ideale Gesellschaft geschildert wird. Zu wenig ist mir die Rede davon, dass Menschen, die aus ihren alten Lebenszusammenhängen entfernt werden und mit anderen ebenso entwurzelten eine neue Gemeinschaft bilden sollen, mehr brauchen als ein bisschen Idealismus. Dass eine solch neu sich bildende Gemeinschaft eine Identität und Zusammenhalt nur entwickeln kann, wenn es etwas gibt, das sie eint.


    Geht es nur mir so, oder hat das Eintreten für die unermüdliche Tätigkeit, das Nutzen jedes Moments durchaus etwas von Webers berühmt-berüchtigter 'Protestantischer Ethik'?


  • Hallo JHNewman,


    na ja, die Theologen um 1829 waren schon "wetterfester" als in Goethes Jugendzeit. Um 1774 hatte ihnen Werthers Selbstmord noch zu schaffen gemacht. Goethe nahm es Friedrich Jacobi übel, dass dieser ohne sein Wissen den "Prometheus" veröffentlichte, wenn auch anonym, das war für die Theologen und zahlreiche bibelfromme Schriftsteller immer noch starker Toback.


    Ich habe schon mitbekommen, dass Du Dich mit Theologie beschäftigt hast, garantiert viel mehr als ich, für den das alles nach 1990 Neuland war. Dort wo ich herkomme, wurde der "Prometheus" als für alle selbstverständliches Zeugnis des Atheismus in der Schule durchgenommen und auswendig gelernt, die zwei oder drei Christen in der Klasse gaben sich nicht als solche zu erkennen.


    Dafür ist für mich der Kommentator Erich Trunz (1905-2001) heute tatsächlich eine neue "Leseerfahrung", die DDR-Ausgabe, die ich 1976 las, hatte keine solchen Kommentare. Und ich brauchte noch bessere und gründliche Kommentare. Das eingangs erwähnte Buch von Anneliese Klingenberg erklärte nicht alles in den "Wanderjahren". Da stellte ich fest, dass Trunz nicht nur sehr blumig und schnörkelig schrieb, was sich schon bei seiner Kommentierung der Josephs-Geschichte zeigte, sondern sich auch - 150 Jahre später - bei deftigen religionsfernen Stellen, die bei dem "Heiden" Goethe unvermeidlich sind, gern aus der Affäre zieht oder ganz aus dem Staub macht. Trunz war ein viel gelobter Philologe mit klassischer humanistischer Bildung, für den die christliche Weltsicht jedoch Selbstverständlichkeit war, was sich auch in seinen Kommentaren niederschlug.


  • Hallo Karamzin,


    Ja, das ist wohl so. Ich finde den Kommentar von Trunz sehr hilfreich und in vielem sehr erhellend. Dass er sehr klassisch und ein wenig betulich daherkommt, ist auch nicht zu übersehen. Aber er hat ja nun auch schon einige Jahre auf dem Buckel. Ich lese Goethe übrigens gar nicht als 'heidnisch'. Er ist in gewissen Maße ein post-christlicher Schriftsteller, oder besser: Ein Denker, der das Christentum als Form (und ganz gewiss als Dogma) hinter sich gelassen hat. Im Gehalt hingegen finde ich bei ihm sehr viele genuin christliche Bezüge. Weniger natürlich in der Aussage als in der Haltung. Aber da mag es andere Lesarten geben...


    LG
    JHN

  • Ich bin num zum Ende des Romans vorgedrungen.


    meine oben genannten Irritationen am überbordenden Idealismus des dritten Buches wurden durch das Nachodine-Kapitel etwas besänftigt. In diesem Kapitel behandelt Goethe doch recht breit den Konflikt und die existenziell-wirtschaftliche Bedrohung, die durch die Industrialisierung und das 'um sich greifende Maschinenwesen' entsteht. Auswanderung erscheint also nicht mehr nur als gewünschter Aufbruch, sondern auch als (erzwungener) Ausweg aus einer Notlage.


    Der Höhepunkt ist aber für mich das Makarienkapitel. Hier kommt Goethe wieder zu dem, was er im Tiefsten sagen will. Da zeigt sich für mich Goethe als 'Seher' - und das sind die Kapitel, die für mich den Roman wirklich lesenswert machen.

  • Lenardos Ansprache
    Sie ist ein Loblied auf die Mobilität. Angehörige aller Stände und Schichten der Gesellschaft sollten dazu angehalten sein, an anderen Orten wirksam zu werden. Zu jener Zeit war die Bindung der meisten Einwohner an ihren Ort und an den Boden noch nicht so weit aufgehoben, dass sich größere Menschengruppen auf Wanderschaft begeben hätten.


    (In Russland wurden übrigens in jeder Sommer-Saison bis zu 200.000 Treidler an den großen Flüssen als Wanderarbeiter beschäftigt, die im Winter zu ihren Familien in die Dörfer zurückkehrten; da es kaum ein ausgebautes Netz von Überlandstraßen gab, hatten die Flüsse solch eine Bedeutung für den Warentransport - aber das galt ja alles nicht für Mitteleuropa).


    Dieser Weltbund der Wandernden trägt utopische Züge.
    Was wird aus jenen, die nicht imstande sind, am Zielort eine nützliche Tätigkeit auszuüben? Der Russlandauswanderer Christian Gottlob Züge (1746-1823) aus Gera, selbst ein Leineweber, berichtete in seinen 1992 in Bremen erneut herausgegebenen aufschlussreichen Erinnerungen, dass sich unter den 27.000 Auswanderern, die den Versprechungen Katharinas II. glaubten, sie würden ein Land mit Weintrauben und Zitronen vorfinden, auch ein Schneider mit verkrüppelten Händen sowie ein Klavierbauer befunden hätten. Was sollte an der Wolga, wo die Ankömmlinge nur als Ackerbauern den Boden fruchtbar machen sollten, ein Klavierbauer anfangen?


    Um 1816 wurde Literatur zur Wirklichkeit: Als in Württemberg nach den napoleonischen Kriegen eine große Hungersnot ausbrach, zogen zehntausende verarmter Kolonisten, darunter viele Pietisten und Angehörige endzeitlicher Religionsgemeinschaften los und folgten der Verheißung in dem Roman "Das Heimweh" (1794/96) von Johann Heinrich Jung-Stilling, sie suchten das sagenhafte Reich "Solyma", das in Mittelasien gelegen und wo der "ewige Friede" durchgesetzt sei. Einige Gruppen gelangten bis zu den Garnisonen der russischen Kaukasus-Armee in Georgien und gründeten dort um 1817 Siedlungen.


    Bei der Kommentierung der Rede werden wieder einmal einige Passagen nicht erklärt.


    "Was soll ich aber nun von dem Volke sagen, das den Segen des ewigen Wanderns vor allem andern sich zueignet und durch seine bewegliche Tätigkeit die Ruhenden zu überlisten und die Mitwandernden zu überschreiten versteht? Wir dürfen weder Gutes noch Böses von ihnen sprechen; nichts Gutes, weil sich unser Bund vor ihnen hütet, nichts Böses, weil der Wanderer jeden Begegnenden freundlich zu behandeln, wechselseitigen Vorteils eingedenk, verpflichtet ist."
    (HA, Bd. 8, S. 387)


    Erich Trunz schweigt. Ist das "fahrende Volk" gemeint, von dem etliche Gruppen die Landstraßen entlang zogen, als "Landstreicher" abgewertet wurden? Sind es die Zigeuner, die noch im 18. Jahrhundert aus vielen deutschen Territorien ausgewiesen wurden? Bei Zuwiderhandlung war es vorgekommen, dass kurzerhand eine ganze Gruppe von wandernden Männern, Frauen und Kindern aufgehängt wurde. Worin besteht der "wechselseitige Vorteil", wo bleibt die allgemeine Mitmenschlichkeit?
    Da Goethe vom "Segen des ewigen Wanderns" spricht, dürften die Juden eigentlich nicht gemeint gewesen sein: zum einen wurde gemäß den aus dem Mittelalter stammenden Vorstellungen ja eher der "Fluch des ewigen Wanderns" über sie verhängt, zum anderen war nicht das Individuum gemeint, waren die meisten von ihnen zu jener Zeit sesshaft, und nur einzelne Kleinhändler reisten umher.

  • Eine Ausnahme macht Goethe dabei, und hier sehe ich in hohem Maße Autobiographisches:


    Zitat

    Sehen wir aber bedeutende Staatsmänner, obwohl ungern, ihren hohen Posten verlassen, so haben wir Ursache, sie zu bedauern, da wir sie weder als Auswanderer noch als Wanderer anerkennen dürfen; nicht als Auswanderer, weil sie einen wünschenswerten Zustand entbehren, ohne daß irgendeine Aussicht auf bessere Zustände sich auch nur scheinbar eröffnete; nicht als Wanderer, weil ihnen anderer Orten auf irgendeine Weise nützlich zu sein selten vergönnt ist.


    (HA. Bd. 8, S. 389)


    Das traf nun auch auf Goethe zu. Nach seiner Flucht in die italienischen Kunstgefilde 1786 fand er sich mit höchsten Unlustgefühlen 1788 wieder in Weimar ein. Er war noch nicht einmal 40 Jahre alt, doch waren die mehr als zehn Jahre Ministerdaseins mehr als genug. Der Herzog und der Hof übergaben ihm mannigfaltige Aufgaben auf kulturellem Gebiet: Verfassen von Texten für Singspiele und Hoffeste, Aufsicht über das Weimarer Theater. An der Aufsicht über die Universität Jena fand er auch Gefallen, weil ihn die dort betriebenen Naturwissenschaften in den Bann zogen (physikalisch-optische Geräte; anatomische Sammlungen - Zwischenkieferknochen; Botanischer Garten).


    Aber er hatte bereits für eine gewisse Zeit an der Spitze eines Staates als leitender Minister gestanden. In einem schmerzlichen Prozeß begriff er, dass er Weimar nicht mehr verlassen könne, dass sich ihm nirgendwo anders ein ihm angemessener Wirkungskreis eröffnen würde. Nur noch die "Entsagung" blieb übrig, da er mit der geliebten Frau keinen Bund schließen konnte. Ihm blieb als Rückhalt seine kleine Familie - allerdings alles andere als eine Idylle, wenn man an das Ende Christianes und Augusts denkt.

  • Nicht zu weit


    Diese Novelle hat mich doch wieder ziemlich ergriffen, die als einzige von Trostlosigkeit durchzogen zu sein scheint.
    Zunächst kamen mir Filmszenen in den Sinn, die ich allerdings nicht zuordnen konnte. Der Mann mit den Kindern wartet abends zu Hause auf seine Ehefrau, die nicht eintrifft, schließlich schlafen sie ein (oder er zieht sich eine Flasche ein).
    Eine solche Szene verdeutlicht, dass hier etwas Gewohntes durcheinander geraten ist. Der Hausfrau ist eigentlich der Platz zugedacht, den sie an der Seite ihres Mannes einzunehmen hat und an dem sie Huldigungen von den Kindern zu erwarten hat, die im Grunde überhaupt nicht kindgemäß sind und nur von sehr "lieben", gut angepassten Kindern freiwillig übernommen wurden. Das dürften Hollywood-Filme gewesen sein, die das gewohnte Rollenbild von der Hausfrau transportieren; meist kam es dann zum Happy End, und die ausgebrochene Hausfrau zeigt sich wieder an der Seite der sie liebenden Familie. Transportiert wird auch eine Anklage der Frau: sie hat da zu sein, für ihren Mann, für ihre Kinder, und wenn dennoch etwas dazwischen gekommen ist, so muss sie das dann zum allgemeinen Wohlgefallen gefälligst wieder in Ordnung bringen.


    Selbst kennt man eher großstädtische Familiensituationen, bei denen alle gewöhnt sind, dass Familienmitglieder, vor allem auch die Frauen, abends unterwegs sein können, und sich nicht alles planen lässt. Für den Fall eines überraschenden Ausbleibens oder Zuspätkommens tritt dann Plan B als Improvisation in Kraft, und der Abend kann gerettet sein.



    Hier ist hingegen "alles zu spät". Wie es sich gezeigt hat, war Goethe der gefallsüchtige, quirlige Frauentyp nicht sympathisch, der sich selbst anhimmeln ließ (und nicht den Dichter in Positur kommen ließ), mit dem man nicht unter vier Augen tiefsinnig schweigen und über erhabene Gegenstände sprechen konnte. Das heißt: er hat sich wohl doch immer wieder von solch einem Wirbelwind beeindrucken und zeitweise einfangen lassen. In den "Wahlverwandtschaften" ist Lucinde, die verzogene Tochter Charlottes, ein solches flatterhaftes Geschöpf, während Julie in der ersten Novelle der "Wanderjahre" - "Wer ist der Verräter?" - zwar ebenfalls ein unstetes, jedoch auch kluges und lebenserfahrenes Wesen ist.


    Erich Trunz wieder mal (ich habe mich heute wohl auf ihn eingeschossen :zwinker:), nachdem er den bezeichnenden Satz entlassen hatte "Eine Volksmenge braucht einen leitenden Mann" (S. 656, fürwahr, davon gab es im 20. Jh. gleich mehrere, aber kann es nicht auch einmal eine kollektive Führung sein?) vermischt auf S. 658 m. E. eine den Helden bzw. Erzählern untergeschobene Meinung mit seinen eigenen traditionellen Vorstellungen von "Schuld" beim Scheitern einer Ehe:
    "Odoard kann sich nicht ganz freisprechen von einer ursprünglichen Schuld, die darin liegt, daß er diese Ehe geschlossen hat. Da er es aber tat, hält er zu ihr, und das fordert ein unendliches Maß von Selbstzucht und Entsagung."


    Zum einen ist Odoard ja durch eine bestimmte Konstellation am Hof in diese konventionelle Ehe geraten, die keine Liebesheirat war.


    Heute, da im Durchschnitt jede dritte oder sogar zweite Ehe geschieden wird, sagt man sich, dass nur selten eine Seite "schuld" am Auseinanderbrechen der Beziehung hat. Frauen betreiben heute oft aktiv und eher die Scheidung, wenn sie zu dem Schluss gelangt sind, dass sich die ursprünglichen Beziehungen wesentlich zum Schlechten verändert haben, so dass eine "falsche Partnerwahl" oft auch nicht einmal die Hälfte der Wahrheit bedeutet. Goethe hat mit Albertine sicher einen ihm unsympathischen Typ gezeichnet, aber es musste schon eine jahrelange Verkettung von Umständen sein, die zur Katastrophe führte.


    (und ich glaube für mich zu wissen, wer mit "Aurora" gemeint war :zwinker:)

  • [quote= finsbury, 9. Juni 2014, 19:22]Was ist mit den anderen LR_Teilenehmern eigentlich? Alle schon fertig?[/quote]


    Nun will ich mich auch endlich zurückmelden. Die Wanderjahre habe ich schon vor etwa drei Wochen ausgelesen. Mindestens zwei Wochen war ich aus verschiedenen Gründen vom Internet und damit von der Leserunde abgeschnitten. Umso erfreuter war ich jetzt festzustellen, dass noch Leben in der Bude, die Leserunde noch nicht geschlossen ist.


    Euren Kommentaren kann ich in (fast) allem zustimmen. Wie Ihr, finsbury und karamzin, staune ich über die Aktualität Goethischer Kritik am Wirtschafts- und Finanzwesen und der kulturellen Kurzatmigkeit seiner Zeit und freue mich an der Treffsicherheit von Formulierungen wie „Durchrauschen des Papiergeldes“ „veloziferisch“ u.ä.

    Ich teile Dein Unbehagen am dritten Buch,@ newman, an der Auswanderungs- und Umsiedlungseuphorie und -rhetorik, die, wenn nicht unfreiwillig komisch, dem heutigen Leser eher peinlich ist:

    Wer gehorchet der erreicht es,/ Zeig ein festes Vaterland./ Heil dem Führer!/ Heil dem Band...

    Faschistoides findet sich allerdings in utopischen Texten häufig (auch bei Plato, auch bei Campanella etc). Goethe war kein Demokrat, das zeigt sich wieder z. B. an seinen Betrachtungen zur „Volkheit“ (scheußliche Wortschöpfung), aber immerhin gilt für die Wanderjahre: die wichtigste, allumfassende Maxime der päd.Provinz, die oberste vierte(!) Ehrfurcht lautet: Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst.


    Ja, ich empfinde wie newman Makariens Archiv( und die Betrachtungen im Sinne) als Höhepunkt.


    [quote=JH Newman,12. Juni 2014, 10:15]Hier kommt Goethe wieder zu dem, was er im Tiefsten sagen will.
    [/quote]
    Und hier reflektieren sich die Wanderjahre. Im Grunde könnte man eine Interpretation der WJ schreiben entlang der Aphorismen:

    Alles ist gleich, alles ungleich, alles schädlich und nützlich…... Und was man von einzelnen Dingen bekennt, widerspricht sich öfters.
    (Zum Thema Widersprüchlichkeit in den WJ)


    Es ist nicht genug zu wissen, man muss auch anwenden, es ist nicht genug zu wollen, man muss auch tun.
    ( zur Wertschätzung des Handelns in den WJ)


    Eine allgemeine Ausbildung dringt uns jetzt die Welt ohnehin auf… das Besondere müssen wir uns zueignen.
    (Wilhelm, die Oberen, Montan)


    Steine sind stumme Lehrer, sie machen den Beobachter stumm, und das Beste, was man von ihnen lernt, ist, nicht mitzuteilen.
    (Montan)


    Man wird nie betrogen, man betriegt sich selbst.
    ( Die pilgernde Törin, Der Mannn von fünfzig Jahren etc)


    Was einem angehört, wird man nicht los, und wenn man es wegwürfe.
    ( (Leonardo und Nachodine u.a, die Kästchen und Schlüssel.)


    Die Reihe ließe sich fortsetzen. Dies sind jetzt nur einige, vergleichsweise flache Reflexionen. An die wirklich"tiefen" ( über die Analogie alles Existierenden, zarte Empirie und das reine Anschauen u.a.) und ihre Entsprechungen in den Wanderjahren traue ich mich nicht, wäre auch zu langatmig.


    Ich habe die Wanderjahre gerne gelesen. Sie strahlen eine wunderbare Ruhe aus - selten bin ich über einer Lektüre öfter eingeschlafen - nach dem (geheimen) Motto : Alles ist gut, wie es ist, auch wenn es sich hier um einen Bildungs-und Erziehungsroman handelt: der Mensch in seinem dunklen Drange kennt und findet seinen Weg ohnehin und sowieso. Hat man sich eigentlich schon mal Gedanken darüber gemacht, warum der seine Lehr- und Wanderjahre absolvierende Wilhelm ausgerechnet Meister heißt?

    Es ließe sich noch unendlich viel zu dem Roman sagen. Ich hoffe auf Karamzins Fazit und, wer weiß, vielleicht gibt ja der eine oder andere Leserundenteilnehmer noch etwas zum besten.

  • Gontscharow,


    für die Anbindung der Maximen aus Makariens Archiv an die Personen des Romans bin ich dir sehr dankbar. Ich habe ja mehr oder weniger darüber hinweggelesen und finde nun doch, dass sie sich dem Roman einpassen.


    Mich hat an den Wanderjahren am meisten fasziniert, wie breit das Interessensspektrum des alten Goethe und natürlich erst recht seine Erkenntnisfähigkeit war. Sonst erkennt man ersteres an seinen literarischen Werken ja nicht so sehr, er war ja kein Zettelheini wie z.B. Jean Paul.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)