Am Ende der Eselsgeschichte. :winken:
Christoph Martin Wieland: Geschichte der Abderiten
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Ich finde die Eselsgeschichte ja genial. Wie sich hier eine simple Auseinandersetzung zwischen zwei sturen Hammeln in eine Staatskrise verwandelt ... Ausserdem sind da ein paar ganz schöne juristische Finessen drin versteckt, da merkt man noch das Jurastudium, das Wieland mal begonnen hatte. Und man merkt, warum er es abgebrochen hat. :breitgrins:
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Habe jetzt mit dem Froschkapitel begonnen.
Das mit den juristischen Finessen ist mir auch aufgefallen, ohne dass ich sie benennen könnte. Es geht ja unter anderem um den Eigentumsbegriff, was kann eigentlich Eigentum sein und was nicht, was ist Gemeingut. Polyphonus, der Sykophant des Eseltreibers, wirft dann auch noch Aspekte des Tierschutzes in die Debatte. Und alles das in diesem lächerlichen Zusammenhang!
Polyphonus' Argumentation fand ich übrigens nicht inhaltlich, sondern sprachlich deutlich schwieriger nachzuvollziehen.
Im Froschbuch fällt mir das Lesen wieder leichter, und wenn man am Ende des Eselschattenbuches dachte, die Abderiten hätten doch Ansätze von Einsicht und Selbstironie, wird man hier wieder eines Besseren belehrt. Einen ganzen Fluss abzugraben, um Froschteiche und -gräben zu wässern, das ist schon eine gargantueske Leistung! -
Weiterhin befinde ich mich im Froschbuch. Der dümmlich-vergeistigte Oberpriester Stilbon befindet sich beim Archon, um gegen jegliche Maßnahmen zur Froschreduktion zu protestieren. Gekonnt politisch argumentiert der Archon: eine feine Mischung aus gesundem Menschenverstand und Drohung, dass es noch andere Tempel außer dem der Latona gebe.
Aber seine größte Sorge ist doch, dass er Stilbons Buch lesen müsste: Immer wieder mischt Wieland den ganz normalen Wahnsinn verquerer Alltagspolitik mit dem Gequase echten Abderitentums. -
Immer wieder mischt Wieland den ganz normalen Wahnsinn verquerer Alltagspolitik mit dem Gequase echten Abderitentums.
Ja. Und seine Kunst ist es, dass wir oft das eine kaum vom andern unterscheiden können ... :breitgrins:
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Einen ganzen Fluss abzugraben, um Froschteiche und -gräben zu wässern, das ist schon eine gargantueske Leistung!Es ist vor allem eine Leistung einseitiger, rein instrumenteller Rationalität - und ich denke, dass es Wieland darauf ankam, das ausschließlich zweckrationale, den Geist und die Seele vernachlässigende Denken des Bürgertums zu demaskieren. Die "Fehlleistungen" der Abderiten entspringen dem immer wieder betonten Defizit im Hinblick auf ästhetische Bildung und - damit verbunden - logischem Urteilsvermögen. Das ist schon ein rasanter Ansatz, der sich gegen das naive enzyklopädische Bemühen der französischen Aufklärer um Diderot und Voltaire richtet.
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Nun habe ich auch die Abderiten ausgelesen und mich im Froschbuch noch einmal köstlich amüsiert. Leider ist das Ende dann recht abgehackt; Laut Nachwort hatte Wieland dann nach sechs Jahren einfach keine Lust mehr.
Da ich im Moment eine (schlecht geschriebene) Wieland-Biografie von Jutta Hecker lese, habe ich noch eine interessante Information zur Theaterkritik im dritten Buch. Hecker stellt die Szene im dritten Kapitel, wo es um ein Stück geht,
worin der Held gleich in der ersten Szene des ersten Aktes seinen Vater ermordet, im zweiten seine leibliche Schwester heiratet, im dritten entdeckt, dass er sie mit seiner Mutter gezeugt hatte, im vierten sich selber Ohren und Nase abschneidet, und im fünften, nachdem er die Mutter vergiftet und die Schwester erdrosselt, von den Furien unter Blitz und Donner in die Hölle geholt wird -
in den Zusammenhang mit einem Theatererlebnis Wielands. Dieser wurde - Jahre nachdem Goethe seine despektierliche Satire "Götter, Helden und Wieland" geschrieben und die beiden in Weimar Freunde geworden waren - zu einem Fest auf Schloss Ettersberg bei Weimar eingeladen, wo in einer Aufführung er selbst und seine "Alceste", auf die sich auch Goethes Satire bezieht, lächerlich gemacht wurden. Wieland zog sich nur scheinbar versöhnt zurück und schrieb danach - laut Hecker - die obige Szene für die Abderiten, um sich über die Stürmer und Dränger unter seinen Kritikern lustig zu machen.
Inwiefern hier ein wirklicher Zusammenhang besteht oder nur von der Autorin hergestellt wurde, sei allerdings dahingestellt.
Interessant fand ich noch das Nachwort, den "Schlüssel" zu den Abderiten, worin Wieland, konkrete Anspielungen ablehnend - doch ganz raffiniert die ganze Welt mit dem Abderitentum verbindet.Insgesamt eine lohnende Lektüre, die ich vielleicht einfach nicht so recht zu würdigen wusste, weil ich mir nicht genug Muße für sie nahm.
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So, ich bin unterdessen auch fertig. Mein Fazit:
Dank dieses Romans wurde der Begriff "Abderit" zu einem Synonym von "Schildbürger" oder "Lalenburger". In fünf sog. "Büchern" schildert Wieland die Geschichte der Abderiten, seit ihrer (fiktiv-mythischen) Abspaltung von Athen bis zur Auflösung des griechischen Stadt-Staates. Heutige Verlage würden dieses Werk Wielands als Pentalogie verkaufen, als Reihe oder Serie, denn die fünf Bücher zeichnet keineswegs eine durchgehende Handlung aus. Die Einheit liegt vor allem im Ort, die Personen und Themen wechseln.
In den ersten beiden Büchern reiht Wieland im Grunde genommen nur Anekdote an Anekdote, Schildbürgerstreich an Schildbürgerstreich. Zusammengehalten werden die beiden Bücher durch die Figur des Demokrit - des einzigen vernünftigen und deshalb aussen stehenden Mannes in Abdera, durch dessen Augen im Grunde genommen auch der Erzähler blickt, auch wenn nicht in der Ich-Form erzählt wird. Demokrit wie Abdera sind historisch belegt, ebenso, dass Demokrit aus Abdera stammte, was er auch in der <em>Geschichte der Abderiten</em> tut. Ansonsten ist recht wenig Historisches zu finden. Wielands Bild von Demokrit hat mit dem vorsokratischen Philosophen kaum etwas zu tun - oft widerspricht Wieland geradezu dem historischen Demokrit, so, wenn er nicht glauben kann und will, dass der eine atomistische Weltlehre vertreten habe. (Der Atomismus widersprach der zu Wielands Zeit gültigen wissenschaftlichen Lehre, weshalb sich Wieland nicht vorstellen konnte, dass Demokrit einen solchen Unsinn vertreten haben sollte.)
Demokrit ist für Wieland im Grunde genommen einfach der Weltbürger - er spricht im Zusammenhang mit dem Besuch des Hippokrates (ein weiterer griechischer Denker, den Wieland keineswegs historisch korrekt darstellt) davon, dass die beiden, Demokrit und Hippokrates, dem "uralten Orden der Kosmopoliten" angehören. Mich dünkt, hier scheine tatsächlich auch Persönliches durch. Man hat ja immer wieder versucht, die Geschichte der Abderiten mit persönlichen Erlebnissen Wielands in Übereinstimmung zu bringen. Abdera soll mit Biberach zu identifizieren sein, aber auch mit Weimar. Es ist wohl tatsächlich so, dass Wieland etwas freier, etwas aufgeklärter dachte, als die meisten um ihn herum, und dass er deswegen, ähnlich wie sein Demokrit, hin und wieder aneckte. Nur so kann ich mir die kurz auftauchende schwarze Begleiterin Demokrits erklären. Diese junge Schwarze, die er von seinen Reisen zurück nach Abdera mitgebracht hat: Ist sie seine Haushälterin und/oder seine Geliebte? Die Abderiten zerreissen sich das Maul - allerdings nicht lange; sehr rasch verschwindet die junge Frau aus dem Gesichtskreis von Leser und Erzähler. Da könnte ich mir durchaus eine gewissen Parallele vorstellen zu jener Liebesgeschichte mit einer katholischen (schwarzen!) Biberacherin, der er sogar ein Kind machte, die er aber wegen der Biberacher Maulzerreisser nicht heiraten durfte, und die er dann mitsamt Kind aus den Augen verloren hat. Wieland muss sich zeitweise durchaus gefühlt haben wie sein Demokrit unter Abderiten.
Im dritten Buch ändert Wieland dann seine Erzähltaktik. Nunmehr wird das ganze Buch ein und demselben Thema gewidmet. Es geht ums abderitische Theater, um die Intrigen, die vor, während und nach einer Aufführung ablaufen, darum, welch merkwürdige Ansichten die Aberiten von einem "guten" Drama haben. Wieland hat hier wohl seine Erlebnisse rund um die Aufführung einer Operette von ihm in Mannheim verarbeitet, ist aber weit darüber hinausgegangen. Dieses Buch ist auch heute noch "gültig", mit seiner satirischen Schilderung des "modernen" Kunstbetriebs und der vermeintlichen Kunstkenner.
Überhaupt bleibt Weiland nun dabei, seine weiteren Bücher einem einzigen Thema unterzuordnen. Buch 4 schildert so den berühmten Prozess um des Esels Schatten. Auch da mag manch eine Erfahrung des Biberacher Kanzleiverwalters eingearbeitet worden sein. Wie ein simpler Prozess zweier rechthaberischer Sturköpfe beinahe die ganze Stadt ruiniert, und wie zum Schluss der einzige in Tat und Wahrheit nicht Beteiligte dem Mob geopfert wird (nämlich der Esel selber), ist in geschickten Steigerungen angelegt und spannend geschildert. (Komposition ansonsten nicht unbedingt Wielands Stärke.)
Noch besser, meines Gutdünkens, dann das fünfte und letzte Buch. Es ist der Abgesang auf Abdera: Demokrit - nachdem er schon in Buch 4 nur noch eine marginale Rolle spielte - ist schon lange weggezogen und verstorben. Tot sind auch die übrigen abderitischen Protagonisten der ersten vier Bücher. Die Generation ihrer Enkel ist allerdings keineswegs klüger geworden. Im Gegenteil. Auf Abdera kommt eine neue Zerreissprobe zu - diesmal in Form einer übertriebenen Verehrung der Göttin und Stadtpatronin Latona, der zu Ehren ausgerechnet überall Froschteiche angelegt werden. Abdera versumpft im wahrsten Sinn des Wortes. Jeder Versuch der zwei oder drei halbwegs vernünftigen Abderiten, dem abzuhelfen, bleibt im Gezänk der einander befehdenden theologischen Parteien stecken. Schliesslich bleibt den Abderiten nichts mehr übrig, als die unterdessen unbewohnbar gewordene Gegend für immer zu verlassen. In der Fremde scheint sich ihre Absonderlichkeit zu verlieren - wir hören nichts mehr von ihnen und die <em>Geschichte der Abderiten</em> hat ein Ende.
Heute ist dieser Text der wohl bekannteste Wielands. Er ist ja auch Wieland in nuce. Der aufgeklärte Kosmpolit, der mit milder Satire und Ironie die Schwächen der Menschen pinselt, entspricht sehr wohl Wielands schriftstellerischem Temperament. Die kompositorischen Schwächen ebenfalls: Aus einer Sammlung von Anekdoten werden grössere, zusammenhängende Stücke, Demokrit - mit grossem Trara eingeführt - verliert zusehends an Wichtigkeit, Figuren wie die junge Schwarze verlieren sich einfach so. Als Einführung in Wieland, in die sanfte Aufklärung deutscher Provenienz ist der Roman perfekt geeignet. Man sollte aber Weiteres von Wieland lesen. Was ich bei Gelegenheit mal wieder tun werde.
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Danke für deine ausführliche Stellungnahme, sandhofer!
Einiges haben davon haben wir ja oben schon im Dialog angerissen.
Nach der Lektüre von Wielands Biografie kann ich deinen Hinweisen auf die Beziehungen zwischen Wielands eigenen Erfahrungen und der Romanhandlung meist zustimmen. Den Zusammenhang zwischen der dunklen Hautfarbe von Demokrits Liebchen und Wielands katholischer "Bibi" sehe ich nicht so ganz: Das hängt auch davon ab, wie lange die Farbe Schwarz allgemein und insbesondere in Deutschland schon mit dem Katholizismus verbunden wird.
Zu biografischen Bezügen im Theaterkapitel habe ich bezugnehmend auf die Biografie ja schon oben Stellung genommen.
Weiteres von Wieland zu lesen kann ich mir auch vorstellen: Als Ebook habe ich noch "Musarion" und "Der goldene Spiegel": Vielleicht könnte man im weiteren Verlauf dieses Jubiläumsjahres gerne auch noch einen anderen Wieland in einer Leserunde gemeinsam erkunden. -
Als Ebook habe ich noch "Musarion" und "Der goldene Spiegel": Vielleicht könnte man im weiteren Verlauf dieses Jubiläumsjahres gerne auch noch einen anderen Wieland in einer Leserunde gemeinsam erkunden.
Gerne, ja. :winken: