Februar 2011: Franz Kafka: Erzählungen

  • In dieser Leserunde werden verschiedene Erzählungen von Franz Kafka gelesen, vorzugsweise solche die mit seiner Einwilligung veröffentlicht wurden. Zu der jeweils gerade gelesenen Erzählung werden in diesem Thread der jeweilige Text und möglicherweise auch weiterführende Hinweise verlinkt. Es empfiehlt sich immer erst den Text zu lesen und dann erst die Interpretationen. Die erste Erzählung heißt: „In der Strafkolonie“.


    Hier findet man den Text:


    http://www.digbib.org/Franz_Kafka_1883/In_der_Strafkolonie



    und hier weiterführende Links:


    1. Eine Rezenson von Peter Panter alias Kurt Tucholsky in der „Weltbühne“ vom 3. Juni 1920


    http://www.textlog.de/tucholsky-strafkolonie.html



    2. Die „Berliner Literaturkritik“ vom 5. Aug. 2010 über das von Klaus Wagenbach herausgegebene Buch zu Kafkas Erzählung (das Bluebell und ich lesen)


    http://www.berlinerliteraturkr…/bizarre-hinrichtung.html



    3. Inhaltsangabe und Interpretation von Martin Schlederer und Interpretation nach dem Kindler-Literaturlexikon


    http://www.theateraufcd.de/Strafkolonie.aspx



    4. Interpretation unter xlibris.de


    http://www.xlibris.de/Autoren/…e/In%20der%20Strafkolonie



    5. Hörbuch-Download (1:12 Std) und andere Hörbücher vom „Vorleser“


    http://www.vorleser.net/html/kafka2.html

  • In dieser Leserunde werden verschiedene Erzählungen von Franz Kafka gelesen, vorzugsweise solche die mit seiner Einwilligung veröffentlicht wurden. Zu der jeweils gerade gelesenen Erzählung werden in einem anderen, sogenannten Material-Thread der jeweilige Text und möglicherweise auch weiterführende Hinweise verlinkt:
    http://www.klassikerforum.de/index.php/topic,4341.0.html


    Es empfiehlt sich immer erst den Text zu lesen und dann erst die Interpretationen. Die erste Erzählung heißt: „In der Strafkolonie“.


    In dieser Leserunde kann auch an einzelnen Erzählungen mitgelesen werden, man ist dadurch nicht verpflichtet auch bei anderen Erzählungen mitzulesen und auch ohne überhaupt mitzulesen, kann man Anmerkungen oder Fragen posten.


    Ich selbst bin heute Abend beim Literaturfest „Lesen.Hören5“ in Mannheim und werde deshalb mit der Erzählung, die ich bisher auch noch nicht kenne, erst am Mittwochabend beginnen.


    Allen die mitlesen, wünsche ich, soweit das bei Kafka möglich ist, viel Spaß und vor allem einen Zugang zu Kafkas Werk.


    Hubert

  • Hubert: Danke fürs Eröffnen des threads. Spaß habe ich bei Kafka eigentlich immer :smile:


    Ich habe heute morgen die Erzählung gelesen und mir fällt es gar nicht so leicht, etwas darüber zu schreiben.


    Mir fiel die neutrale, fast unbeteiligte Haltung des Reisenden auf. Dieser kommt von außen und soll eine grausame Foltermethode begutachten, will sie aus reiner Neugier auch begutachten. Durch die Erzählhaltung findet sich der Leser in der Sicht des Reisenden wieder, jedenfalls ist dieser nicht umittelbar an den wirklich deutlich geschilderten Grausamkeiten beteiligt und so kann sich der Leser auch mit gutem Gewissen an die Foltermaschine heranwagen. Ich fühlte mich zwar abgestoßen, gleichzeitig aber auch fasziniert von den Beschreibungen. Wenn man den Zeitpunkt bedenkt, wann die Erzählung geschrieben wurde (1914), könnte das eine Haltung der "Kriegsmitläufer" widerspiegeln.


    Ein weiteres Thema ist der Offizier, der von der Methode überzeugt ist, weil sie seiner Meinung nach eine erlösende Wirkung auf die Seele hat. Geht es ihm darum oder ist es nur ein vorgeschobener Grund, nämlich um Macht und Grausamkeit zu kaschieren ? Ich denke, dass er eine Art Fanatismus vertritt, denn jegliches Nachdenken über die tatsächliche und objektive Wirkungsweise des Apparates lehnt er ab. Ja, er ist sogar bereit, für seine Überzeugung einen sinnlosen Tod zu sterben, was mich wieder zum Krieg bringt.


    Der Schluß, das plötzliche Abreisen, kann ich mit nicht so richtig erklären ?

  • In meiner Ausgabe ist die eigentliche Erzählung in einen ziemlich umfangreichen Kommentar eingebettet. Den ersten Teil (sozusagen das Vorwort) habe ich noch mit Begeisterung gelesen, das Nachwort bewegt sich dann aber thematisch teils doch recht weit weg und war mir abschnittsweise zu langweilig, um es genau zu lesen.


    Außerdem bin ich noch nicht dazu gekommen, mir die im Materialienthread verlinkten Interpretationen durchzulesen (danke übrigens für die Zusammenstellung!), also kommen hier erstmal nur meine ganz eigenen Eindrücke.


    Mich hat die Blutrünstigkeit in dieser Erzählung total überrumpelt - damit hatte ich gerade bei Kafka überhaupt nicht gerechnet! Taucht so etwas denn öfter in seinem Werk auf? Ich habe ja erst ganz wenig von ihm gelesen (Amerika und ein paar Erzählungen), aber mit Kafka assoziiere ich wenn dann nur psychologischen Horror, ohne solche explizite Brutalität!


    Wobei ich den Reisenden eigentlich nicht unbeteiligt fand. Gut, er reagiert vielleicht nicht so hysterisch emotional :breitgrins: , wie ich das in seiner Situation täte, aber es wird ja schon deutlich, dass er dieser Folterung sehr, sehr ablehnend gegenübersteht. Und das parallel dazu vorhandene - ich nenne es jetzt mal - fachliche Interesse, diese wissenschaftlich orientierte Faszination, die springt ja sogar auf den Leser über.
    Allerdings enthält meine Ausgabe auch noch ein paar Varianten für den Schluss, die ich durch die Bank emotionsgeladener in Erinnerung habe - im Vergleich dazu wirkt der Reisende in der Endfassung tatsächlich am nüchternsten, "unbeteiligtsten".


    Apropos meine Ausgabe - sagt euch "Der Garten der Qualen" von Octave Mirbeau etwas, das im Vorwort als eine der Hauptquellen für die Strafkolonie genannt wird?


    Und eine Detailfrage: wer sind denn diese Frauen des Kommandanten, die an ein paar Stellen erwähnt werden?


    Der Offizier ist für mich genau wie für Steffi ein Fanatiker, der das mit der Erlösung der Seele durch die Maschine einfach glauben will.


    Den Schluss habe ich mir, glaube ich, so erklärt, dass den Reisenden der ganze Wahnsinn der Situation übermannt und er deshalb so schnell wie möglich verschwinden will und auch nichts mit Leuten zu tun haben möchte, die in irgendeiner Weise in dieser Sache "drinhängen". Allerdings kann es sein, dass mir gewisse Details gerade nicht einfallen ...


    Mit meinen restlichen Notizen melde ich mich demnächst.

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."

  • Hallo Bluebell,


    ja, die Frauen haben mich auch irritert.


    Blutrünstig im eigentlichen Sinne fand ich die Beschreibung nicht, allerdings doch sehr intensiv und ekelerregend. Insofern sind wir schon bei Kafka, denn ich finde, dass er mit wenigen Worten immer sehr schön einen gewissen Ekeleffekt erreichen kann. In der "Verwandlung" zum Beispiel.


    Der Schluss - es stimmt, es sieht aus wie eine Flucht und er setzt sich mit dem Geschehen nicht auseinander. Das hätte man sich ja gewünscht, dass sich einer mal traut, was dagegen zu sagen bzw. sich an den aktuellen Kommandanten zu wenden. Aber nun ist der Fanatiker tot und alles ist gut ... Traurig !


  • Blutrünstig im eigentlichen Sinne fand ich die Beschreibung nicht, allerdings doch sehr intensiv und ekelerregend. Insofern sind wir schon bei Kafka, denn ich finde, dass er mit wenigen Worten immer sehr schön einen gewissen Ekeleffekt erreichen kann.


    Im Kommentar meiner Ausgabe ist der Bericht von jemandem enthalten, der miterlebt hat, wie Kafka die Erzählung persönlich bei einer Lesung vorgetragen hat:


    Seine Stimme mochte entschuldigend klingen, aber messerscharf drangen seine Bilder in mich ein, Eisnadeln voller abgründiger Quälerei.


    Laut diesem Zeugen wurden sogar mehrere Zuhörerinnen ohnmächtig und mussten aus dem Saal getragen werden!

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."

  • Hallo Steffi,
    hallo Bluebell,


    gestern Abend habe ich endlich auch die Erzählung zu Ende gelesen und ich muss sagen, dass ich am Ende einer Lektüre noch nie so ratlos war. Zwei Sachen vor allem haben mich irritiert:


    1. Wie unbeteiligt ich diese Grausamkeiten gelesen habe, und ich denke dass das nicht nur an Kafkas Sprache und seiner unemotionalen Erzählweise liegt, sondern dass wir , obwohl wir einerseits stolz darauf sind nicht mehr so barbarisch wie die Menschen im Mittelalter zu sein, wo ja öffentliche Hinrichtungen geradezu Volksbelustigungen darstellten, andererseits gegenüber Kafkas Zeiten, wo Menschen beim Hören dieser Erzählung zum Teil in Ohnmacht fielen wieder zunehmend verrohen (wahrscheinlich bedingt durch Film und Fernsehen?)
    2. Für mich ergab sich keinerlei Interpretationsansatz, ich will deshalb das Wochenende mal nutzen um etwas in der Sekundärliteratur zu lesen und hoffe bis morgen Abend etwas ausführlicher hier schreiben zu können und auch auf Eure Beiträge einzugehen. Erinnert hat mich die Erzählung nicht so sehr an das was ich bisher von Kafka kenne, sondern an E.A. Poe, aber dann habe ich gelesen, dass Kafka vermutlich Poe gar nicht kannte und war enttäuscht bis ich den Hinweis fand, dass Kafka die Poe – Erzählung „Die Grube und das Pendel“ mit Sicherheit kannte. Die Egge also als technische Weiterentwicklung von Poes Pendel? Nun ja, das wäre die Erklärung eines Details und noch kein Interpretationsansatz. Also hoffentlich morgen Abend mehr


    LG


    Hubert

  • Verrohung - hm, natürlich sind wir durch die Fernsehbilder einiges gewöhnt, aber hier spielt es sich doch "nur" im Kopf ab. Ich denke, dass dieses Unbeteiligtsein auch ein gewisser Schutzmechanismus ist, den wir da eingeübt haben.


    Trotzdem zeigt uns Kafka, und das schätze ich an Kafka immer, die eigentliche Grausamkeit des Menschen, die uns immer noch erschlägt, sei es innerhalb eines kleinen familiären Kreises oder eben in einer fernen Kolonie. Hat Kafka den Titel selbst gefunden oder wurde die Erzählung nachträglich so genannt ? Ansonsten erübrigt sich nämlich das Nachdenken, wo diese Strafkolonie eigentlich ist.


  • Verrohung - hm, natürlich sind wir durch die Fernsehbilder einiges gewöhnt, aber hier spielt es sich doch "nur" im Kopf ab. Ich denke, dass dieses Unbeteiligtsein auch ein gewisser Schutzmechanismus ist, den wir da eingeübt haben.


    Trotzdem zeigt uns Kafka, und das schätze ich an Kafka immer, die eigentliche Grausamkeit des Menschen, die uns immer noch erschlägt, sei es innerhalb eines kleinen familiären Kreises oder eben in einer fernen Kolonie. Hat Kafka den Titel selbst gefunden oder wurde die Erzählung nachträglich so genannt ? Ansonsten erübrigt sich nämlich das Nachdenken, wo diese Strafkolonie eigentlich ist.


    Ich danke Dir, Steffi, für das Wort Schutzmechanismus und hoffe, dass Du Recht hast und ich mir nur einen Schutzmechanismus aufgebaut habe und nicht wirklich verrohe (Tatsächlich schaue ich mir seit Jahren weder im Fernsehen noch im Kino Filme an, in denen Grausamkeiten gezeigt werden, auch keinerlei Krimis)


    Für Kafka hoffe ich, das Du auch darin Recht hast und er uns nur die Grausamkeit der Menschen vor Augen halten will und nicht wirklich zur Grausamkeit neigte, was ich inzwischen auch, durch lesen von Sekundärliteratur, annehmen könnte. Der Titel stammt, nach allem was ich bisher gelesen habe tatsächlich von Kafka, trotzdem glaube ich, dass wir nicht wirklich darüber nachdenken müssen, wo sich die Strafkolonie befindet. Das Problem, bei vorhandenen Kafka-Interpretationen besteht imo darin, dass Kafka in deutscher Sprache geschrieben hat und deshalb von Germanisten interpretiert wird, die aber vom Judentum normalerweise keine Ahnung haben. Obwohl ich am Wochenende durch berufliche Arbeit, Kinobesuch und nicht länger aufschiebbare Kontaktpflege mich nicht so viel mit Kafka beschäftigen konnte, wie ich wollte, habe ich einen Hinweis gefunden, der imo in die richtige Richtung weist: Nicht nur Kafkas Erzählung „Das Urteil“ ist in der Nacht nach „Jom Kippur“ entstanden, sondern auch die Erzählung „In der Strafkolonie“ ist unmittelbar vor oder nach „Jom Kippur“ geschrieben worden. Was das bedeutet?: in Kürze mehr!


    Grüße


    Hubert


  • Für Kafka hoffe ich, das Du auch darin Recht hast und er uns nur die Grausamkeit der Menschen vor Augen halten will und nicht wirklich zur Grausamkeit neigte, was ich inzwischen auch, durch lesen von Sekundärliteratur, annehmen könnte.


    Ich kenne mich in Kafkas Biografie nicht so gut aus und neige dazu, seine Geschichten einfach so auf mich wirken zu lassen. Schon bei meiner Beschäftigung mit der "Verwandlung" habe ich gemerkt, wie viele unterschiedliche Interpretationsansätze es gibt und eigentlich waren alle nicht so einfach von der Hand zu weisen.


    Dein Hinweis, Hubert, auf Jom Kippur machte mich natürlich gleich neugierig und ich habe dann den entprechenden Artikel in wikipedia gelesen. Demnach scheint die Idee der Zeremonie darin zu liegen, die Sünden an den bösen Geist zurückzusenden, dessen Einfluss sie ihr Entstehen verdankten (Quelle: wikipedia.de) Gehen deine Hinweise in diese Richtung ? Das passt natürlich ebenfalls sehr schön, das Blut und die Zeremonie bzw. Ritualisierung des Todes, danach kann der unbeteiligte, gereinigte Zuschauer wieder seinem Leben nachgehen ...


  • Ich kenne mich in Kafkas Biografie nicht so gut aus


    Ich mich auch nicht - ich weiß zwar manches, "was man halt so über ihn weiß" (schwieriges Verhältnis zum Vater, Jusstudium, wollte eigentlich kaum etwas veröffentlichen lassen etc.), aber solche Details wie die Beziehung zu E. A. Poe, Jom Kippur oder ein möglicher Hang zur Grausamkeit sind mir neu. Ich habe auch keine Sekundärliteratur und kann mich momentan leider nicht so oft und ausgiebig ins Internet hängen, wie ich das gerne möchte, aber ich lese sehr interessiert, was du da alles ausgräbst, Hubert! (Habe mir auch schon die verlinkten Rezensionen aus dem Materialen-Thread angesehen.)



    [...] und nicht wirklich zur Grausamkeit neigte, was ich inzwischen auch, durch lesen von Sekundärliteratur, annehmen könnte.


    Darf ich fragen, was genau dich darauf gebracht hat? Das interessiert mich brennend, weil ich darüber überhaupt noch nie etwas gehört habe! Unvorbelastet wie ich war, bin ich auch beim Lesen der Strafkolonie zu keinem Zeitpunkt auf den Gedanken gekommen, Kafka selbst könnte irgendwelche sadistischen Züge haben. Aber wenn man so etwas über ihn gelesen hat, kann man natürlich schon auf die Idee kommen ... ich habe diese Facette aber ähnlich wie Steffi eher als ein "Aufzeigen" wahrgenommen.



    [...] und neige dazu, seine Geschichten einfach so auf mich wirken zu lassen.


    Das funktioniert hier (und damals bei Amerika) für mich ganz wunderbar. Unabhängig von der intellektuellen Ebene entwickeln diese Texte nämlich einen ganz hypnotischen Sog, scheint mir. Ein bisschen fühlt es sich so an, als ob beim Lesen die ganze Zeit über eine unterschwellige "Gefahr" (?) in der Luft liegt, aber trotzdem will ich ich mich nicht so recht gegen den Strudel wehren, der sich da auftut. "Halb zog er mich, halb sank ich hin ..." :zwinker:

    "Date a girl who reads. Date a girl who spends her money on books instead of clothes. She has problems with closet space because she has too many books. Date a girl who has a list of books she wants to read, who has had a library card since she was twelve."

  • Hallo Steffi,
    hallo Bluebell,


    vielen Dank für Eure Beiträge und vor allem für die Geduld die ihr mit mir habt.



    Wenn man den Zeitpunkt bedenkt, wann die Erzählung geschrieben wurde (1914), könnte das eine Haltung der "Kriegsmitläufer" widerspiegeln.


    Die Erzählung „In der Strafkolonie wurde ca. 2 Monate nach Beginn des 1. Weltkriegs geschrieben, da gab es imo keine Mitläufer – alle? waren vom Krieg begeistert. Das Mitläufertum ist, wenn man unseren Eltern bzw. Großeltern glauben darf, ein Phänomen des 2. Weltkriegs.


  • Ein weiteres Thema ist der Offizier, der von der Methode überzeugt ist, weil sie seiner Meinung nach eine erlösende Wirkung auf die Seele hat. Geht es ihm darum oder ist es nur ein vorgeschobener Grund, nämlich um Macht und Grausamkeit zu kaschieren ?


    Ich denke, dass der Offizier an die Sache glaubt, - wäre es nur ein vorgeschobener Grund – würde er sich dann selbst unter die Egge legen?


  • Mich hat die Blutrünstigkeit in dieser Erzählung total überrumpelt - damit hatte ich gerade bei Kafka überhaupt nicht gerechnet! Taucht so etwas denn öfter in seinem Werk auf? Ich habe ja erst ganz wenig von ihm gelesen (Amerika und ein paar Erzählungen), aber mit Kafka assoziiere ich wenn dann nur psychologischen Horror, ohne solche explizite Brutalität!


    Schau Dir mal den Schluß vom Prozeß an:


    „Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. »Wie ein Hund!« sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.“


  • Apropos meine Ausgabe - sagt euch "Der Garten der Qualen" von Octave Mirbeau etwas, das im Vorwort als eine der Hauptquellen für die Strafkolonie genannt wird?


    zum Buch:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Garten_der_Qualen


    zum Autor (sehr interessant Mirbeaus Beziehungen zu Zola und zu den Impressionisten)
    http://de.wikipedia.org/wiki/Octave_Mirbeau


    und hier der Text:
    http://www.zeno.org/Literatur/…man/Der+Garten+der+Qualen


    Erstaunlich sind die inhaltlichen Übereinstimmungen von Kafkas Erzählung und Mirbeaus Roman: z.B. beklagen sowohl Kafkas Offizier als auch Mirbeaus Folterer den Verfall der Kultur des Folterns, die beide auch als eine Art Kunst ansehen. Ist das noch Inspiration oder schon Plagiat? Sollte Dr. Kafka zu seiner Doktorarbeit ähnlich inspiriert worden sein, wie zu dieser Erzählung, müsste man ihm dann nicht den Doktortitel aberkennen? Fragen über Fragen! :breitgrins:


  • Schon bei meiner Beschäftigung mit der "Verwandlung" habe ich gemerkt, wie viele unterschiedliche Interpretationsansätze es gibt und eigentlich waren alle nicht so einfach von der Hand zu weisen.


    Das, liebe Steffi, ist natürlich so und nicht nur bei Kafka.


    Am Sonntagvormittag war ich bei einer Weinprobe mit Roberto Ciulli, dem Impressario des Theaters an der Ruhr und der erzählte, dass in seinem Theater jedes Stück vier Autoren hat:


    1. Den Stückeschreiber
    2. Das Regieteam (Regisseur, Bühnenbildner, Kostümbildner, Lichttechniker)
    3. Die Schauspieler, weil er als Regisseur, den Schauspielern die Freiheit zur eigenen Inspiration lässt.
    4. Der Zuschauer


    Übertragen auf das Buch, fallen natürlich Autor 2 und 3 weg, aber jeder Leser liest seinen eigenen Roman und das ist natürlich ein anderer als der, den der Schriftsteller geschrieben hat. Trotzdem ist jede dieser Interpretationen richtig, es ist imo nicht nötig den Roman des Autors zu verstehen, der eigene Roman ist selbstverständlich für den jeweiligen Leser der Wichtigere und Bessere. Trotzdem ist es natürlich interessant, als zweiten Schritt hinter das Geheimnis des Autorenromans zu kommen.


  • Dein Hinweis, Hubert, auf Jom Kippur machte mich natürlich gleich neugierig und ich habe dann den entprechenden Artikel in wikipedia gelesen. Demnach scheint die Idee der Zeremonie darin zu liegen, die Sünden an den bösen Geist zurückzusenden, dessen Einfluss sie ihr Entstehen verdankten (Quelle: wikipedia.de) Gehen deine Hinweise in diese Richtung ? Das passt natürlich ebenfalls sehr schön, das Blut und die Zeremonie bzw. Ritualisierung des Todes, danach kann der unbeteiligte, gereinigte Zuschauer wieder seinem Leben nachgehen ...


    Ja, mein Hinweis ging in diese Richtung und Du hast das Ziel so schön in Worte gefaßt, dass ich im Moment nichts weiter dazu schreiben möchte, wir sollten aber auf Jom Kippur zurück kommen wenn wir das Urteil gelesen haben, das ja auch unter dem Eindruck von Jom Kippur entstanden ist


  • Darf ich fragen, was genau dich darauf gebracht hat? Das interessiert mich brennend, weil ich darüber überhaupt noch nie etwas gehört habe! Unvorbelastet wie ich war, bin ich auch beim Lesen der Strafkolonie zu keinem Zeitpunkt auf den Gedanken gekommen, Kafka selbst könnte irgendwelche sadistischen Züge haben. Aber wenn man so etwas über ihn gelesen hat, kann man natürlich schon auf die Idee kommen ... ich habe diese Facette aber ähnlich wie Steffi eher als ein "Aufzeigen" wahrgenommen.


    Du, liebe Bluebell darfst mich alles fragen, ich hoffe dann nur, dass ich auch eine adäquate Antwort bieten kann:


    Dass es bei Kafka sadistische bzw. masochistische Tendenzen gibt, hatte ich schon vermutet, seit ich das 5. Kapitel im „Prozeß“ gelesen habe, wo der lederbekleidete Prügler die zwei Wächter mit der Rute auspeitscht:

    http://www.digbib.org/Franz_Ka…+Kapitel%3A+Der+Pr%FCgler


    Jetzt hatte ich in der Sekundärliteratur Hinweise auf Hinweise in seinen Briefen zu solchen Tendenzen gefunden. Da ich die Sekundärliteratur im Moment nicht im Zugriff habe, Dir aber trotzdem antworten wollte, habe ich direkt in den Briefen geblättert und z.B. folgendes gefunden:


    In einem Brief an die Journalistin und Schriftstellerin Milena Jesenska schreibt Kafka:


    "Ja, das Foltern ist mir äußerst wichtig, ich beschäftige mich mit nichts anderem als mit Gefoltertwerden und Foltern.“


    Und schon 1913, also 1 Jahr bevor „In der Strafkolonie“ geschrieben wurde, schreibt er an Grete Bloch, ein Freundin von Felice Bauer, über die:


    „Lust, schmerzliches möglichst zu verstärken.“


  • Das funktioniert hier (und damals bei Amerika) für mich ganz wunderbar. Unabhängig von der intellektuellen Ebene entwickeln diese Texte nämlich einen ganz hypnotischen Sog, scheint mir. Ein bisschen fühlt es sich so an, als ob beim Lesen die ganze Zeit über eine unterschwellige "Gefahr" (?) in der Luft liegt, aber trotzdem will ich ich mich nicht so recht gegen den Strudel wehren, der sich da auftut. "Halb zog er mich, halb sank ich hin ..." :zwinker:


    Wow, das hast Du ja schön ausgedrückt – und weil Du „Amerika“ (bzw. Der Verschollene) erwähnst – diesen Sog habe ich dort auch so empfunden, bis „Brunelda“ auftauchte – aber dann war der Sog weg und es war nun schwer für mich diese „Brunelda-Geschichte“ zu Ende zu lesen. Wie war das bei Dir’?


  • Übertragen auf das Buch, fallen natürlich Autor 2 und 3 weg, aber jeder Leser liest seinen eigenen Roman und das ist natürlich ein anderer als der, den der Schriftsteller geschrieben hat. Trotzdem ist jede dieser Interpretationen richtig, es ist imo nicht nötig den Roman des Autors zu verstehen, der eigene Roman ist selbstverständlich für den jeweiligen Leser der Wichtigere und Bessere.


    Schön, dass du wieder da bist, Hubert !


    Da stimme ich dir natürlich zu ! Für mich ist allerdings Kafka ein Schriftsteller, bei dem wirklich viele individuelle Leserinterpretationen möglich sind. Es gibt ja auch Romane, bei denen jeder auf mehr oder weniger diesselbe Sichtweise und Interpretation kommt.


    Ob Kafka tatsächlich Lust an Gewalt/Folter hatte oder ob er solche Dinge aus Provokation schrieb ? Eine Art Inszenierung der Gewalt, die er vielleicht auch durch seinen Vater erfahren hat ? Ich bin mir da noch nicht ganz sicher.
    Es ist auf jeden Fall eines seiner immerwiederkehrenden Themen, auch wenn es z.B. als Leiden verschlüsselt wird.