Charles Dickens: Bleak House

  • Hallo,


    hiermit richte ich die Leserunde zu dem Dickens-Roman ein, der von 1852 bis 1853 erschien.


    "[...] eine grimmige Abrechnung mit den Wertvorstellungen einer auf materiellen Zuwachs orientierten Gesellschaft [...]. (Johann N. Schmidt: Dickens /Rowohlts Bildmonografien)


    Das passt doch nicht nur zum Dickens-Jahr, sondern auch zu unseren Zeiten!


    Für die Leserunde haben sich angemeldet:


    JMaria
    klaus
    Librerio
    Gisbert Damaschke als Vorbeischauer
    Sir Thomas
    Steffi
    finsbury


    Ich wünsche uns eine schöne Zeit im nebligen London.


    Auf geht's!

  • Hallo,


    die ersten drei Kapitel habe ich nun hinter mir.


    Aber zunächst mal zur Ausgabe und Übersetzung: Ich lese die Meyrink-Übersetzung in der sechsbändigen Ausgabe von Manuscriptum/Zweitausendeins von 2003. Leider hat diese Ausgabe keine Anmerkungen und es fällt mir sehr schwer, diese ganzen juristischen Anspielungen nachzuvollziehen.
    Deshalb habe ich für den Materialthread ein paar Links zusammengesucht, die hier helfen können, die ich aber bisher nur angelesen habe.


    Wie beginnt's? In meiner Ausgabe zunächst mit einem Vorwort Dickens' zur Ausgabe von 1853, in dem sich Dickens gegen Angriffe aus der Rechtskaste verteidigt, die wohl über ihre Darstellung in dem Roman "not amused" war, was man schon nach der Lektüre der ersten Seiten gut verstehen kann.


    Das erste Kapitel beginnt mit der von Librerio schon im Vorschlagsthread zitierten Nebelszene, die zunächst vom Sitz des Lordkanzlers aus den Nebel über ganz London und Umgebung wachsen lässt und dann dorthin zurückkehrt, um die Irrwege, Verzerrungen und absichtlichen Verschleppungen der Justiz in Zivilprozessen zu symbolisieren.


    Das ganze erste und auch zweite Kapitel sind bissige und spöttische Blicke auf Justiz und feine Gesellschaft, die sich jeweils nur um ihre eigenen Interessen kümmern und sorgfältig vermeiden, mit denen anderer Personen in Kontakt zu kommen.


    Das dritte Kapitel wiederum ist ein konventionelles Melodram um Esther Summits, einem armen, wohl unehelichen Mündel, das bei einer typisch dickensschen bigotten und hartherzigen Patin aufwächst und später als Gesellschafterin einer jungen Dame in das Haus eines wohl in den Prozess "Jarndyce gegen Jarndyce" verwickelten älteren Mr. Jarndyce aufgenommen wird.


    Mir scheint nach diesen drei Kapiteln, dass dieser Roman genügend Satire, Sprachwitz, köstliche Personenzeichnung und leider auch Aktualität besitzt, um mich über den schmalzigen Dickens hinwegsehen zu lassen.


    finsbury


  • Leider hat diese Ausgabe keine Anmerkungen und es fällt mir sehr schwer, diese ganzen juristischen Anspielungen nachzuvollziehen.


    Die Übersetzung von Richard Zoozmann (Rütten & Loening, 1990) hat zwar Anmerkungen, aber nur minimalst - für den ersten Band (bis Kapitel 31) mit seinen rund 600 Seiten sind das gerade mal 2,5 Seiten - und zu den juristischen Themen so gut wie überhaupt keine. (Band 2, ebenfalls 600 Seiten, hat sogar nur 1 knappe Seite mit Anmerkungen.)


    Für die ersten drei Kapitel gibt es genau 2 Erläuterung, die etwa mit der Justiz zu tun haben und die sich auf den ersten Satz des Romans beziehen:


    Michaelstag - Nach dem Michaelstag, am 29. September, beginnt in England eine der Sitzungsperioden des Obersten Gerichts.


    Lincoln's Inn Hall - Versammlungssaal der Lincoln's Inn, eine der vier Schulen (Inns of Court), in denen die Rechtsanwälte für die Obergerichte Englands ausgebildet werden.


    Ich denke nicht, dass man die juristischen Anspielungen wirklich alle nachvollziehen können muss, sondern diesen ganzen Justiz-Komplex vielmehr als etwas bedrohlich Unverständliches begreifen kann (fast schon wie bei Kafka ;-)), das verstehen zu wollen ohnehin nur auf Abwege und in den Untergang führt.


    Das wird, wenn ich mich da richtig erinnere, später auch noch explizit thematisiert.

  • Zoozmann verzichtet auf juristische Spezialbegriffe mitunter oder übersetzt sie:


    M: „… ein paar Dutzend Mitglieder des Barreaus, des hohen Kanzleigerichts …“
    Z: „… ein paar Dutzend Beisitzer des Obersten Kanzleigerichts …“


    M: „… die verschiedenen Solizitoren …“
    Z: „… die verschiedenen Rechtsbeistände … “


    M: „… Tisch des Registrators …“
    Z: „…Tisch des Protokollführers …“


    etc.


  • Danke für die Anmerkungen, Giesbert. Damit macht es einem Zoozmann in der Tat einfacher, wenn ich auch die Übersetzung Meyrinks ansonsten als durchaus sprachmächtig ansehen würde.
    Wenn man sich den Unterschied zwischen Barrister und Solicitor klarmacht, dann wird einem schon das Kafkaeske an dem englischen Rechtssystem, zumal es zu Zeiten des Romans war, ein bisschen einleuchtender. "Viele Köche verderben den Brei" und wollen natürlich - bei unterschiedlichen Interessen - alle daran verdienen.


    finsbury

  • Ich muss leider passen. Da ich derzeit viel unterwegs bin, finde ich nur selten Zeit für konzentriertes Lesen. Sorry, aber das passiert, wenn man sich im Frühjahr auf ein Herbstereignis festlegt.


    Viel Spaß mit Dickens!


    Tom

  • Hallo Tom,

    sehr schade. Aber gerade bei so umfangreichen Romanen wollen viele auch nicht spontan mitlesen. Ich habe irgendwie den Eindruck, dass Dickens im Allgemeinen hier im Klassikerforum nicht so gut ankommt.
    Dennoch, dann lesen wir eben zu wenigen.


    Jedenfalls habe ich bis heute Abend noch nicht weiterlesen können, weil auch ich erst noch ein anderes Buch beenden musste, lese aber ab heute Abend später weiter.
    giesbert, ich freue mich, dass du entgegen deiner Einlassung im Vorschlagsthread anscheinend doch richtig mitliest.


    finsbury

  • Ich hab jetzt die ersten fünf Kapitel gelesen und bin sehr angetan. Die Plotkonstruktion scheint mir so auf Anhieb ziemlich makellos zu sein. Ich lese den Roman jetzt zum zweiten Mal, die erste Lektüre liegt einige Jahre zurück, aber zwischenzeitlich habe ich auch mal die großartige BBC-Verfilmung gesehen, so dass jetzt bei der Wiederlektüre einige Erinnerungen wach werden und ich so ungefähr weiß, worauf das ganze hinausläuft: Und da bemerke ich eine Fülle von Motivketten und bin erstaunt, wie beiläufig Dickens hier in der Exposition des Romans bereits seine Fährten legt, Zusammenhänge andeutet und zentrale Stichwörter fallen lässt. All das bemerkt man bei der ersten Lektüre nicht - und kann es natürlich auch nicht bemerken -, aber das Netz, in dem einen der sich entfaltende Plot allmählich fängt, wird praktisch sofort geknüpft.


    IIRC gewinnt selbst das, was in den ersten Kapitel nur beiläufig erwähnt wird, im Laufe des Roman Bedeutung, zum Teil sind es die Pflöcke, an denen das Zentrum des Romans befestigt wird.


    Das Bild des über allem liegenden Nebels, die zerstörerische Allmacht des Justizapparats, die Spiegelung "reales Kanzleigericht" - "Lumpenkanzleigereicht" etc -- das ist alles schon ziemlich großartig. Der Roman ist nicht so dick, weil Dickens ein Schwafelkopf war, der die Tinte nicht halten konnte, sondern weil es der Plot so will: Bleak House kann schlechterdings kaum dünner sein. Vermutlich ließe sich das ein oder andere etwas weniger breit ausmalen, aber wirklich weglassen lässt sich kaum etwa.


    Ich bin mal neugierig, ob meine Freude über diesen Roman wirklich 1200 Seiten lang anhält 8-)

  • Ehrlicherweise muss ich vorausschicken, dass ich die Dickens-Leserunde schon fast vergessen hatte. Aber beim kurzen Reinlesen hat mir die Geschichte sogleich gefallen und habe nun schon 7 Kapitel gelesen.


    Zum einen gefällt mir, dass Dickens eine weibliche Ich-Erzählerin Teile erzählen lässt, umso mehr kann dadruch der zweite Erzähler durch Ironie glänzen ! Die typischen Dickensfiguren, z.B. der Lumpensammler (aus den Lumpen wird dann das Gerichtspapier, nette Idee !) oder auch Skimpole, von dem ich gespannt bin, was er noch so alles anstellt.



    Der Roman ist nicht so dick, weil Dickens ein Schwafelkopf war, der die Tinte nicht halten konnte, sondern weil es der Plot so will: Bleak House kann schlechterdings kaum dünner sein. Vermutlich ließe sich das ein oder andere etwas weniger breit ausmalen, aber wirklich weglassen lässt sich kaum etwa.


    Fein, da können wir uns ja noch auf etliches freuen ! Ein paar Hinweise gibt es ja schon, zum einen die Herkunft Esthers, die ja anscheinend bei ihrer Tante aufgewachsen ist, wohl da sie ein uneheliches Kind ist. Guppy sieht eine Ähnlichkeit in dem Portrait Lady Dedlocks, also vermute ich mal, sie könnte die Mutter sein. Dann stellt sich die Frage nach Jarndyce gegen Jarndyce - ich bin gespannt, wer auf welcher Jarndyce-Seite steht und natürlich, ob jemals heruaszufinden ist, um was es bei diesem Prozess eigentlich geht, ein Erbschaftsstreit ?

  • Hallo,


    schön, dass die Diskussion hier munterer wird!
    IHr beiden, Steffi und Giesbert, habt mich inzwischen überlesen: Ich befinde mich noch mitten im 5. Kapitel.Dass aber die alte Frau uns noch in die Abgründe des Jarndyce-Prozesses führen wird, scheint mir schon klar. Eure anderen Anspielungen werde ich noch lernen zu verstehen.
    Sollte Lady Dedlock Esthers Mutter sein, gibt es doch interessante Parallelen zu Doderers Dämonen mit Quapp und ihrer gräflichen Mutter, die auch so hohl und standesfixiert ist. Lustig, wie sich manchmal solche Bezüge herstellen ... .
    Herrlich ist ja auch das Kapitel 4 mit Mrs. Jellyby, die ihre eigenen Kinder verkommen lässt, um ihrem - sehr zweifelhaften - Fern-Altruismus zu fröhnen.
    Ich bemühe mich, ein wenig schneller zu lesen, habe aber unter der Woche nur wenig Gelegenheit dazu.


    finsbury


  • Zum einen gefällt mir, dass Dickens eine weibliche Ich-Erzählerin Teile erzählen lässt, umso mehr kann dadruch der zweite Erzähler durch Ironie glänzen !


    Das macht er ungeheuer geschickt.


    Erzähler: ironischer alles überblickender Geist im Präsenz - der allerdings nur eine Außenßerspektive beibehält und uns nicht verrät, was die Personen denken.


    Esther = klassischer Ich-Erzähler, erzählt in der Verangenheitsform - und gewährt uns die Innen-Perspektive.


    IMHO ist nicht nur der Erzähler ironisch, sondern Esther auch. Irgendwie ;-). Als scharfe Beobachterin gewinnen ihre imho nur scheinbar navien Schilderungen der bigotten Frömmelei einer Mrs. Jellyby oder eines skrupellosen Schmarotzers wie Skimpole mitunter eine ziemlich satirische Schärfe.

  • Hallo,


    inzwischen seid ihr E-Book-Leser mir bestimmt schon weiter davon galoppiert, immerhin bin ich jetzt im 9. Kapitel und verstehe nun deine Anmerkungen, Steffi. Z.B: bezüglich des Bildes der Gräfin.



    Ja, auf jeden Fall ist Esther eine erstaunlich ironische und freundlich-distanzierte Erzählerin. Nach dem 3. Kapitel dachte ich schon, sie übernehme die Taschentuchrolle, die es oft bei Dickens gerade in Bezug auf junge Frauen ja gibt, aber nein, sie ist eine sehr selbstständige junge Frau, der man ihren speziellen Blick durchaus abnimmt.


    Übrigens finde ich Mr. Jarndyces Ablehnung rührseliger Situationen ganz interessant, wenn man daran denkt, dass Dickens solche Elemente doch gerne benutzte, um ein breites Publikum zu erreichen. Vielleicht ironisiert er sich hier selbst ein bisschen.


    finsbury


  • inzwischen seid ihr E-Book-Leser mir bestimmt schon weiter davon galoppiert


    ich bin kaum zum Lesen gekommen: Kapitel 14.


    Ich spoiler mal ein ganz klein wenig, gegen Ende von Kapitel 13:


    Zitat

    So jung, so schön, so hoffnungsfreudig gingen sie leichten Schrittes dahin durch die Sonnenstreifen, wie ihre eignen glücklichen Gedanken jetzt vielleicht über die Jahre der Zukunft hinschweiften und sie zu Jahren der Freude machten. Dann traten sie in den Schatten und verschwanden.


    Ich fürchte, mit den beiden nimmt es kein gutes Ende.


    Da Dickens ja schon im Vorwort ausplaudert, dass Krook an "spontaner Selbstentzündung" stirbt, kann ich auch kurz auf seinen ersten Auftritt hinweisen:


    Zitat

    Er war klein, leichenhaft und verwittert; der Kopf stak ihm schief zwischen den Schultern, und wie der Atem als sichtbarer Dampf aus seinem Munde kam, sah der Mann aus, als ob er innwendig brenne.


    Das sind so die kleinen Nebensächlichkeiten, mit denen Dickens gleich zu Beginn einen Motivfaden knüpft.

  • Ach, ein nettes Detail habe ich da noch.


    Gleich im ersten Absatz lässt Dickens einen Megalosaurus auftreten:


    Zitat

    … und es gar nichts Wunderbares wäre, wenn man einen vierzig Fuß langen Megalosaurus begegnete, wie er gerade … Holborn Hill hinaufwatschelte.


    Dazu hat das "Dickens Dictionary" von John Sutherland einen eigenen Eintrag, der uns darüber informiert, dass zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung (März 1852) die "Great Exhibition" in London erst wenige Monate (Mai bis Oktober 1851) zurücklag, bei der man auch Zement-Modelle von Dinosauriern sehen und Dickens davon ausgehen konnte, dass seinen Lesern diese Ausstellung noch gut in Erinnerung war. Die Zement-Modelle sind dann 1854 Sydenham Park im Süden Londons aufgestellt worden:


    Zitat

    So while Bleak House was in serial publication, a megalosaurus really was wandering across the capital.

  • giesbert: Ich liebe solche Details !! Leider fallen sie einem beim ersten Lesen ja kaum auf, bzw. ich vergesse dann schon wieder manches, wie z.B. die "Selbstentzündung". Daher gerne mehr davon !


    Ich komme zum 14. Kapitel. Sehr gut gefällt mir, neben den vielen, interessanten Personen, die Beschreibung der einzelnen Orte. London, so rußig und schmutzig, Bleakhouse (entworfen nach Dickens Haus in Broadstairs) und Chesney Wold ( Rockingham Castle in Leicestershire), diese Orte entfalten so viel Persönlichkeit, ein ganz besonderes Flair und starke Präsent, und üben natürlich auch auf die Bewohner und Besucher einen besonderen Einfluss aus.


  • Ich spoiler mal ein ganz klein wenig, gegen Ende von Kapitel 13:



    Ich fürchte, mit den beiden nimmt es kein gutes Ende.


    Darauf deutet ja auch hin, dass Richard sich als recht lebensuntüchtig herausstellt. Ihm ist es eigentlich egal, welchen Beruf er ergreift, das, was ihm über den Weg läuft, wird schon richtig sein.


    Ich bin jetzt im 15. Kapitel. Immer mehr Menschen werden als Opfer der Willkür des Kanzleigerichtes eingeführt und man ahnt bei einigen Verbindungen zu den Hauptpersonen. Wenn Lady Dedlock eine mögliche Mutter Esthers sein könnte, so scheint der unbekannte Tote, "Nemo", den Mr. Tulkinhorn im 10. Kapitel auffindet, vielleicht ihr Vater zu sein, so deuten die Reaktionen der Lady zumindest an.