Michail Jewgrafowitsch Saltykow-Schtschedrin

  • Geschichte einer Stadt / Michail Saltykow-Schtschedrin hab ich heute beendet.


    Das ist eine präzis erzählte, garstige Satire mit absolut allgemeinen Qualitäten.


    Dumburg ist eine bizarre (Gegen-)Welt, in der Raum und Zeit aufgehoben scheinen, und zum Schluss auch die Geschichte ihren Lauf einstellt. Das geht über Kritik an Zuständen jener Zeit, an Zarenreich und Leibeigenschaft, weit hinaus.
    Und weist zum Schluss (Stumpf-Grunzig ist der furchtbarste und am besten gelungene der Stadthauptmänner) auf den Stalinismus hin.


    Ein Roman ist das nicht, oder wenn doch, ein sehr experimenteller.
    Eher eine Abfolge von Szenen mit bewusst eingeschobenen Brüchen.


    Die Geschichte von den Dumburgern, die meinen, sich Herrscher wählen zu müssen, und dann deren Knute ertragen, legt Mechanismen offen, die über Zeit- und Nationengrenzen hinaus gültig sind.


    So muss es Satire ja auch machen -
    um auch nach 150 Jahren noch genießbar zu sein.


    Klar dass man ohne detaillierte Kenntnis russischer Geschichte vieles nicht versteht.
    Ein Anmerkungsapparat hätte das Buch wohl auch auf doppelten Umfang gebracht.
    Die (oft sprechenden) Eigennamen sind ins Deutsche gebracht so gut möglich.


    Ich schiebe gleich mal Die Herren Golowlew nach.


    Und dies zur Vertiefung.


    By the way, er hieß Michail Jewgrafowitsch Saltykow.
    Schtschedrin ist Pseudonym.


    Gruß
    Leibgeber

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)


  • Ich schiebe gleich mal Die Herren Golowlew nach.


    Seite 21/22.

    Zitat


    Porfiri Wladimyritsch hatte von der Familie drei Spitznamen erhalten: "Juduschka"*, "Blutsauger" und "ehrlicher Junge", Namen, die er seinem Bruder Stepka, dem Grobian, zu verdanken hatte. Von der Kindheit an liebte er es, sich zärtlich an das liebe Mamachen zu schmiegen, heimlich ihre Schulter zu küssen und manchmal auch seine Geschwister anzuschwärzen. Leise pflegte er die Tür ins Zimmer der Mutter zu öffnen, sich lautlos einzuschleichen, sich still in eine Ecke zu setzen und wie verzaubert die Mutter anzustarren, als könne er, während sie schrieb und lange Rechnungen aufstellte, den Blick nicht von ihr wenden. Aber Arina Petrowna verhielt sich schon damals diesem einschmeichelnden Benehmen gegenüber skeptisch. Damals schon erschien ihr der aufmerksam, auf sie gerichtete Blick rätselhaft, und sie vermochte nicht zu ergründen, ob er das Gift einer Schlange oder die Erfurcht eines Sohnes verriet.
    Ich verstehe nicht, was er für Augen hat, dachte sie. Schaut er mich an, so habe ich das Gefühl, als werfe er eine Schlinge um meinen Hals. Wie Gift ist es, das einen lockt.


    * Verkleinerung von Judas. (Anm. d. Ü.)


    Womit die beiden Hauptpersonen vorgestellt sind.
    Der Vater, Arinas Mann, eine Nebenperson im Clan, wie auch die Söhne sind dem Trunk verfallen.
    Mit dem erwähnten Bruder Stepka und dem anderen Bruder Pawel nimmt es schon frühzeitig ein Ende. Kein gutes. Ebenso mit der Schwester, die zwei Töchter hinterlässt, denen die Katastrophe in die Wiege gelegt ist. So wie auch Porfiris beiden Söhnen.


    Arina, hartherzig und geizig, büßt für das, was sie ihren Kindern weitergab. Bzw. nicht gab.
    Juduschka, Heuchler, Geizkragen, Lügner, stürzt seine Verwandten und Nachkommen ins Unglück.
    Der vorgeblich Fromme nimmt sich eine Magd zur Geliebten, das gemeinsame Kind steckt er ins Findelhaus.


    In sieben Episoden, von den 1850er bis in die -70er Jahre, schildert Saltykow den Untergang einer Familie des Landels im fiktiven Golowlewo, irgendwo in Russland.
    Und seziert damit die Lage zur Zeit der Aufhebung der Leibeigenschaft (1861).


    Literarisch ist das gut bis brillant.
    Ich möchte es Gogols "Die toten Seelen" an die Seite stellen.


    In pointierten Dialogen und geistreichen Abschweifungen (lest mal den Diskurs über das Heucheln, Seite 156-160) entwirft Saltykow seine Sicht der Lage, schildert ein grauenhaftes Guts- und Dorfleben, gibt auch dem geistlichen Stand, was ihm gebührt, und erzeugt einen Sog der Vernichtung, dem niemand entrinnen kann. Und am Schluss steht die nächste Verwandtschaft, um sich das zu holen, was übrigblieb.
    Die Dienstboten und Bauern stehen der Herrschaft in nichts nach.


    Misshandlung von Leibeigenen, Alkohol, Geiz, Lieblosigkeit und Habsucht lassen in dieser bitterschwarzen Satire nichts Positives und keine Hoffnung übrig. Versuche politischer Änderungen sind in einem korrupten System zum Scheitern verurteilt. Nicht einmal die Religion wird als Rettungsanker angeboten.
    Verfall einer Familie als Abbild des gesamten Verfalles.


    Gruß, Leibgeber

    Ich vergesse das meiste, was ich gelesen habe, so wie das, was ich gegessen habe; ich weiß aber soviel, beides trägt nichtsdestoweniger zu Erhaltung meines Geistes und meines Leibes bei. (G. C. Lichtenberg)