Juni 2012: Heimito von Doderer - Die Dämonen

  • Materialiensammlung für die Leserunde, die am 01.06.12 beginnt:
    http://www.klassikerforum.de/index.php/topic,4615.0.html#new



    Wikipedia: Die Dämonen
    http://de.wikipedia.org/wiki/Die_D%C3%A4monen_(Doderer)
    beinhaltet auch eine Übersicht der Personen in alphabetischer Reihenfolge.


    Wikipedia: Heimito von Doderer
    http://de.wikipedia.org/wiki/Heimito_von_Doderer


    hier gehts zu einem Bericht im Spiegel aus dem Jahr 1957
    http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41757655.html

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Hallo zusammen,


    heute beginnt offiziell die Leserunde. Hier gehts zur Materialiensammlung:
    http://www.klassikerforum.de/index.php/topic,4614.0.html
    und darf gerne noch ergänzt werden.


    In meinem Buch (Ausgabe C.H. Beck) heißt es im Klappentext:


    "Die Dämonen" sind einer der bedeutendsten Großstadtromane dieses Jahrhunderts. Gestalten des Wiener Großbürgertums und des Adels, Arbeiter und Intellektuelle, aber auch Typen der Halb- und Unterwelt sind zu einem schillernden gesellschaftlichen Gewebe verflochten....


    Zu Beginn ziert ein Zitat von Tacitus, Hist. I,1 :


    Malignitati falsa species
    libertatis inest.


    wenn die Online-Übersetzung stimmt, heißt es soviel wie:


    während Gehässigkeit den falschen Schein des Freimuts an sich hat.


    auf den knapp 1400 Seiten dürften sich einiges an Gehässigkeit und falschen Schein ansammeln. Wir dürfen gespannt sein.


    LG
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Vielen Dank für das Einrichten dieses und des Materialthreads, Maria.


    Heute Morgen habe ich mit der Lektüre begonnen, für die ich allerdings in den nächsten zwei Wochen wg. Arbeit wenig Zeit finden werde.
    In diesem Fall hat es sich für mich wirklich gelohnt, dass ich - wie immer - zunächst den Kindler-Artikel gelesen habe, bevor ich mit der Lektüre begann, denn der Anfang gestaltete sich für mich doch verwirrend.
    So war es gut, dass ich schon wusste, dass der Roman Geschehnisse bruchstückhaft ineinander verwebt und dass sich bestimmte Dinge erst später klären.
    Der früh pensionierte Sektionsrat Geyrenhoff stellt sich uns in der "Ouvertüre" als Erzähler des kommenden Geschehens vor, sichert aber gleichzeitig die Multiperspektivität des Erzählten, indem er sich der Hilfe einiger anderer in die Geschehnisse verwickelter Personen versichert. Gleich zu Beginn wird uns auch der Kammerrat Levielle vorgestellt, der - laut Kindler - den einzig durchgehenden Handlungsstrang des Romans verantwortet, da er einen Erbschaftsbetrug vorhat, der hier schon angedeutet wird.
    In der "Ouvertüre" ist noch viel Reflexion über das Erzählen an sich mit der beginnenden Handlung verwoben. Geyrendorff erscheint das Erzählen als eine Art Faden ziehen aus einem Stoff, eine sehr schöne Metapher für das sich gegenseitig Bedingende aller Einzelfäden, also Ereignisse, Schicksale hin zum prallen Leben, dem Stoff.
    Bin gespannt, welche Erzählfäden wir alle präsentiert bekommen.
    Schön wird in der Begegnung zwischen Geyrenhoff und Levielle gleich auch Wien zum Thema. Man hat das Stephansdomviertel unmittelbar vor Augen.
    Ebenso geht es mit dem Vorort, in dem Geyrenhoff wohnt. Man meint, selbst aus dem Atelierfenster seiner Wohnung zu blicken. Diese intensive Schilderung ist eine Kunst, die mich schon an der "Strudlhofstiege" sehr beeindruckt hat.
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)


  • Ebenso geht es mit dem Vorort, in dem Geyrenhoff wohnt. Man meint, selbst aus dem Atelierfenster seiner Wohnung zu blicken. Diese intensive Schilderung ist eine Kunst, die mich schon an der "Strudlhofstiege" sehr beeindruckt hat.
    finsbury


    Hallo zusammen,
    hallo finsbury


    ich fühle mich schon recht heimisch in Doderers Universum, spätestens als Mary K. erwähnt wurde. Ich finde Doderers Schilderungen, ob Landschaft (am Rande von Wien) oder hoch über Stadt aus dem Fenster des ehemaligen Ateliers von Schlaggenberg prächtig, in den Sätzen könnte ich mich verlieren.


    Dostojewskis Dämonen haben mich verunsichert, lag mir Geschichte und Stil so rein garnicht, doch bei Doderer fühle ich mich wieder wohl.


    Stilistische Zusammenhänge beider Romane fielen mir wie folgt auf:
    -Die Abkürzungen der Chronisten ähneln sich: g-w (Dostojewski) und g-ff (Doderer)
    -Beide Bücher sind in drei Teilen aufgeteilt.
    -In beiden Romanen läuft es auf einen Brand hinaus.


    vielleicht stellen sich noch mehr Gemeinsamkeiten ein.



    Zitat von "finsbury"

    In der "Ouvertüre" ist noch viel Reflexion über das Erzählen an sich mit der beginnenden Handlung verwoben. Geyrendorff erscheint das Erzählen als eine Art Faden ziehen aus einem Stoff, eine sehr schöne Metapher für das sich gegenseitig Bedingende aller Einzelfäden, also Ereignisse, Schicksale hin zum prallen Leben, dem Stoff.
    Bin gespannt, welche Erzählfäden wir alle präsentiert bekommen.



    den Ton gegen Ende der Ouvertüre fand ich märchenhaft (oder biblisch-prophezeiend *grübel*) gesprochen:


    Furchtbares hat sich begeben in meinem Vaterlande und in dieser Stadt, meiner Heimat, zu einer Zeit, da die Geschichten, ernst und heiter, die ich hier erzählen will, längst geendet hatten. Und eines Namens wurde würdig, wahrhaft eines schrecklichen, was bei währenden Begebenheiten hier noch ungestalt lag und wie keimweis gefaltet beisammen: aber es trat hervor, und bluttriefend, und jetzt auch dem Auge, das vor so viel Geschehen nahezu blöde geworden, in seinen Anfängen kenntlich, gräßlich bescheiden und doch so sehr kenntlich.



    von einem Chronisten sagt man, dass er die Absicht trägt, dem Leser einen zeitlich geordneten und geschichtlichen Überblick zu verschaffen. Mir fiel in der Ouvertüre auf, dass Doderer gerne hohe Aussichtspunkte verwendet und den Lichteinfall betont; das Fenster des Ateliers, der Signalmast am Bahnhof, die Berge, Leuchtturm ... passende Symbole für einen Überblick.


    sowas gefällt mir :-)


    LG
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

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  • [...]Ich finde Doderers Schilderungen, ob Landschaft (am Rande von Wien) oder hoch über Stadt aus dem Fenster des ehemaligen Ateliers von Schlaggenberg prächtig, in den Sätzen könnte ich mich verlieren.


    Wien ist m.M.n. die heimliche Protaginistin dieses Romans ... :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen !


    Ich habe auch die "Ouvertüre" hinter mir und konnte auch gleich in den Doderer-Kosmos eintauchen. Er drechselt die Sätze unvergleichlich schön und ich mag es sehr, wie er Farben und Gerüche zur Beschreibung verwendet. Gespannt bin ich, ob bzw. wie die einzelnen Chronisten zu erkennen sein werden - Geyerhoff sagte ja schon, dass er irgendwann in die Geschichte mitverwickelt wird und somit nicht mehr als Chronist taugt.


    Schon jetzt sind etliche Personen genannt worden, es wird sich zeigen, wer davon eine wichtige Rolle und wer nur eine Nebenrolle spielt und wie alle miteinander verwoben sind. Ich mache mir zumindest schon mal Notizen, das hat sich für den Anfang von Doderers Romanen bewährt.


  • Schon jetzt sind etliche Personen genannt worden, es wird sich zeigen, wer davon eine wichtige Rolle und wer nur eine Nebenrolle spielt und wie alle miteinander verwoben sind. Ich mache mir zumindest schon mal Notizen, das hat sich für den Anfang von Doderers Romanen bewährt.


    Und ich habe mir die von Maria freundlicherweise verlinkte Personenliste aus Wikipedia ausgedruckt: Zweispaltig in Schriftgröße 8 macht das vier Seiten aus! Allerdings sind z.T.Textzitate dabei. Aber ich glaube, das ist ganz sinnvolles Lesebegleitmaterial.
    Bei so vielen Personen kommen ja selbst die großen russischen Romanciers nicht mit. Also noch eine Ähnlichkeit, die wir Marias Liste hinzufügen können :zwinker:.


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo,


    heute Nacht bin ich ein bisschen voran gekommen und befinde mich jetzt im 2. Kapitel "Die Entstehung einer Kolonie I".
    Ich glaube übrigens, dass wir uns hinsichtlich der Seitenzahlen sogar recht gut werden verständigen können, denn anscheinend sind die Ausgaben von dtv (die ich lese) und Beck seitengleich, wie auch das oben angesprochene Personenverzeichnis unterstellt. Die Seite 56, die ich gerade begonnen habe, beginnt mit: "Wie nun das Folgende gerade hierher kam ...".
    Nachdem ich die Ouvertüre eher schwierig zu verstehen fand, kommt jetzt der Doderersche Erzählfluss ungehemmt in Gang und spült eine ganze Reihe Strudlhofgestalten an die Oberfläche (die wichtigsten hier zunächst wohl Mary K., die Maria ja auch schon erwähnte und René Stangeler, jeweils mit ihrem Umfeld). Da ich diesen Roman vor sechs Jahren las, musste ich mir mithilfe von Sekundärliteratur erstmal wieder eine kleine Erinnerungsauffrischung zur Handlung holen.
    Sicherlich kann man "Die Dämonen" auch für sich genommen lesen, aber die Figuren erhalten doch eine ganz andere Tiefe, wenn man um das vorher Geschehene und die atmospärische Umhüllung der handelnden Personen weiß. Ich kann nicht sagen, dass mir das Romangeschehen wieder vollständig vor Augen steht, was bei diesem Koloss sowieso kaum möglich ist, aber die Erinnerungsfetzen haben sich ein wenig verdichtet.
    Und diese Sprache:
    Schon fiel da und dort das Laub in den Wäldern, der Geruch war süß und irgendwie weiträumig, und man empfand ihn noch mehr in dieser Weise, wenn der Blick jetzt oft mitten aus dem Walde zwischen kahleren Kronen ausfallen konnte in eine tatsächliche Ferne [...][S.45).
    So habe ich oft auch empfunden, aber dieser Ausdruck "irgendwie weiträumig" wäre mir niemals eingefallen, bringt aber diesen Sinneseindruck genau auf den Punkt.
    Im zweiten Kapitel scheint schon vom Titel her die Bühne vorbereitet zu werden für die kommende Handlung, wenn wir auch - wie bei Doderer üblich - mit ständigen Rückblenden und Zeitsprüngen zu rechnen haben werden.


    Noch einen schönen Sonntag, den ich nun vorwiegend arbeitend verbringen werde.


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen,


    im 1. Kapitel kommt die Bezeichnung "Dimorphismus" auf (Zweigestaltigkeit). Ich schätze mal, dass dies noch von Bedeutung sein wird, so wie in der Strudlhofstiege die Menschwerdung, wenn es in den "Dämonen" nicht sogar auch um Menschwerdung geht. "Zwei in ihrem Wesen", ob es die Stadt oder das Dienstmädchen in England ist, kam bereits vor und wenn man darauf achtet, fällt einem diese Zweigestalt ab und an auf. (Würde auch zum Titel passen, mehr Gestalten in einem "Wesen" ?)


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Aus Zeitgründen konnte ich leider noch nicht mehr als zehn Seiten lesen. Und doch kann ich der von Maria dankenswerterweise eingerichteten Liste von Parallelen schon eine hinzufügen. Wir erinnern uns :In den Dämonen von Dostojewski wurde die Verschwörergruppe um Pjotr Stepanowitsch vom Chronisten die „Unsrigen„ genannt. Ein zentrales Kapitel trägt sogar diesen Titel. Der Chronist in Doderers Dämonen nennt seine Gruppe ebenfalls die "Unsrigen" : Ich begann also nicht weniger und nicht mehr als für eine ganze Gruppe von Menschen ( und das sind vornehmlich jene, die ich späterhin kurz ‚die Unsrigen’ nennen werde) ein Tagebuch zu führen…(S.9/dtv)


    Zitat von JMaria« am: Gestern um 15:43 »

    von einem Chronisten sagt man, dass er die Absicht trägt, dem Leser einen zeitlich geordneten und geschichtlichen Überblick zu verschaffen. Mir fiel in der Ouvertüre auf, dass Doderer gerne hohe Aussichtspunkte verwendet und den Lichteinfall betont; das Fenster des Ateliers, der Signalmast am Bahnhof, die Berge, Leuchtturm ... passende Symbole für einen Überblick.


    Finde ich auch. Sehr schön beobachtet!


    Zitat von finsbury« am: Heute um 10:31 »

    Und diese Sprache:
    Schon fiel da und dort das Laub in den Wäldern, der Geruch war süß und irgendwie weiträumig, und man empfand ihn noch mehr in dieser Weise, wenn der Blick jetzt oft mitten aus dem Walde zwischen kahleren Kronen ausfallen konnte in eine tatsächliche Ferne [...][S.45).
    So habe ich oft auch empfunden, aber dieser Ausdruck "irgendwie weiträumig" wäre mir niemals eingefallen, bringt aber diesen Sinneseindruck genau auf den Punkt.


    Ja, das ist Poesie, wenn man „irgendwie weiträumig“ paradoxerweise als „genau auf den Punkt gebracht“ empfindet! :zwinker: Der synästhetische Duft des Herbstlaubs - sehr treffend und fern von jedem Klischee. Danke für dieses schöne Detail, das ich sicher überlesen hätte.


    Eure Kommentare machen Lust aufs Weiterlesen!

  • Aus Zeitgründen konnte ich leider noch nicht mehr als zehn Seiten lesen. Und doch kann ich der von Maria dankenswerterweise eingerichteten Liste von Parallelen schon eine hinzufügen. Wir erinnern uns :In den Dämonen von Dostojewski wurde die Verschwörergruppe um Pjotr Stepanowitsch vom Chronisten die „Unsrigen„ genannt. Ein zentrales Kapitel trägt sogar diesen Titel. Der Chronist in Doderers Dämonen nennt seine Gruppe ebenfalls die "Unsrigen" : Ich begann also nicht weniger und nicht mehr als für eine ganze Gruppe von Menschen ( und das sind vornehmlich jene, die ich späterhin kurz ‚die Unsrigen’ nennen werde) ein Tagebuch zu führen…(S.9/dtv)


    Hallo zusammen,


    Gontscharow,
    das wär mich garnicht aufgefallen. Damit bist du auf ein schönes Detail gestossen.
    Und mit diesem Gedankenanstoß fiel mir auf, wie so nach und nach (bis Kapitel 2) G-ff seine zu erzählende Welt eingrenzt: ... die Unsrigen (kommt nochmals auf der S. 81 ende Kapitel 2 vor) .... um den Rittmeister Eulenfeld heißen sie "Nebelflecken" (was ich nicht ganz kapiert habe) .... Ende Kapitel 2 heißt es über diese oder zumindest eine neu formierte Gruppe "Döblinger Montmatre" (lt. Grete Siebenschein), da einige nach Döblin zogen (G-ff, Kajetans Schwester Charlotte, Gyurkicz, Rittmeister Eulenfeld, zwei brauchbare Verwandte von G-ff ... wer diese wohl sind?)



    Neugierig wird man, wenn G-ff andeutet warum er bisher unverheiratet blieb, es aber erst später erzählen möchte.


    mit zwei schönen Sätzen endet das 2. Kapitel:


    Die Zauberkraft der Sprache macht eben das Leben im Handumdrehen zu einem leichten Joch, das uns sanftgeschwungen aufliegt. Das kann man bei jedem Bonmot empfinden, ja, schon bei irgendeinem treffenden Vergleich.




    Gruß,
    Maria

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  • Wien ist m.M.n. die heimliche Protaginistin dieses Romans ... :winken:



    man könnte sich die Straßen rausschreiben und gezielt entlanggehen, so präzise sind seine Wegbeschreibungen bisher :-)
    eine Anekdote darüber wie sehr verbunden Doderer mit Wien war:


    seine Mutter 'Willy' Hügel (und ihre drei Schwestern) durften im Atelier des Bildhauers Kaspar von Zumbusch wann immer sie wollten herumtollen. Als Zumbusch an seinem berühmtestes Denkmal, der Maria Theresia, arbeitete, sagte er: "Geh, Willy, setz dich her - ich brauch ein paar schöne Ohren für meine Maria Theresia!" und so kam es, dass dieses Denkmal nun die Ohren der Mutter Heimitos trägt.


    aus "Das verleugnete Leben" von Wolfgang Fleischer
    [kaufen='978-3218006194'][/kaufen]


    Ich fand das so nett beschrieben :-)


    LG
    Maria

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  • So habe ich oft auch empfunden, aber dieser Ausdruck "irgendwie weiträumig" wäre mir niemals eingefallen, bringt aber diesen Sinneseindruck genau auf den Punkt.


    So geht es mir oft bei Beschreibungen von Doderer, z.B. auch mit dem Bach, an dem Emma und Dwight Williams spazierengehen oder die Straßen von Wien. Wie in seinen anderen Romanen, die ich bisher gelesen habe, kommen auch hier wieder Farben verstärkt vor: Weiss und Grün, dann der blaue Schmetterling, den Emma geschenkt bekommt. Ein starkes Bild, finde ich !


    Interessant finde ich eure Anmerkungen zu den Hinweisen auf Dostojewski, den ich ja leider nicht gelesen habe - es scheint, Doderer hat sich sehr gründlich damit auseinandergesetzt.



    JMaria: Ich hoffe auf weitere solcher Anekdoten ! Der Begriff "Dimorphismus" ist mir auch aufgefallen und ich bin gespannt, wie und ob er sich im Roman widerspiegelt.


    Ich komme zum 2. Kapitel.

  • Hallo,



    mit zwei schönen Sätzen endet das 2. Kapitel:


    Die Zauberkraft der Sprache macht eben das Leben im Handumdrehen zu einem leichten Joch, das uns sanftgeschwungen aufliegt. Das kann man bei jedem Bonmot empfinden, ja, schon bei irgendeinem treffenden Vergleich.


    Diese Stelle habe ich mir auch markiert, weil sie so schön ist.


    Ich komme im Moment gar nicht vorwärts, weil ich beruflich viel lesen muss. Habe erst mit dem dritten Kapitel begonnen, aber dann schon sehr die köstliche "Bettszene", Frau Clarisse Markbreiter im Gespräch mit ihrer Tochter, genossen. Das ist Doderer eben auch, ein großer Humorist, der das Allzumenschliche genau beobachtet, aber seinen Protagonisten dennoch ihre Würde lässt.


    Schönen Feiertag


    finsbury


    Apropos Genauigkeit: Ich lese mit Stadtführer und Stadtplan. Geht blendend!

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  • Hallo,


    heute Nacht fand ich ein bisschen Zeit weiterzulesen und bin jetzt im im zweiten Drittel des 5. Kapitels.
    Nach den Markbreiters lernte ich nun auch zwei der weiteren, aufwändig eingeführten Personen näher kennen: im 4. Kapitel die diesem den Namen gebende reiche Witwe Friederike Ruthmayr, im 5. Kapitel den in einer Gurtfabrik beschäftigten Arbeiter Leonhard Kakabsa.


    Beide Kapitel bringen wieder einmal Höhepunkte der Nebenhercharakterisierung, wie sie Doderer so sehr beherrscht.


    Über den jungen Historiker Neuberg:
    Der Bursche war groß, stark, rundlich und weißblond, mit einem breit auseinandertretenden, der Bauart nach eigentlich offenen Antlitz, aus welchem offenen Tor aber mitunter eine leicht aufgestülpte etwas fette Frechheit herausschaute.(Kap. 4)


    Über den Gatten der Kaffeehausbetreiberin Risa Weinmann:
    Sie führte als Gatten, außerhalb des Geschäfts, dann und wann, ein kleines Wesen mit sich, welches den Eindruck erweckte, dass es auf ihrer mächtigen Leiblichkeit gewissermaßen parasitiere.


    Da weiß man doch ohne umständliche Handlungsschilderung gleich, wen man vor sich hat!


    Im Gegensatz zu diesen Nebenpersonen, die den Roman bevölkern, nimmt sich Doderer wie oben schon erwähnt, für Frau Ruthmayr und Leonhard Kakasba viel Zeit.


    Genial ist, wie wir an Frau Ruthmayr herangeführt werden: Sie sitzt in ihrer Opernloge und fühlt hinter sich den Blick des hinter ihr sitzenden, bereits in der Ouvertüre genauer bekannt gewordenen Kammerrat Levielle auf ihrem tiefen Rückenausschnitt: Schon diese Anordnung könnte uns viel über das Verhältnis der beiden zueinander verraten.


    Leonhard Kakasba wird dagegen sehr bei sich eingeführt. Hier spielt Wien wieder eine Hauptrolle: Während wir bisher bei den Schönen und Reichen waren, wendet sich der Blick jetzt ins Arbeiterviertel, das Ganze verknüpft durch die Dienstmädchen Kakasba, die in zwei der schon erwähnten Häuser dienen und Schwestern Leonhards sind.


    Aber nun Leonhard ist in seinem Zimmer und von dort aus richtet sich der Blick auf seine Kindheit und Jugend und dann gleich auf die Stadtviertel auf der "Donauinsel" rund um den Prater. Sie sind eingerahmt vom Dampfschiffverkehr auf den beiden Armen des Donaukanals und beherbergen das durch den verlorenen Weltkrieg aufgebrachte Wiener Proletariat; Besonders herausgestellt sind hier die "Gaserer", die in den Wohnungen die Heiz- und Stromuhren ablesen. Sie nutzen nach Doderer die politisch gereizte Stimmung gegen das Großbürgertum, um sich im Wesentlichen selbst wichtig zu machen und herumzupöbeln.


    Hier kann man schon sehr gut Doderers ausgeprägtes erzkonservatives Klassenbewusstsein erkennen, denn ihnen gegenüber stellt er den sauberen und selbstkritischen Leonhard, der nicht in seiner Schicht verharrt, sondern nach Höherem strebt, fleißig und bescheiden ist. So hat der Fabrikant seinen Arbeiter gern!


    Nichtsdestotrotz, auch wenn man mit Doderer sicherlich politisch nicht übereinstimmen kann: Wie er Atmosphäre einfängt, ist einmalig!
    Der Tages- und besonders Nachtverlauf im Café Kaunitz, dargestellt wie eine Sinfonie mit verschiedenen Instrumentengruppen und Solisten ist ein Kabinettstückchen der Erzählkunst.


    Nun muss ich leider zurück in die Sielen.


    finsbury

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  • Apropos Genauigkeit: Ich lese mit Stadtführer und Stadtplan. Geht blendend!


    Hallo zusammen,


    finsbury,
    das ist ja eine tolle Idee !


    ich habe das 3. Kapitel beendet. Die Tischgesellschaft im Cafe und auch die Atmosphäre, der Lärm, wie die Leute sich verhalten, all das war so anschaulich beschrieben, dass ich es vor mir sah. Das Ehepaar Markbreiter führen scheinbar eine harmonische Ehe, die Tochter, anfang 20, ist bereits verheiratet. Im Gegensatz zur Nichte Grete Siebenschein, die ein Verhältnis mit Rene Stangeler hat. Was die Kaffeerunde in Aufregung versetzt, besonders die Mutter Irma.


    und wie finsbury fiel mir der feine Humor auf und die Würde, die der Autor den Personen lässt.


    Den Witz mit dem "Topfenkuchen" habe ich nicht verstanden; vielleicht hab ich zuanfangs etwas überlesen, das am Ende des 3. Kapitels mir die Erleuchtung gebracht hätte?


    LG
    Maria

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  • Hallo zusammen,


    ich habe mir nun nach 4 Kapiteln nochmals die Ouvertüre vorgenommen. Man kann bereits nach wenigen Kapiteln einige Bezüge herstellen; z.B. der Hinweis, dass der Chronist die gute Selma Steuermann benutzt um Leuten nachzuspionieren. Im 3. Kapitel tut sie es bereits, indem sie Frau Rosen folgt, die sich mit einem Mann trifft.


    Zitat von "finsbury"

    Genial ist, wie wir an Frau Ruthmayr herangeführt werden: Sie sitzt in ihrer Opernloge und fühlt hinter sich den Blick des hinter ihr sitzenden, bereits in der Ouvertüre genauer bekannt gewordenen Kammerrat Levielle auf ihrem tiefen Rückenausschnitt: Schon diese Anordnung könnte uns viel über das Verhältnis der beiden zueinander verraten.



    genau. In der Ouvertüre kommt er als ein unangenehmer Mensch rüber und wie er der Frau Ruthmayr im Rücken sitzt wirkt bedrohlich.


    nochmals zum "Topfenkuchen" Kapitel 3:
    im Doderer ABC fand ich den Hinweis, dass die Mutter [Clarisse Markbreiter] den großen Busen ihrer Tochter [Lily Kries] mit einem Topfenkuchen vergleicht.


    LG
    Maria

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  • Ich bin mitten im 5. Kapitel, das Café Kaunitz scheint ja ein sehr zwielichtiger Ort zu sein, der sich nachts zum Drogenlokal mausert ! Besonders schön fand ich die Beschreibung der ehemaligen Wirtin :breitgrins: , ja, Wien hat schon was ! Die Szenen vorher hat finsbury ja schon ganz hervorragend beschrieben, natürlich war damals die Klassengesellschaft noch fein intakt, obwohl ja Doderer den Niedergang schon anklingen lässt. Die Gaserer, noch in der alten k.u.k-Herrlichkeit verhaftet, werden ja schon kritisch, aber auch amüsant hinterleuchtet.

  • Hallo zusammen, hallo Steffi,



    natürlich war damals die Klassengesellschaft noch fein intakt, obwohl ja Doderer den Niedergang schon anklingen lässt. Die Gaserer, noch in der alten k.u.k-Herrlichkeit verhaftet, werden ja schon kritisch, aber auch amüsant hinterleuchtet.


    Obwohl sie ja gerade durch den Niedergang der KuK-Monarchie hochkamen:
    Dieses Völkchen lebte, wie es eben lebte, seit den neuen Zeiten, seit 1918 insbesonders.[...]
    sie versperrten den Weg gänzlich, wichen niemandem aus [...] in ihnen hatte das Zeitalter seine Höhe erreicht und offenbar nur, damit sie sich hinaufsetzten.

    Aber ihre Intellektuellenfeindlichkeit verbindet sie durchaus mit gewissen Kreisen der KuKs:
    Wer ein Antlitz wies, daraus Intelligenz hervorschaute, konnte eines verachtungsvollen und provozierenden Blickes sicher sein.(beides 5. Kapitel, dtV S. 122)


    Inzwischen habe ich das sechste Kapitel ausgelesen und Quapp, alias Charlotte von Schlaggenberg, näher kennen gelernt. Hier haben wir wieder Doderer als den Liebhaber klassischer Musik vor uns: ich erinnere mich an eine sehr schöne Stelle in der "Strudlhofstiege", in der es um Schumanns fis-moll-Sonate ging oder eine andere mit einer Brahms-Sinfonie: Musik untermalt immer wieder die Stimmung der Personen. Hier bei Quapp stehen die Musikerin und ihr Instrument - die alte Italienerin - im Mittelpunkt. Arbeit, Frustration, aber auch Beglückung, wie sie beim Üben entstehen, werden deutlich.


    Womit ich ein bisschen Probleme habe, ist der ständige Wechsel der Zeitebenen: Während die Leonhard-Handlung momentan im Frühjahr und Sommer 1926 spielt, springt die Schlaggenberg-Handlung zwischen Sommer 1926 (Quapps Liebeskummer zu Hause in der Steiermark), dem Winter 1926/27- Eulenburg und sein Trousseau - und der Zeitebene der Begegnung des Erzählers mit Vielle in der Ouvertüre, wo man sich ja auch auf Quapp bezieht (Frühling 1927) hin und her. Das finde ich nicht immer leicht nachzuhalten, ist aber wichtig, um die Entwicklung der Personen nachzuhalten.


    Einen schönen Sonntag noch


    finsbury

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  • Hallo zusammen,


    auch ich habe das 6. Kapitel beendet. Aufgefallen ist mir im 5. Kapitel das Hervorheben von Gerüchen in Bezug auf Leonhard Kakabsa und sein leidenschaftlicher Ausruf -----> "Bin ich denn zum Riechen auf der Welt."


    Die Zeitebenen verwirren mich auch manchmal. Überschneidungen gibt es in den Kapitel 2, 3, 4, 5, 6 ------> handelt (u.a.) zwischen 08.1.27 und 10.1.27 , nämlich im Kapitel 2 der Auftrieb der Unsrigen ... Rene Stangeler wird von Eulenberg aufgegabelt; Kapitel 3 die Verwandten treffen sich wegen Grete Siebenschein im Cafe; Kapitel 4 Frau Ruthmayr in der Oper,.... Kapitel 5 um Mitternacht belagern die Unsrigen Frau Ruthmayrs Fenster und sie trinkt aus der Cognacflasche (!!! G-ff würde am liebsten noch mehr Ausrufezeichen dahintersetzen). In der Zwischenzeit ist es der 09.1.27. Kapitel 6 Quapp kommt nach Wien 10.1.27.


    (und das war jetzt nur EINE Zeitebene, Kapitel 5 hat davon verwirrend viele.


    Charlotte (Quapp) Schlaggenberg:
    Ihr Spitzname wird von Kaulquappe abgeleitet. Ich vermute, um sie gibt es ein Geheimnis. 1) G-ff sieht eine Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Rittmeister Ruthmayr (Ouvertüre); 2) ihr Bruder Kajetan verhält sich verdächtig oder instinktiv zurückhaltend ihr gegenüber. Außerdem ergibt sich aus dem Spitznamen Quapp (von Kaulquappe) noch eine Entwicklungsstufe.
    ----> weil dieser Name eben ein Wesen im Entwicklungs-Zustand oder in einem Vor-Stadium andeutet. (S. 165 C.H.Beck)


    Gruß
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)