Barthold Heinrich Brockes

  • Hallo zusammen!


    Brockes kennt man heute ja praktisch nur noch aus Arno Schmidts Radio-Essay. (Einer jener Essays übrigens, dessen Lese-Empfehlung ich teilen kann.) Persönlich kannte ich Brockes ja schon vor Arno Schmidt. Aber die Auswahl aus dem "Irdischen Vergnügen in Gott" bei Reclam ist nun wirklich zu wenig, und so freue ich mich darüber, dass der Wallstein-Verlag offenbar eine Werkausgabe herausgibt.


    Hier ein paar Impressionen.


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    (Wie überhaupt bei Wallstein ein paar Perlen zu finden sind. Nein, ich habe keine Aktien dort ...)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo Sandhofer,


    meinen ersten Zugang zu Barthold Heinrich Brockes (1680-1747) gewann ich über die Musikgeschichte.


    Georg Friedrich Händel hatte mehrere seiner Naturgedichte aus dem "Irdischen Vergnügen in Gott" in deutschen Arien vertont, die ich mir Anfang der 1970er Jahre auf einer Schallplatten-Aufnahme zulegte; später, als der Plattenspieler kaputt ging, war es eine CD.


    Das Muster war in all diesen Gedichten und Arien das Gleiche: Die Vielfalt der belebten Natur beweist die Güte und Vollkommenheit des Schöpfers. Da gibt es eine Arie über das Zittern der spielenden Wellen und ein, wie ich finde, wunderschönes Lied über die Abendstille.


    Brockes übersetzte das zu seiner Zeit überaus populäre Blankvers-Poem "The Seasons" (1726-1730) des schottischen Geistlichen James Thomson (1700-1748), mit Wirkungen auf Rousseau, Lessing und Wieland, ins Deutsche; in Malerei wurde es umgesetzt von Gainsborough, in dem das Erhabene und Schreckliche in der Natur gepriesen wird. Der Held meines Nicknames, Nikolaj Karamzin, übertrug die "Jahreszeiten" Thomsons schon 18/19jährig ins Russische, allerdings direkt aus dem Englischen, das er als einer von wenigen Russen beherrschte.


    Ich habe hier eine zweisprachige, kommentierte Ausgabe liegen, bei der ich allerdings blättern muss, da das englischsprachige Original hinter der deutschen Übersetzung abgedruckt ist:
    Wolfgang Schlüter: James Thomson Die Jahreszeiten. The Seasons. Weil am Rhein/Basel 2003.


    (In der DDR lernten wir Englisch mit wenig Hoffnung, bald mal auf einen lebenden Engländer oder Amerikaner zu stoßen. Wenn man den Klang hören wollte, hörte man sich heimlich einen Gottesdienst der britischen Streitkräfte an. Ich habe aber nie verstanden, wieso Englisch eine "leichte Sprache" sein soll, nur weil sie dem Deutschen verwandt sei. Die Engländer haben z. B. ein ganz anderes Zeitgefühl. Russisch war für mich leichter zu erlernen als Englisch - und ich benötige hier bei Thomson eben eine zweisprachige Ausgabe, um die Feinheiten mitzubekommen.)



    Arno Schmidts "Nachrichten von Büchern und Menschen", in denen Brockes am Beginn vorgenommen wird, habe ich erst später in die Hand genommen. Das Hauptverdienst bestand sicher darin, auf halb oder gänzlich vergessene Autoren aufmerksam gemacht zu haben, und ich gestehe, mich ziemlich amüsiert zu haben über Schmidts Schilderung der veränderten Wirkung des ebenfalls in Hamburg Verse schmiedenden Klopstock. Man hatte den "Messias" Klopstocks in der Öffentlichkeit, bei Lesungen in Salons, nur mit gehöriger Andacht vor der Erhabenheit dieses Kunstwerks aufzunehmen, so gebot es die empfindsame Konvention. Nur in Privatbriefen und hinter vorgehaltener Hand konnte man mitteilen, was das für ein ermüdender Schrott sei. Klopstock merkte nicht mehr bei seinen zahlreichen Überarbeitungen des "Messias", dass er sich selbst überlebt hatte. Für Brockes mochte das auch zutreffen, nur war er da bereits verstorben.
    Ich gestehe, dass ich beim "Messias" auch kapituliert habe. Die durch den Kosmos rauschenden alttestamentarischen Engel konnten mich nicht begeistern.


    Für Brockes trifft das allerdings nicht zu! Da versenkte ich mich gern in die liebevoll ausgemalten Details.


    Ob jemand Zugang zu Brockes findet, der gewohnt ist, Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts zu konsumieren?


    Und nun bin ich ebenfalls gespannt auf die neue Ausgabe des schröcklichen Bethlehemitischen Kindermordes und anderer Schriften im Wallstein Verlag, dessen gediegene Ausgaben sehr zu schätzen sind.

  • Ob jemand Zugang zu Brockes findet, der gewohnt ist, Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts zu konsumieren?


    Eigentlich sollte - zumindest, was das Irdische Vergnügen betrifft - das postmoderne 21. Jahrhundert dazu wieder in der Lage sein. :winken:

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  • Hallo Sandhofer,


    bisher habe ich noch nicht die neue Brockes-Ausgabe aus dem Wallstein Verlag einsehen können.


    Was mich im Zusammenhang mit dem "Bethlehemitischen Kindermord" beschäftigen würde und wozu eventuell in den Begleittexten von Jürgen Rathje schon etwas gesagt wird:


    Brockes und Hermann Samuel Reimarus lebten als Zeitgenossen in Hamburg zusammen und waren auch befreundet. Reimarus wagte es nicht zu Lebzeiten, seine religionskritischen Fragmente herauszugeben. Das geschah erst durch Lessing, der ihn nicht mehr persönlich kannte, und der "Fragmentenstreit" wurde heftig, nicht ohne Angriffe auf Lessing, ausgetragen.


    Es fällt nun auf, dass sich Reimarus vor allem die Wundergeschichten des Alten Testaments kritisch vornahm und dann hinsichtlich der Berichte des NT versuchte , das Leben des historischen Jesus von seiner Vergöttlichung nach seinem Tod zu trennen und damit die von den damaligen Theologen vertretene Offenbarungslehre auszuheben. Passt dennoch alles stimmig zusammen?


    Wenn man sich den Artikel zum Bethlehemitischen Kindermord, etwa bei Wikipedia, anschaut, so kann man zwar nachlesen, dass die Forscher, die Bibelforschung "von innen", innerhalb der Kirchen, betreiben, wahnsinnige Opferzahlen von 144.000 bis 14.000 nach unten heruntergerechnet haben, auf vielleicht 6 bis 20 Kinder.
    http://de.wikipedia.org/wiki/Kindermord_in_Betlehem


    Aber außer der Stelle in Matthäus gibt es wohl keine zeitgenössischen Zeugnisse darüber, dass zur Zeit des Herodes überhaupt solch ein Kindermord stattgefunden haben könnte. Wer die Berichte der Bibel nicht wörtlich nimmt, wartet vergeblich auf Quellen anderer Herkunft, wie das bei vielen Dingen der Leben-Jesu-Forschung ebenfalls der Fall ist.


    Und nun noch einmal zurück zu der Frage: Konnte es durchaus gut gehen, dass Brockes in barocker Frömmigkeit über dieses legendäre Ereignis dichtet, während sein Freund Reimarus in der Bibelkritik schon zu radikalen Schlussfolgerungen gelangt ist, die aber eventuell noch nicht den Matthäus-Text im NT in Frage stellen?

  • Hallo!


    Und nun noch einmal zurück zu der Frage: Konnte es durchaus gut gehen, dass Brockes in barocker Frömmigkeit über dieses legendäre Ereignis dichtet, während sein Freund Reimarus in der Bibelkritik schon zu radikalen Schlussfolgerungen gelangt ist, die aber eventuell noch nicht den Matthäus-Text im NT in Frage stellen?


    Was meinst Du jetzt mit "gut gehen"? Reimarus kenne ich zu wenig - bzw. überhaupt nur durch Lessing. Und ich müsste in meinem Lessing nachlesen, was da zum Kindermord steht. Brockes hat hier ja "nur" übersetzt, und ich vermute ein bisschen, dass der Übersetzer ein bisschen anders gedacht haben könnte als der Autor selber. Zumindest gibt es im Unveröffentlichten auch bei Brockes so kleine Stückchen, die stutzig machen. Aber vielleicht überinterpretiere ich auch. :winken:

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  • Monatelang stand der erste Band der neuen Brockes-Ausgabe nicht an seinem Platz, und es war kein "Stellvertreter" ins Regal der Bibliothek gelegt.
    Jetzt sah ich ihn endlich und konnte ihn ausleihen.
    Ich muss sagen, dass die Ausgabe in mehr als einer Hinsicht bei mir Ratlosigkeit hinterlässt. Ich habe leider keine Zeit, um den genaueren Umständen der Entstehungsgeschichte des Werks nachzugehen.


    Die 1742 erstmals veröffentlichte Ausgabe des "Verdeutschten Bethlehemitischen Kindermords" folgt als größerer Text auf die "Selbstbiographie" von Barthold Heinrich Brockes. Der Hamburger Ratsmann hatte für seine Übersetzung und Nachdichtung des "Kinder-Mords" von Giovanni Battista Marino (1569-1625) - darum handelt es sich bei diesem Werk! - eine sehr seltene italienische Ausgabe zur Grundlage gewählt.


    Am Anfang steht ein (heute kaum noch genießbares) "Mordsmäßiges"-Widmungsgedicht von 60 Strophen (S. 46-57), das an Kaiser Karl VI. gerichtet ist, der indes schon zwei Jahre zuvor, 1740, verstorben war. Man könnte daraus entnehmen, dass sich Brockes nach der österreichischen Niederlage gegen den preußischen König Friedrich II. bei Mollwitz 1741 jetzt zum Reichspatriotismus bekennt; Österreich begann sich unter der jungen Königin von Ungarn, Maria Theresia, wieder zu erholen.
    Tatsächlich wird Kaiser Karl gepriesen (im übrigen ein ziemlich dröger, blasser Herr, der den Prinzen Eugen als Hauptratgeber weitgehend gewähren ließ): "Er kämpft fürs Vaterland, und Seiner Völker Heil." (S. 51). Karl gleiche Salomon (S. 53). Damit sind wir bei der Bibel.


    Nun hatten die Habsburger bereits 1708 die Stadt Hamburg in Reichsacht getan, weil dort demokratische Strömungen in der Bürgerschaft die Oberhand gewannen. Brockes reiste in diplomatischer Mission im Interesse seiner Vaterstadt bis nach Italien, wie aus der Selbstbiographie hervorgeht.
    Die Herausgeber verweisen jedoch auch darauf, dass die zwischen 1715 und 1742 entstandenen Drucke des Werkes auch noch anders aussahen als die hier wiedergegebene Fassung, ein anderer war nun Gastone de Medici (1673-1737), Herzog von Florenz, gewidmet. Brockes passte seine Widmungen offensichtlich dem Bedarf an.
    Ein prachtvoller Kupferstich von Piccart (1673-1733) ist der neuen Ausgabe beigegeben, der das ganze Getümmel um den Kindermord wiedergibt.
    Das alles muss man sich hier aus den Angaben zur Kommentierung zusammenreimen.


    Für mich sieht das jetzt so aus. Brockes lässt sich von der bunten Schilderung des Mordgeschehens durch den barocken italienischen Dichter Marino völlig in den Bann schlagen.
    Damit könnte für ihn die Form im Vordergrund gestanden haben. Durch die Widmungen an Karl VI. oder Medici wurde das Werk allerdings zu einem offiziellen Dokument, mit dem Brockes unter seinem eigenen vollen Namen an die Öffentlichkeit trat, die im Heiligen Römischen Reich durch den beginnenden Österreichischen Erbfolgekrieg gespalten war - in Bayern regte sich 1742 der Wittelsbacher Karl VII. als Gegenkaiser und Rivale Maria Theresias.


    Sein dichterisches Schaffen ist nicht von Beschaulichkeit und Enge gekennzeichnet, wie die heiteren Naturgedichte nahelegen könnten. Brockes greift einen biblischen Stoff aus der Geschichte kurz vor Beginn des 1. Jahrtausends auf, wobei schon bei Marino Figuren auftauchen, die nicht der Bibel entnommen sind, sondern durch neuhumanistische Gelehrsamkeit ans Tageslicht befördert wurden.


    Freund Reimarus dürfte den bethlehemitischen Kindermord in seiner Monströsität getrost ins Reich der Legenden befördert haben, zumindest für sich und seine engsten Freunde. Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: entweder hält Brockes tatsächlich noch das ganze Zeug für eine historische Überlieferung, und Freund Reimarus läuft mit seiner Bibelkritik erst einige Jahre später zu Hochform auf.


    Oder Brockes hat seine Freude an einer rhetorischen Fingerübung anhand eines Sujets, das zwar auch gleichnishaft gedeutet werden kann. Und er nimmt das noch wörtlich, wie die meisten Lutheraner seiner Zeit. Allerdings widmet er es dann als Hamburger Lutheraner, der für die Freie und Hansestadt eintritt, katholischen Monarchen in Wien und Italien. Heute dürfte es wohl kaum noch jemanden geben, der die Überlieferung vom bethlehemitischen Kindermord für historisch hält, ausgenommen vielleicht Evangelikale in den USA.


    Die Kommentare des Literaturwissenschaftlers Jürgen Rathje und seiner Mitstreiter, so verdienstvoll sie im einzelnen sind, lassen die Entstehungszusammenhänge des Werks im Dunkeln, und sie gehen nur als Philologen auf verschiedene Textfassungen ein. Eine historische Verortung hätte der Ausgabe gut getan.

  • Die Kommentare des Literaturwissenschaftlers Jürgen Rathje und seiner Mitstreiter, so verdienstvoll sie im einzelnen sind, lassen die Entstehungszusammenhänge des Werks im Dunkeln, und sie gehen nur als Philologen auf verschiedene Textfassungen ein. Eine historische Verortung hätte der Ausgabe gut getan.



    Hm ... Die Ansprüche an eine HKA steigen m.M.n. zusehends. Vor 100 Jahren (die Herder-Ausgabe von Suphan), ja selbst noch vor 50 Jahren (die Hamann-Ausgabe von Nadler) war der Anspruch vor allem ein philologischer. Eine historische Verortung hatte der Leser selber durchzuführen. Mir persönlich hat sie im Falle der Brockes-Ausgabe nicht gefehlt. Um so weniger, als die Informationen ja im Grunde genommen da sind. Manchmal zugegeben etwas versteckt.

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  • Ein Artikel in der nzz über die Neuausgabe im Wallstein Verlag
    Irdisches Vergnügen in Gott: Dritter und Vierter Teil Gebundene Ausgabe – 29. September 2014
    von Jürgen Rathje (Herausgeber, Kommentator), Barthold Heinrich Brockes (Autor)


    http://www.nzz.ch/feuilleton/b…ch-der-kreatur-1.18445786

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Danke. Klingt allerdings ein bisschen, als ob Brockes nun Philosoph gewesen wäre, der nebenbei gärtnerte und dichtete. Seine hohe Sprachkunst, die selbst (der als Sprachkünstler keineswegs zu verachtende, wenn auch heute in dieser Hinsicht völlig vergessene) Wieland hoch achtete, wird nur nebenbei gestreift. Ma kucken - mein 3. Band liegt immer noch hier.

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