Juni 2012: Heimito von Doderer - Die Dämonen


  • Etwas irritiert bin ich, wenn sich Leonhard an die Pforte zum Wald erinnert (S. 610 Beck). Wurde das schon mal näher beschrieben oder sind das immer nur Erinnerungsfetzen ?


    Ja, die Pforte zum Wald wurde schon erwähnt, mMn mindestens zweimal: Erster Teil Ende Kap.5,S.162 (dtv)und zweiter Teil, Kap.3, S. 593


    Die Urszene: Leonhard ist in einem Arbeiter-Ferienheim in den Bergen. Er entfernt sich von den Kollegen und vor allem den beinzeigenden Kolleginnen durch eine Gartenpforte, die in den hinter dem parkähnlichen Garten liegenden Wald führt . Nach Durchgang durch die Pforte befindet er sich in der freien Natur , in einer anderen Welt. Er erlebt einen Moment der Stille und der absoluten Losgelöstheit.
    Szene auf Seite 593: Seine Wirtin gibt ihm einen lateinischen Satz zum Übersetzen, den ihr sein Vorgänger verehrt hat: Eripe me domine, e necessitatibus meis. Leonhard übersetzt mühelos: Reiße mich heraus, Herr, aus dem, was mich nötigt - und merkt, dass er Latein kann! Der Satz sagt ihm viel, im Gegensatz zu seiner Wirtin, die damit nichts anfangen kann. Er hat ein flash-back und sieht sich mit Niki auf dem Motorrad über die burgenländische Landschaft fliegen und dabei das Drei-Mädeldreieck, das ihn so beschäftigt und eingeengt hat, in „Scherben gehen“. „Das kann ich doch nicht selbst,“ denkt er (Wahrscheinlich:…mich selbst herausreißen) aber als „Gegenbeweis“ kommt ihm die Erinnerung an den Sommernachmittag, die Gartentür, an das Aus- der- Welt- sein, die plötzlich eintretende Stille. Wie oben übrigens die Assoziation: Die Vöglein schweigen im Walde
    Und nun die Szene, die sich an die durchzechte und ziemlich trostlose Nacht anschließt, die Kajetan und die Gräven zusammen verbracht haben.( S. 610/11) Man erinnert sich…, setzt der Erzähler voraus. Wer soll sich da erinnern? Der Leser? Nun aber wird derselbe Morgen, der in der Stadt über Anne, die gleich den Mord entdecken wird und Kajetan, der einsam und verloren auf der Straße zurückbleibt, trüb und grau dämmert, an anderem Ort beschrieben, nämlich im Hochgebirge, an Leonhards Erinnerungsort. Welch ein Kontrast! Der Tagesanbruch in den Bergen mit dem Pfeifen der Murmeltiere, ein strahlender Sonnenaufgang begleitet von einem Moment absoluter Stille. Wegen solcher Passagen mag ich den Roman und verzeihe D. so manches an Trivialität und ideologischen Fehlgriffen. Das ist sprachlich unglaublich brillant und gekonnt „komponiert“! Nach dem Durchschreiten menschlicher Niederungen erlebt der Leser ein paar erhebende kosmische Momente. :sonne:


  • Nun aber wird derselbe Morgen, der in der Stadt über Anne, die gleich den Mord entdecken wird und Kajetan, der einsam und verloren auf der Straße zurückbleibt, trüb und grau dämmert, an anderem Ort beschrieben, nämlich im Hochgebirge, an Leonhards Erinnerungsort. Welch ein Kontrast! Der Tagesanbruch in den Bergen mit dem Pfeifen der Murmeltiere, ein strahlender Sonnenaufgang begleitet von einem Moment absoluter Stille. Wegen solcher Passagen mag ich den Roman und verzeihe D. so manches an Trivialität und ideologischen Fehlgriffen. Das ist sprachlich unglaublich brillant und gekonnt „komponiert“! Nach dem Durchschreiten menschlicher Niederungen erlebt der Leser ein paar erhebende kosmische Momente. :sonne:


    Gontscharow, ganz lieben Dank, dass du für mich diese Szene so gut eingeordnet hast. Ich bin beeindruckt, wie du solche Szenen wiederfindest, für mich müsste dafür das Buch schon als e-book vorliegen, damit ich nachsuchen könnte !


    Und ja, diese Passagen sind großartig, eigentlich immer, wenn Doderer Naturbeschreibungen oder auch Interieurbeschrebungen verwendet um Stimmungen einzufangen, aber auch Hinweise zu geben - herrlich ! Ich finde ja auch, manchmal verliert er sich in Geschwafel oder in Hinweisen über 5 Ecken, die dann in eine Sackgasse verlaufen, aber diese Szenen fangen mich auch immer wieder ein :smile:

  • Hallo,


    online bin ich wieder, aber mit wenig Zeit zum Schreiben. Besten Dank für eure Wünsche: Tatsächlich mache ich in dieser Woche Urlaub im schönen Bayernland und hoffe, trotz einer Maß (!) Bier, nicht allzu viele Tippfehler zu machen.
    Ich bin am Beginn des Kapitels "Der Triumph der Rahel" und denke nocn etwas irritiert an das vorhergehende Kapitel zurück. Ich hatte Mühe, jeweils die politische Orientierung bei den literarisch verarbeiteten Schattendorfer Morden nachzuvollziehen. Zuerst dachte ich, die Toten seien Mitglieder eines faschistischen Schutzbundes, aber später stellt sich heraus, dass der Schutzbund sozialistisch/kommunistischer Provenienz ist.



    Außerdem erfahren wir auch, was es mit Quapps Geheimnis auf sich hat, nach meiner Rechnung müsste die Mutter 45 Jahre alt sein, ursprünglich Baronesse, verwitwet und war verheiratet mit einem französischen Adligen. Ob sie und schon begegnet ist ?


    Hier kann ich helfen: Diese sehr kapriziöse und vom Erzähler negativ beurteilte Person kommt schon früh bei Geyrenhoffs Reflektionen vor:
    [...]ein ganz hochgehängtes Bild, das einer Frau, einer schönen sogar, mit dunklen Haarflechten, deren Antlitz voll Hohn, Geringschätzung und grenzenloser dummer Anmaßung in mein Zimmer ... hereinsah. (S. 54, dtv)


    Das ist die anscheinend böse Gräfin, Quapps Mutter. Lies die Stelle im Zusammmenhang!


    Nun muss ich andere an den Anschluss lassen.


    Bis bald


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

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  • Hallo zusammen,


    Das Kapitel "Der Triumph der Rachel" hat biblische Bezüge mit all den alttestamentarischen Frauen mit denen Mary verglichen wird. Sie hat eine große Anziehungskraft. Mary muß eine Lieblingsfigur von Doderer sein, meint ihr nicht auch?


    "Die Falltür" zeigt die düstere Seite von Jan Herzka. Er hat sexuelle Gewaltphantasien, ausgelöst durch Madonnenfiguren die demütig sich binden und quälen lassen. Sinnigerweise hat er auch eine Gurt-Fabrik. Er sieht in Stangeler den Mann der den Schlüssel für sein Leben in den Händen hält. Ich bin gespannt wie es weitergeht im Kapitel "Die Kavernen von Neudegg". Hat alles nun etwas unheimliches an sich. Außerdem wird vermehrt von der zweiten Bewußtseinsebene gesprochen.


    Jan empfand den René Stangeler jetzt wie einen Schlüssel, der in ihn eindringen sollte, um ein Schloß zu öffnen: ja geradezu sein Leben aufzusperren. Und so schob er jenem eine Funktion zu, die er selbst in dem Dasein Stangelers weitgehend erfüllen sollte, wie sich noch zeigen wird. Wir orten sowohl uns selbst, als auch den anderen Menschen, mitunter in einer geradezu auf den Kopf gestellte Weise.



    LG
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo,


    bin wieder zu Hause. aber bisher wenig zum Lesen gekommen und halte im Kapitel "Der Triumph der Rahel" inne.


    Das Kapitel "Der Triumph der Rachel" hat biblische Bezüge mit all den alttestamentarischen Frauen mit denen Mary verglichen wird. Sie hat eine große Anziehungskraft. Mary muß eine Lieblingsfigur von Doderer sein, meint ihr nicht auch?


    Ja, das drängt sich mir auch immer wieder auf. Wo sind denn die alttestamentarischen Anspielungen?


    Anscheinend habe ich sie bisher überlesen, denn ich überlege die ganze Zeit, wie Doderer auf diesen Titel kommt. Jakob diente doch sieben Jahre um Rahel, und sie war die jüngere Tochter: Das passt doch alles gar nicht auf Mary, die erstens, falls man sie in Bezug auf Leonhard als Konkurrentin zu ihrer Tochter sieht, natürlich die Ältere ist und auch sonst erkenne keine Übereinstimmungen.


    Ist vielleicht Frau Ruthmayr "Rahels" ältere Schwester? Sie wurde von Leonhard ja auch zeitweise als Ikone einer anderen Welt 'bewundert' (?), als er seiner bei ihr bediensteten Schwester bei Hausreparaturen geholfen hat. Und nun ist sie durch Mary uninteressant geworden, weil er in dieser das Echte /Lebensfähige erkennt, was bei Frau Ruthmayr nur Rolle/ überkommene Tradition ist.


    Nun verglich er Mary mit Frau Ruthmayr; es geschahen dabei genau zwei entgegengesetzte Bewegungen in Leonhard. Mary trat machtvoll vor, Frau Ruthmayr wich zurück, in einen unbetretbaren Raum, in ihr Element, wie ein edler Zierfisch, der nach vorne an die Glaswand des Aquraims gekommen ist [..] (dtv, S. 659 f.)


    Interessant ist im Übrigen, wie Doderer zu Beginn des Kapitels durch Ironisierung das Kitschige der Beschreibung von Liebe auf den ersten Blick vermeidet.


    Was ich allerdings auch nicht ganz verstehe, ist, warum Mary sofort anfängt, mit Leonhard Latein zu lernen: Das Motiv dafür kann ich nicht erkennen, außer, dass sie dadurch Leonhard Möglichkeiten verschaffen will, ihr allein oder im kleinen Kreis der Familie zu begegnen. Aber dafür einfach mal so eine so komplexe Sprache erlernen?


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)


  • Wo sind denn die alttestamentarischen Anspielungen?


    Soweit ich mich erinnere, wird Mary in diesem Kapitel anfangs mit Rahel und Rebecca, später mit Judith und Ruth verglichen, alles starke und attraktive Frauen der Alten Testaments.
    Deine Interpretation - Frau Ruthmayr als „ ältere Schwester“, die von Rahel-Mary bei Leonhard abgelöst wird - finde ich einleuchtend. Vielleicht bezieht sich der "Triumph Rahels" auch auf das Verhältnis Dwight - Dobrila , quasi in Umkehrung ihrer eigentlichen Funktion, denn trotz Dwights Schwärmerei für Mary wird seine Beziehung zur Dobrila durch ihre Präsenz letztlich bestätigt und gefestigt.
    Mary triumphiert in dem Kapitel ja auf ganzer Linie. Alle, selbst Eulenberg, müssen vor ihr und ihrer Schönheit kapitulieren. Und sie triumphiert über ihre Behinderung.



    Was ich allerdings auch nicht ganz verstehe, ist, warum Mary sofort anfängt, mit Leonhard Latein zu lernen: Das Motiv dafür kann ich nicht erkennen, außer, dass sie dadurch Leonhard Möglichkeiten verschaffen will, ihr allein oder im kleinen Kreis der Familie zu begegnen. Aber dafür einfach mal so eine so komplexe Sprache erlernen?


    Latein ist eine Marotte Doderers, die er gern auf seine Romanpersonen überträgt, auch wenn er sie zu Sprachgenies mutieren lassen muss.


    Ganz entzückend fand ich am Anfang des Kapitels die Beschreibung von Marys Hut - ein schwarzer kleiner Filz (sole) mit einer Reiherfeder - quasi ein ironisches Statement. Quapp kauft sich später im Roman auch so einen, das ist sicher nicht ohne Bedeutung. Ich hab mal „recherchiert“ was sole (auf dem e fehlt ein accent aigu, kann ich mit meiner Tastatur nicht setzen) bedeutet, habe aber nichts gefunden. Weiß einer von euch, was das bedeutet?


    Ich befinde mich bereits im 7. Kapitel des dritten Buches, will aber nicht vorgreifen, warte erstmal ab und bin gespannt auf eure Kommentare.

  • Hallo zusammen,



    Soweit ich mich erinnere, wird Mary in diesem Kapitel anfangs mit Rahel und Rebecca, später mit Judith und Ruth verglichen, alles starke und attraktive Frauen der Alten Testaments.



    dann tauchte Rahel doch im Kapitel auf? Das muß ich übersehen haben. Ich wunderte mich bereits, dass das Kapitel so heißt und dann der Name nicht auftaucht.


    "Judith und Ruth" werden auf S. 651 genannt, außerdem ist Mary Jüdin wie wir aus der Strudlhofstiege wissen.
    tatsächlich ein Triumph für Mary auf ganzer Linie. Männer wie Eulenfeld und Schlaggenberg setzen sich zu ihren Füßen.




    Zitat


    Deine Interpretation - Frau Ruthmayr als „ ältere Schwester“, die von Rahel-Mary bei Leonhard abgelöst wird - finde ich einleuchtend. Vielleicht bezieht sich der "Triumph Rahels" auch auf das Verhältnis Dwight - Dobrila , quasi in Umkehrung ihrer eigentlichen Funktion, denn trotz Dwights Schwärmerei für Mary wird seine Beziehung zur Dobrila durch ihre Präsenz letztlich bestätigt und gefestigt.



    diese Interpretation hilft mir auch weiter, ich finde sie schlüssig.
    Rahel könnte auch für die "Frauen" in dem Kapitel insgesamt gelten:


    -Emmy hat ihr Geheimnis gewahrt und es ist auch für sie ein erfolgreicher Abend.
    -von Trix heißt es mehrmals, dass sie alles wußte.
    -Mary sowieso, wie wir festgestellt haben. Sie ist in diesem Kapitel die Hauptfigur.


    In der Bibel heißt es "Rahel weint um ihre Kinder". Doderer lässt sie triumphieren !




    Zitat von "Gontscharow"

    Latein ist eine Marotte Doderers, die er gern auf seine Romanpersonen überträgt, auch wenn er sie zu Sprachgenies mutieren lassen muss.



    eigentlich hat sie zuerst lustig ausgerufen, dass sie Latein erlernen möchte, der Satz kam bei mir flirtend an. Dann hat sich Leonard an dem Wort "Vorbildung" gestoßen. Es ist für ihn ein dummes und häßliches Wort und doch hat er es gesagt und er ärgert sich, dass er "gestolpert" ist und verschließt sich.


    hier hat Mary ein feines Gespür. Sie weiß instinktiv, dass Leonhard gestolpert ist. Sie, die weiß wie es ist, zu stolpern; zu kämpfen, aufzustehen und mit einem neuen Bein laufen zu lernen. Leonard mit seiner neuen Sprache gehts ähnlich. Doderer hat hier wunderbar die Parallelen gezogen.


    S. 650
    Der neue Mensch hatte eine sozusagen noch dünne Haut. Mary sah hindurch.... Sie wußte alsbald, daß Leonhard sich selbst jetzt, während seines Sprechens, irgendwie ein Bein gestellt hatte, und daß er gestolpert war. Worüber, eigentlich und im einzelnen, blieb gleichgültig: es war ein bekanntes Unbekanntes für Mary...



    nun erst sagt sie direkt und konkret zu Leonhard ob er Zeit hätte, ihr ein wenig zu helfen, wenn sie mit dem Latein lernen beginne.


    Auffallend ist auch Leonards Gang. Er hat einen langsamen und wiegenden Gang. Die Mädels (Trix, Fella) nennen ihn deswegen den "Matrosen".
    Von Mary heißt es, dass sie charmant humpelt (stellt Emmy fest). Doderer überlässt nichts den Zufall. Die Beiden gehören zusammen, bishin zum Gang.


    Ist euch der Stock, den Mary als Hilfe benutzt, aufgefallen? Er ist aus Ebenholz.
    Ich habe mal nachgeschaut. In der Mythologie wird dem Ebenholz magische Wirkung zugeschrieben. Im Märchen "Schneewittchen" hat diese Haare schwarz wie Ebenholz. Von Mary heißt es in der Strudlhofstiege, dass sie eine üppige Frau ist, mit schwarzem Haar mit tizianrotem Schimmer, sowie makellos weiße Haut.



    LG
    Maria

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  • nochwas:


    wenn wir bei Fontane wären, dann würde ich hinter der Mary nach dem Melusinen-Motiv suchen. Von ihrer Wohnung aus hat sie Blick auf den Donaukanal. Leonhard kommt es so vor, als ob er einer Wassergewalt gegenübersteht, als er zum ersten Mal Mary begegnet. Von Fontane weiß man ja, dass er gerne dieses Symbol wählte; von Doderer ist mir das nicht bekannt. Trotzdem hat sich mir der Gedanke aufgetan.



    Als er sich aufgerichtet hatte, sah er Mary an und fühlte ihre Schönheit wie eine hochauf gestaute Wasserswucht. In ihm war Ergebung, nichts weiter. "So ist das also", dachte er noch einmal.
    S. 648



    LG
    Maria

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  • dann tauchte Rahel doch im Kapitel auf? Das muß ich übersehen haben. Ich wunderte mich bereits, dass das Kapitel so heißt und dann der Name nicht auftaucht.


    Ja, ich zitiere mal:
    Freilich sah die Emmy Dobril, dass diese Frau schön war, ja eine Rahel, eine Rebecca - aber das Hütchen und wie sie es trug, das war noch mehr...(dtv.,S.639)



    Oh ja, das war mir entgangen. Sehr schön auch die Wortspiele rund ums Bein!


  • Ganz entzückend fand ich am Anfang des Kapitels die Beschreibung von Marys Hut - ein schwarzer kleiner Filz (sole) mit einer Reiherfeder - quasi ein ironisches Statement. Quapp kauft sich später im Roman auch so einen, das ist sicher nicht ohne Bedeutung. Ich hab mal „recherchiert“ was sole (auf dem e fehlt ein accent aigu, kann ich mit meiner Tastatur nicht setzen) bedeutet, habe aber nichts gefunden. Weiß einer von euch, was das bedeutet?


    Ich befinde mich bereits im 7. Kapitel des dritten Buches, will aber nicht vorgreifen, warte erstmal ab und bin gespannt auf eure Kommentare.



    ahhh, jetzt habe ich die Stelle mit Rahel und Rebecca gefunden. Sie wird genau bei der obigen Hutbeschreibung erwähnt. S. 639.


    Edit:
    du hast mir bereits geantwortet und es beantwortet, Gondscharow. Vielen Dank :winken:


    solé - könnte das Sohle, sozusagen der Untergrund meinend, bedeuten, worauf die Reiherfeder wippt.
    Es gibt im englischen den Begriff crepe sole - Kreppsohle.


    und wenn ich mir die Reiherfeder anschaue und Doderers Schwäche für England, dann kommt mir der englische Begriff "Heron" in den Sinn. Auch ein griechischer männliche Name, weibliche Form Hero, englisch wiederum Held/in.




    LG
    Maria

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  • solé - könnte das Sohle, sozusagen der Untergrund meinend, bedeuten, worauf die Reiherfeder wippt.
    Es gibt im englischen den Begriff crepe sole - Kreppsohle.


    Was ich beisteuern kann: Im Französischen gibt es auch das Wort "solé" - es bedeutet Scholle oder Seezunge, also Plattfisch ;-)
    Da in den Zwanzigern Frauen solche flachen kleinen Hütchen durchaus trugen, kann es sein, dass Mary daher einen Plattfisch auf dem Kopf trägt.


    Nachtrag zu "Im Osten":


    Außerdem habe ich mir in Karl Vocelkas "Geschichte Österreichs" (die ich mir seinerzeit in Wien kaufte, als ich die "Strudlhofstiege" las) über das rote Wien und die Entwicklung zum Austrofaschismus nachgelesen. Demnach war der Schutzbund die mit den linken Sozialdemokraten verbundene bewaffnete "Einheit", während die "Heimwehr" zu den Christsozialen und Deutschnationalen gehörte. Während bis ca. 1927 relative Ruhe herrschte, begannen mit den Schattendorfer Morden und dem Justizpalastbrand bürgerkriegsähnliche Verhältnisse zu herrschen, in denen die Austrofaschisten bald die Oberhand gewannen.
    Auch die mehr als in anderen Ländern auf Bildung ausgerichtete sozialdemokratische österreichische Ausprägung passt zu Leonhards Ansinnen, wenn bei ihm auch ganz andere und entgegengesetzte Gründe dahinter stehen, als dadurch die Klassengesellschaft im Allgemeinen zu überwinden.


    Zu den Kapiteln II, 4 und 5 beim nächsten Mal.


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo,


    zum Kapitel „Der Triumph der Rahel“:


    Auf S. 670 (dtv) wird diesmal die Erzählhaltung besonders stark zum Thema gemacht: Geyrenhoffs Fähigkeiten als Hauptkompilator und –erzähler werden in Frage gestellt und ironisiert:


    Er selbst vermeinte übrigens immer, die ‚Letzte Redaktion‘ aller Berichte allein zu vollziehen, wovon natürlich gar keine Rede sein kann. Nicht er redigierte, sondern er wurde redigiert, genauso wie alle anderen.[…] Gewisse Äußerungen Geyrenhoff’s […] waren zudem gar nicht so dumm.


    Interessant auch, dass Geyrenhoff, wenn er explizit als Erzähler auftritt, seinen Namen immer abkürzt, während er hier und an anderer Stelle ausgeschrieben wird.


    Der Erzähler der oben angeführten Textstelle verhält sich ambivalent: Mal ist hinter ihm - wie hier - die auktoriale Erzählperspektive zu vermuten, andererseits scheint er am Geschehen beteiligt, durch den burschikosen Ton, mit dem er die Mitglieder der ‚Unsrigen‘ schildert, so als wären sie seine Bekannten.


    Gleich danach –auf S. 671 – erfolgt eine sehr gute Definition des Grotesken, die man zum Beispiel auch gut auf Dürrenmatts „Besuch der alten Dame anwenden könnte:


    […] daß es Schlaggenberg wesentlich nur um das Groteske dabei zu tun war, man kann auch sagen, um die Etablierung eines Affentheaters auf dem Trümmerfeld des eigenen Lebens, worin stets der tief pessimistische Zug des Grotesken beruht.


    Zum Kapitel „Die Falltür“:


    Hier scheint der Titel doppeldeutig gemeint zu sein. Einerseits wird Jan Herzka durch Stangelers Vortrag über die Hexenprozesse und seine erotischen Phantasien bezüglich seiner Vorzimmerdame dann aus Anlass seines Erbes von Schloss Neudegg dazu getrieben, seinen sadistischen Neigungen weiter nachzuforschen und vielleicht zu –gehen. Andererseits weiß Stangeler anscheinend genau, aus welchem Grunde sich Herzka für ihn und seine Kenntnisse interessiert, geht aber dennoch auf dessen Angebot ein, so dass ihnen beiden eine Falltür droht.


    Das Kapitel „Die Kavernen von Neudegg“,


    in dem ich mich jetzt befinde, knüpft dabei schön an den vorhergehenden Kapiteltitel an, denn wohin sonst kann so etwas Mittelalterliches wie eine Falltür denn führen als in eine Kaverne.
    Ich bin noch nicht weit in dem Kapitel, aber es deutet sich schon an, dass das von Stangeler gefundene Manuskript anscheinend genau die Fantasien Herzkas bedienen wird, die er durch historisches Interesse sublimieren will.


    Eine Frage: Auf S. 717 f wird Levielle mit Sieghart verglichen: Ich meine mich zu erinnern, dass dieser eine Titelfigur in einem romantischen Roman oder Ähnlichem ist, komme aber durch Googeln nicht auf das Werk. Wisst ihr hier Bescheid?


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)


  • Eine Frage: Auf S. 717 f wird Levielle mit Sieghart verglichen: Ich meine mich zu erinnern, dass dieser eine Titelfigur in einem romantischen Roman oder Ähnlichem ist, komme aber durch Googeln nicht auf das Werk. Wisst ihr hier Bescheid?


    Dazu Robert Schediwy (in: Doderer-Gesellschaft):



    Zu diesem Sieghart gibt es auch einen Wikipedia-Artikel.

  • Rahel könnte auch für die "Frauen" in dem Kapitel insgesamt gelten:


    -Emmy hat ihr Geheimnis gewahrt und es ist auch für sie ein erfolgreicher Abend.
    -von Trix heißt es mehrmals, dass sie alles wußte.
    -Mary sowieso, wie wir festgestellt haben. Sie ist in diesem Kapitel die Hauptfigur.


    In der Bibel heißt es "Rahel weint um ihre Kinder". Doderer lässt sie triumphieren !


    Danke - ich hatte etwas Schwierigkeiten, den Titel in Verbindung zu bringen und ihr habt das wunderbar dargelegt ! Ich denke auch, dass Mary eine Lieblingsfigur von Doderer ist, das sie eine derartig positive Energie ausstrahlt.



    "Die Falltür" zeigt die düstere Seite von Jan Herzka. Er hat sexuelle Gewaltphantasien, ausgelöst durch Madonnenfiguren die demütig sich binden und quälen lassen. Sinnigerweise hat er auch eine Gurt-Fabrik. Er sieht in Stangeler den Mann der den Schlüssel für sein Leben in den Händen hält.


    Ich denke, das sind nicht nur Phantasien, sondern ganz konkret scheint er Magdalene Güllich vergewaltigt und gefoltert zu haben.
    In Doderers Erzählung "Die Bresche" scheint das Geschehen um Herzka, Güllich und Slobedeff näher ausgeführt zu sein.


    Im Kapitel 6: Die Kavernen von Neudegg begegnen wir der Mutter von Quapp, Claire Charagiel, geb. von Neudegg, wenn auch nur als Bild. Aber der Ausdruck des Hohnes, der Frechheit und zugleich völiger Nichtigkeit in diesem Antlitz ... S.714 beck


    Überhaupt gibt es in diesem Kapitel einiges zu entdecken - nicht nur die Kavernen, welches mir als Bild auch besonders gefällt, sondern auch, dass Stangeler Körger, Schlaggenberg, Eulenfeld und Orkay als Wahnsinnige bezeichnet, die hierher auf die Burg zu Herzka gehören würden. Die Dämonen von Schlaggenberg und Herzka kenne ich, aber welche Dämonen könnten die anderen heimsuchen ?


    Was haltet ihr von Stangeler - warum ist er plötzlich nicht mehr so lethargisch sondern hat alles im Griff ? Kann es nur die konkrete Beschäftigung als Historiker sein ?

  • Hallo,


    Dazu Robert Schediwy (in: Doderer-Gesellschaft):



    Zu diesem Sieghart gibt es auch einen Wikipedia-Artikel.


    Vielen Dank, Gontscharow, da sieht man mal, in welche falsche Richtung einen literarische Halbbildung führen kann. War völlig auf dem falschen Dampfer ... :redface:.

    Stecke mitten in dem künstlich-frühneuhochdeutschen Kapitel "Dort unten". Das ist schon ziemlich manieriert, man kennt allerdings ähnliche Dinge bei Joyce (we oben erwähnt), auch bei Thomas Mann und sicherlich manch anderen.
    Ruodlieb erzählt die Episode des privaten "Hexenprozesses" außerordentlich breit, man merkt, wie verliebt Doderer nicht nur in das Lateinische, sondern auch in andere semantische Akrobatik ist.
    Was das Ganze soll, ist mir noch nicht so recht klar: Ich nehme an, es soll die sadistischen Neigungen Herzkas bedienen und inwieweit sie ins Lächerliche ziehen,kommt darauf an, wie weit die Folter geht.
    Warum, Steffi, aus Stangeler plötzlich so eine Lichtgestalt wird, wird mir auch nicht recht deutlich. Aus einigen Passagen zu Beginn von Herzkas Auftrag kann man allerdings entnehmen, dass Stangeler in Herzka den Zerrspiegel sieht, weil dieser seinen Neigungen nicht entgegentritt, sondern sie in sublimierter Form pflegt, und René vielleicht dabei erkennt, dass seine Unbeherrschtheit und sein Auftreten gegenüber Grete auch etwas ist, dass er in den Griff bekommen muss und auch will.
    Auf S. 696 (dtv) besucht er seine Eltern und dann Grete, allen gegenüber tritt er versöhnlicher auf, denn er will wohl nicht wie die anderen, zu denen er auch Schlaggenberg (dicke Damen), Eulenfeld (Trunksucht), Körger und die Ungarn (politisch-ökonomische Intrigen?) zählt, zum Getriebenen werden.
    Deshalb tritt er auch relativ unverschämt gegenüber Herzka auf, dem er seine Bedingungen diktiert und dessen Ort der Sehnsucht, den Raum mit dem Marterpfahl, er durch das darübergeworfene Jackett "schändet". Aus seinem eigenen Gefühl, sich selbst nun im Griff zu haben, erhebt er sich über die anderen, deutlich sichtbar auch an der Besteigung des Burgturmes, den er allein unternimmt.
    Interessant auch hier, dass Marys Klavierspiel (S. 700) mit dem Beginn dieser Läuterung verbunden wird. Sie scheint wie eine Art Engel über der Handlung zu schweben.
    Mir gefällt im Übrigen die Mary der Strudlhofstiege deutlich besser als dieser recht passive Engel: Damals war sie selbst in die Handlung verstrickt und stand nicht so darüber. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo,


    mit "swerer muehe" habe ich nun das künstlich-frühneuhochdeutsche Kapitel "Dort unten" hinter mich gebracht und stehe diesem recht ratlos gegenüber. Es erinnert mich eher an die burlesken Abenteuer der Canterbury-Tales oder des Decamerone als an eine Hexenprozessdokumentation. Letzten Endes geht es um unausgegorene erotische Abenteuer auf Kosten der beiden gefangenen Frauen, gebrochen durch die Erzählperspektive Ruodliebs, der sich - scheinheilig, wie René zuvor kommentiert - von den Geschehnissen distanziert. Dabei wird noch eine Inszenierung spätmittelalterlicher Ständeregeln dargeboten, als der Landesverweser von Kärnten vor Neudegg vorstellig wird, um die beiden Frauen zu befreien. Ich denke, hier ist mit Doderer doch etwas der Bildungsbürger durchgegangen, der zeigen will, was er alles kann und weiß. Inwiefern das Ganze die Handlung weiterhin motiviert, wird sich zeigen.
    Zu Beginn des nächsten Kapitels "Am Strom" zeigt sich René immerhin weiter geläutert, und es gelingt ihm, Grete als etwas Eigenes, als Objekt (hier wohl nicht negativ zu verstehen) und nicht als Teil seiner selbst, das er auch so behandeln kann wie sich selbst, zu sehen. Hier steht aber sicher und auch angedeutet eine philosophische Sichtweise dahinter (dtv, S. 808 unten), die ich mangels Beschlagenheit nicht zuordnen kann.


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Zitat von Autor: finsbury« am: Gestern um 12:34 »

    Stecke mitten in dem künstlich-frühneuhochdeutschen Kapitel "Dort unten". Das ist schon ziemlich manieriert….Ruodlieb erzählt die Episode des privaten "Hexenprozesses" außerordentlich breit, man merkt, wie verliebt Doderer nicht nur in das Lateinische, sondern auch in andere semantische Akrobatik ist.


    Ja, künstlich, manieriert und verliebt in die eigenen Sprachkünste. Dieses selbstfabrizierte Frühneuhochdeutsch scheint sich wie im Dr. Faustus von Mann als Sprache des Bösen aus den Kavernen der Psyche bestens zu eignen, irgendwie naiv, rustikal und realistisch-vertraut, wenngleich historisierend und verfremdet.

    Zitat von Autor: finsbury« am: Gestern um 12:34 »

    Was das Ganze soll, ist mir noch nicht so recht klar: Ich nehme an, es soll die sadistischen Neigungen Herzkas bedienen und inwieweit sie ins Lächerliche ziehen, kommt darauf an, wie weit die Folter geht


    Herzka wurde durch die Gespräche über Hexenprozesse auf dem Tischtennis-Fünf-Uhr-Tee bei Siebenscheins auf seine sadistischen Obsessionen hin getriggert. Diese scheint er, wie Steffi das auch sieht, mit oder an Magdalene Güllich konkret in nicht sublimierter Form ausgelebt zu haben, etwas was er in den Tiefen seiner Erinnerung vergraben hat. Nun hat er ein neues Objekt, Agnes. Die Erbschaftangelegenheiten und die Erforschung der Kavernen kommen (zum Glück) dazwischen. Was sie dort finden, stellt sich als vergleichsweise harmlos heraus. Die Folterungen sind fingiert. Alles ist inszeniert zum Lustgewinn des Hausherrn und der Folterknechte . Der Sex ist schließlich sogar einvernehmlich. Ich glaube, das ganze dient der Entlastung und ist ein Schritt auf dem Weg zur Integration dieser sexuellen Neigung ins normale Leben - sowohl Herzkas als wohl auch des Autors (sicher sind euch die Samtpeitschchen bei seiner 2.? etwas spießigen Ehefrau nicht entgangen). Herzka als neuer Hausherr lässt Licht und Heizung in den Kavernen installieren, quasi ein Symbol für die Domestizierung des Trieblebens. Heute gibt es Bondage- Seminare…


    Bei Marys Hütchen tappe ich noch immer im Dunkeln. Auch wenn ihr ein Plattfisch sicher gut stehen würde, die sole hat ja keinen Akzent.


    Jetzt erst sehe ich dein letztes Posting, finsbury. Ja, "burleske Abenteuer" - das sehe ich genauso!


  • Bei Marys Hütchen tappe ich noch immer im Dunkeln. Auch wenn ihr ein Plattfisch sicher gut stehen würde, die sole hat ja keinen Akzent.


    vielleicht hat er sich mit dem Akzent vertan ?
    in der Strudlhofstiege spricht Doderer zweimal von einer solennen Wiener Jause (S. 217 / S. 726) . Keine Ahnung was das bedeutet und ob es einen Zusammenhang zur solé gibt. Wollte es dennoch erwähnen.


    ich bin noch nicht soweit wie ihr.


    LG
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • in der Strudlhofstiege spricht Doderer zweimal von einer solennen Wiener Jause (S. 217 / S. 726) . Keine Ahnung was das bedeutet und ob es einen Zusammenhang zur solé gibt. Wollte es dennoch erwähnen.


    ich bin noch nicht soweit wie ihr.


    "Solenn" bedeutet laut Wahrig Fremdwörterbuch "feierlich, festlich" und stammt von dem lat. Adj. 'solemnis/solennis' --> feierlich.


    Lass dir Zeit. Ich lese das 2. Buch jetzt möglichst zügig zu Ende und mache dann eine kleine Pause. Allerdings möchte ich gerne innerhalb des Augusts die Lektüre der "Dämonen" beenden.


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)