Juli 2003: Jens Peter Jacobsen - Niels Lyhne

  • Hallo zusammen,


    vorab: da Ihr, Amelie und Lucien, mich noch nicht so gut kennt, will ich mal was klarstellen. Wenn es vielleicht, durch meine kritischen Äußerungen so scheint, als würde mir der Roman von Jacobsen nicht gefallen – Nein, er gefällt mir insgesamt recht gut und ich will eigentlich nur die Diskussion etwas anregen. Insbesondere meine Bemerkung über Jacobsens Dialoge müsste ich jetzt im 9. Kapitel sowieso revidieren. Die Abschiedsszene von Niels mit Frau Boye finde ich z.B. Klasse:


    „Du sollst es wissen, - du weißt nicht, wie ich dich liebe, was ich gelitten, wie ich entbehrt habe. Könnten die Stuben am Wall sprechen! Tema!“
    „Was könnten die Stuben sagen, Niels?“
    „Tema, könnten sie zehntausendmal sagen und noch mehr, sie könnten in diesem Namen beten, in diesem Namen rasen, seufzen, schluchzen; Tema, sie könnten auch drohen.“
    „Könnten sie das“


    amelie
    aufnahmebereit für die schönheit des seins und lebens. allerdings muss man auch zur rechten zeit zu dieser unerfüllbaren liebe distanz beziehen, sie darf nicht das ganze leben einnehmen. diesen punkt hat herr bigum versäumt, er ergeht sich in seiner lethargie anstatt sich durch andere dinge aufzuwerten. so macht er sich immer wertloser und abhängiger von den launen des fräuleins.


    Das Problem, das mir Herr Bigum macht ist folgendes: Er taucht mit rund 40 Jahren im Roman auf und wir wissen überhaupt nichts über seine Vorgeschichte. Welche Enttäuschungen hat er vielleicht vorher schon erlebt? – Und dann erleben wir ihn ja auch nur kurze Zeit, und was wird danach aus ihm? Wir wissen es nicht. Deshalb wage ich nicht, so ein endgültiges Urteil über ihn abzugeben.


    Lucien
    Sorry, Lucien, ich glaube ich habe Dich bis jetzt überhaupt noch nicht richtig begrüßt hier bei uns im Klassikerforum. Also Du bist hier herzlich willkommen. Und wenn Du Amelie und mir bei der Lektüre von Niels Lyhne zur Seite stehst, finde ich das ganz toll.


    Bleibt am Ball, und nicht zu schnell lesen: der Jacobsen schreibt unheimlich kompakt, da ist beinahe kein Satz nur so dahingeschrieben


    Mit Deiner Ermahnung, hast Du sicher recht. Normalerweise lese ich auch sehr langsam und intensiv, in diesem Fall wollte ich natürlich Amelie möglichst bald einholen. Aber von nun an lese ich wieder gründlicher. Versprochen.


    Viele Grüße von Hubert


  • Der Botaniker, Romancier und Lyriker Jens Peter Jacobsen (1847 bis 1885) ist nach Andersen und Kierkegaard der dritte dänische Autor mit großer internationaler Resonanz. Auf das frühe Werk deutscher Autoren um 1900 (Thomas Mann, Gottfried Benn u.a.) hat er eine erstaunliche Wirkung ausgeübt. Rilke pries ihn gar als seinen geistigen Mentor („Er war mir ein Begleiter im Geiste und eine Gegenwart im Gemüt“). Das vielschichtige Werk Jacobsens entfaltet sich in der Spannung von Naturalismus und Symbolismus, Atheismus und Naturmystik, Lebenslust und Lebensangst. Mit 38 stirbt Jacobsen an Tuberkulose.


    Einen Lebenslauf findet man unter:


    http://www.robert-morten.de/ba…nnia_mini_detail&Id==2475



    Lebenslauf und Bibliographie aus dem Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon


    http://www.bautz.de/bbkl/j/jacobsen_j_p.shtml



    HAUPTWERKE (daneben gibt es weitere Novellen und Gedichte)


    1868/69 Gurrelieder


    Gedichtzyklus der einen in dänischen Volksliedern überlieferten Sagenstoff gestaltet. Zu Lebzeiten Jacobsens unveröffentlicht. Im Nachlass fand sich die Fragment gebliebene Novelle „Ein Kaktus erblüht“ in deren Rahmenhandlung fünf junge Dichter dem Gastgeber und seiner hübschen Tochter aus ihren Manuskripten vorlesen, während man auf das Aufblühen eines Kaktus wartet, der nach neunjähriger Pflege eine Blüte bekommen hatte, die sich im Laufe der Nacht erschließen würde. In einer Episode wird in Versen die Geschichte des dänischen Schlosses Gurre erzählt, eine mittelalterliche Legende mit historischem Kern im Stil an „Gothic fiction“ erinnernd: Der Dänenkönig Waldemar liebt die schöne Tove und lässt sie auf seine Burg Gurre bringen. Die eifersüchtige Königin Helvig lässt das Mädchen umbringen, worauf der König Gott verflucht und zur Strafe nach seinem eigenen Tod jede Nacht mit seinem Gefolge aus den Gräbern steigen und umherreiten muß.


    1897 erschienen die Gurrelieder in Wien in einem Band „Gedichte von Jens Peter Jacobsen“, übersetzt von R.F.Arnold. Diese Übersetzung Arnolds benutzte Arnold Schönberg als textliche Vorlage für seine „Gurre-Lieder“, durch die dieser Zyklus Jacobsens in den Konzertsälen der Welt berühmt wurde. Schönbergs Vertonung entstand zwischen 1900 und 1902 ein Werk zwischen Liederzyklus und Oratorium mit riesiger Besetzung. Die „Gurrelieder“ sind Schönbergs wichtigster Beitrag zur Musik der Spätromantik. Ihre Uraufführung am 23.2.1913 war der überwältigendste Erfolg in der Laufbahn von Arnold Schönberg.


    1872 Mogens


    Naturalistische Novelle mit symbolistischen Zügen. Die Novelle zeigt einerseits wie Jacobsen in der Tradition von Andersen und Heine steht, andererseits auch moderne, impressionistische Stilmittel. Am bekanntesten ist die Regenwetter-Szene, über die 1902 Rilke in seiner Worpsweder Monographie schrieb: „Mogens wurde aufgeschlagen, und schon war man mitten drin in der frohen, flimmernden, atemlosen Lebendigkeit dieses unvergesslichen Regenschauers.“


    1876 Frau Marie Grubbe


    Historischer Roman mit Episoden-Struktur. Porträt einer Frau, die zuerst mit einem Adligen, zuletzt mit einem Stallknecht verheiratet war.


    1880 Niels Lyhne


    Entwicklungsroman mit absteigender Lebenslinie (wie schon im ersten Roman). Den Bezugsrahmen bilden die Theorien von Darwin und Kierkegaard. Dargestellt werden ausgewählte Abschnitte aus Niels Lyhnes Leben von der Geburt, über die Begegnung mit fünf Frauen (Edele, Tema Boye, Fennimore, Madame Odéro, Gerda), die jeweils eine Entwicklungsstufe im Leben des Helden prägen, bis zu seinem Tod.


    Bengt Algot Sörensen schreibt in seiner Jacobsen Biografie über den Roman: „Die geheime Mitte des Romans ist .... die existentielle Lebensproblematik der Titelfigur – wie in „Mogens“ und wie in „Frau Marie Grubbe“. Den Titelfiguren dieser drei Werke gemeinsam ist denn auch ihre Lebenssehnsucht, die vor allem in der Liebesleidenschaft zum Ausdruck kommt, sich aber auch als naturmystische Einheitssehnsucht äußern kann. Für Jacobsen bestand, ..., kein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Natur um den Menschen und der Natur in dem Menschen. Natur und Psyche waren für ihn unmittelbar verbunden, da sie auf derselben Grundlage ruhten.“.

  • Hallo zusammen,


    Entgegen Luciens Meinung, dass das Buch gegen Ende abbaut, finde ich, dass es eigentlich immer besser wird (ich bin natürlich noch nicht am Ende). Jetzt würde mich mal interessieren, ob das objektiv so ist oder nur mein subjektives Empfinden, vielleicht auch dadurch hervorgerufen, dass ich am Anfang zu schnell gelesen habe.


    Im Thread-Chronik habe ich noch zwei Links zum Leben von Jacobsen und ein paar Informationen zu seinem sonstigen Werk eingestellt. Kennt jemand andere Werke von Jacobsen, z.B. den Roman „Frau Marie Grubbe“?


    Grüße von Hubert

  • hallo Hubert,


    erstmal Danke für deine freundliche Begrüßung; leider schaffe ich es im Moment nicht, mir das kleine Büchlein nochmal zu beschaffen, deshalb kann ich mich nicht mehr ausreichend hineinlesen, um Beispiele anzuführen oder inhaltich ein bisschen besser argumentieren zu können...


    Aber es freut' mich, dass auch du Freude an dem Buch hast... Und wenn es vielleicht gerade die Teile des Buches sind, die mir persönlich eher schwach vorkamen, na dann umso besser.


    Ich denke mein Problem mit dem Ende des Buches bestand in der Zeitraffung. Da wo am Anfang noch ausführliche, interessante Dialoge waren (ich denke an das Gespräch mit Fr. Boye oder auch die Gespräche und die Schilderung von Fennimore) da wird am Ende so schnell und unreflektiert über alles hinweggegangen. Auf wenigen Seiten heiratet er, stirbt seine Frau, zieht er in den Krieg... Ich habe mir beim Lesen gedacht, wie schade, dass doch ist, denn hätte er diesselbe Sorgfalt, die er am Beginn gegenüber seinem Helden hat, bis ans Ende durchgezogen, hätte das wahrlich ein ganz, ganz großer Roman werden können. So kam der Roman über den Status eines Geheimtips unter sensiblen Intellektuellen leider nie hinaus...


    Sonst kenne ich von Jacobsen nur ein paar Erzählungen, z.B. "Die Pest von Bergamo", die ganz annehmbar waren, mehr aber auch nicht...


    Ciao ciao,
    Lucien

  • Hallo Lucien,


    bei meinem letzten Posting war ich ja mit dem 11. Kapitel noch nicht fertig und jetzt nachdem ich das 12. Kapitel zu Ende gelesen habe, verstehe ich was Du mit der Zeitraffung meinst, allerdings beurteile ich es im Moment noch etwas anders als Du.


    Das Gespräch mit Frau Boye war sicher eine Steigerung gegenüber der Edele-Episode und die Fennimore-Episode war nochmals eine Steigerung zu Frau Boye. Fennimore war meiner Meinung nach Niels große Liebe, also auch tatsächlich eine Steigerung gegenüber der kindlichen Schwärmerei für Edele oder der ersten „erotischen“ Erfahrung des Jugendlichen mit der erfahrenden Frau Boye. Zwangsläufig muß ja jetzt nach dem Scheitern der großen Liebe ein Einbruch im Leben Niels kommen und Jacobsen hat dies auch in seiner Erzählweise nachvollziehbar gemacht. Ich finde es einfach genial, dass die kurze, mehr zufällige Begegnung zweier Enttäuschter (Niels und Madame Odéro) von Jacobsen auch nur eher beiläufig (ohne Dialoge) erzählt wird. Es war ja auch im Leben der Beiden eine unbedeutende Episode. Vielleicht ändere ich meine Meinung aber noch beim weiterlesen. Jedenfalls bin ich jetzt sehr gespannt auf die zwei letzten (auch sehr kurzen) Kapitel.


    Die Erzählung „Die Pest von Bergamo“ habe ich jetzt zwischendurch auch gelesen und muss sagen, dass mich selten eine Erzählung so ratlos zurück gelassen hat. Was will Jacobsen uns mit der Erzählung sagen?


    amelie
    Hallo amelie,


    bist Du noch dabei, oder hast Du "Niels Lyhne" schon zu Ende gelesen?


    Ciao Hubert

  • Hallo zusammen


    Karin, Du hattest über das Buch geschrieben:


    Wehmutig, melancholisch, suchend...niemals findend...


    Deinem Urteil kann ich eigentlich voll zustimmen. Interessant, wäre natürlich, darüber zu reden, warum Niels „niemals findet“. Aber wahrscheinlich würde das die Grenzen eines Literaturforums sprengen. Also, Karin, vielen Dank für Deinen Lesetipp. Es hat sich gelohnt. Willst Du nicht mal mit uns zusammen ein Buch lesen?


    Lucien hatte geschrieben:


    Aber auf jeden Fall sehr zu empfehlen (für Rilke-Begeisterte sogar ein "Muss" !).


    Auch Dir, Lucien, kann ich nur zustimmen und möchte Deine Empfehlung sogar noch erweitern: nicht nur für Rilke-Begeisterte, sondern für alle, die sich für deutsche Literatur Ende 19. Jahrh. / Anfang 20. Jahrh. interessieren. Jacobsens Einfluß auf diese Literatur ist nicht zu übersehen:


    - Rilkes „Malte Laurids Brigge“ ist ein Bruder im Geiste von Niels Lyhne, und wetteifert in seinen melancholischen Reflexionen mit diesem Vorbild.

    - Thomas Manns „Tonio Kröger“ ist ebenfalls ein geistiger Nachfahre von Niels Lyhne. Seine Freundschaft zu Hans Hansen entspricht exakt der Freundschaft zwischen Niels und Erik. (Bei Jacobsen heißt es z.B. „Was Niels aber meistens zu diesem lieblosen Treiben veranlasste, war Eifersucht, denn schon seit dem ersten Tage liebte er Erik, ..“ und bei Thomas Mann: „Die Sache war die, dass Tonio Hans Hansen liebte und schon viel um ihn gelitten hatte.)

    - Und wenn Jacobsen seinen Erzähler im 11. Kapitel ausrufen lässt: „Arme Fennimore!“, so erinnert das nicht nur zufällig an Fontane der 15 Jahre nach Jacobsen seinen Erzähler mitfühlend das Geschehen mit „Arme Effi“ kommentieren lässt. ..

    Grüße von Hubert



  • Hallo ihr lieben!
    Sry, dass ich so lange nichts von mir habe hören lassen, aber in letzter zeit ist so viel passiert, dass ich einfach nicht zum schreiben(und lesen) kam.ich habe jtzt angefangen zu studieren und deshalbhabe ich mich erstmal auf die einführung und orientierung in der uni konzentriert und bin noch dabei.
    wollte euch nur mitteilen, dass ich euch nicht vergessen habe!


    lg, amelie

    Two roads diverged in a wood and I -
    <br />I took the one less travelled by
    <br />and that has made all the difference.

  • hallo amelie,


    wenn es deine Zeit erlaubt, dann schreib' uns doch ruhig noch ein paar Zeilen wie Dir das Buch gefallen hat...


    ansonsten gutes Gelingen für dein Studium,
    Grüße,
    Lucien