Januar 2010 - Marcel Proust: Freuden und Tage

  • Guten Morgen,


    so, ich habe „Freuden und Tage“ nun auch abgeschlossen. „Das Ende der Eifersucht“ hat mich auch sehr an die Recherche erinnert: diese wahnhafte Liebe, untrennbar verbunden mit Eifersucht, die zwanghafte Überwachung der Geliebten, die ständigen Vorstellungen von deren Untreue…wie später bei Albertine. Und hier wie dort kann die Eifersucht nur durch den Tod beendet werden. Eine Kleinigkeit, die mich auch noch an die Recherche erinnert hat: der kleine Junge, dem soviel am Gutenachtsagen der Mutter liegt. Es stimmt schon, „Freuden und Tage“ wirkt tatsächlich wie eine Vorübung für das spätere Werk. Es würde mich interessieren, wie das Buch wirkt, wenn man die Recherche noch nicht kennt.


    Was die „Klagen und Träumereien“ betrifft, kann ich mich Eurem begeisterten Urteil nur anschließen. Ein paar Gedanken dazu:


    - Sehr schön fand ich die Geschichte des Hauptmanns in VII. Die Erinnerungen, die sich um so schneller verflüchtigen, je mehr man sie zu halten versucht, wie der „Glanz der Flügel eines Schmetterlings“; und am Schluss schmerzt der Verlust der Erinnerung nicht einmal mehr: wie traurig, wie wahr.
    - Die „Lobrede auf die schlechte Musik“: habt Ihr das als ernst oder ironisch empfunden? Ich bin mir nicht ganz sicher…
    - in XVI „Der Fremde“ taucht wie bei Baldassare Sylvande der viel zu selten eingeladene Gast – man selbst – auf. Ein sehr schönes Bild für die Flucht in die Gesellschaft, weil man nicht allein sein kann.
    - XIV „Begegnung am See“ und XVII „Der Traum“ greifen wieder das Motiv auf, dass Liebe ohne Mitwirkung der angebeteten Person, nur im Kopf des Liebenden entstehen kann. Die Geschichten sind sicher auf die Spitze getrieben, aber ich finde, Proust stellt hier sehr gut dar, wie viel von der Zuneigung gegenüber anderen Menschen gar nicht von diesen herrührt, sondern aus den eigenen Gedanken und Empfindungen.
    - XXII „Leibhaftige Gegenwart“ hat mich an die Gedanken in Teil 1 der Recherche zu den Ortsnamen erinnert.



    Dieses Buch ist viel später entstanden als "Tage und Freuden". Vielleicht hat Proust viele Hemmungen mit zunehmendem Alter abgelegt ...



    Je oller, je doller? ;-)



    ...


    Marcel Proust nahm auch Privatstunden bei Darlu und man vermutet, dass hier die Wurzel für Prousts Verachtung gegenüber dem Besitz von Büchern liegt. Er leiht sich lieber Bücher aus und wenn er sich eines kauft, verschenkt er es oder lässt es wieder zurückbringen. Er verschenkt, aber er behält nicht. (S. 268, Marcel Proust Biographie von Jean-Yves Tadié). Eine solche Handlung findet sich auch in Jean Santeuil.


    Das ist sehr interessant, danke Maria! Immerhin was den Besitz von Büchern betrifft, habe ich etwas mit Proust gemeinsam…


    Viele Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo zusammen !


    Ich habe "Freude und Tage" heute auch beendet.


    Tatsächlich habe ich ebenfalls "Das Ende der Eifersucht" als kleine, kompromierte Recherche empfunden. Noch nicht so elegant vielleicht, dafür durch die Kürze deutlicher.


    Zitat von Sir Thomas

    Was bleibt, sind einige unsterblich schöne "Gemälde" in den "Klagen und Träumeien", die ich nicht missen möchte.


    Da stimme ich dir zu, insgesamt sind die Erzählungen wirklich nicht geeignet, einen neuen, anderen Proust zu finden.


    Bei den "Klagen und Träumereien" gefielen mir besonders die Stellen, in denen die Natur eine Rolle spielt, so gleich zu Anfang in I "Tuilerien", II "Versailles" und XXVII "Die Kastanienbäume".


    Zitat von Manjula

    Die „Lobrede auf die schlechte Musik“: habt Ihr das als ernst oder ironisch empfunden? Ich bin mir nicht ganz sicher…


    Ich würde es eher schon als sarkastisch bezeichnen obwohl es, da er die Bedeutung der Musik als moralische Institution angreift, auch recht zynisch klingt. Ich lese es so, dass Musik keine gesellschaftliche Funktion ausüben sollte sondern individuell mit dem Gefühl erkannt werden soll. Interessanter Gedanke !


    Gruß von Steffi


  • Ich würde es eher schon als sarkastisch bezeichnen obwohl es, da er die Bedeutung der Musik als moralische Institution angreift, auch recht zynisch klingt. Ich lese es so, dass Musik keine gesellschaftliche Funktion ausüben sollte sondern individuell mit dem Gefühl erkannt werden soll. Interessanter Gedanke !


    Hallo Steffi,


    es gab immer wieder Versuche, aus Musik "mehr" zu machen bzw. mehr in sie hineinzudeuten, als die musikalischen Zutaten "Rhythmus, Melodie und Harmonie" hergeben. Die Idee, dass ein Musikstück außermusikalische Bedeutungen enthält, fand ich schon immer absurd. Musik ist weder komisch noch tragisch. Beschreibungen wie "trauriges" oder "fröhliches Stück" sind natürlich zulässig (Stichwort: Moll-/Dur-Tonalität), wenn auch vom jeweiligen Hörer und dessen Kontext abhängig.


    Nun mag man sich beim Hören des Debussyschen Klavierstücks "Clair de lune" tatsächlich vom lyrischen Titel beeinflussen lassen und an nächtliche Spaziergänge in idyllischen Gärten erinnern. Das hat allerdings mit der Musik (sprich: der Partitur und dem Vortrag) nichts zu tun. Musik ist "absolut", d.h. sie benötigt keine außermusikalischen Erklärungen und Zusätze. Bezeichnungen wie "Mondscheinsonate", "Geistertrio" oder "Schicksalssymphonie" stammen deshalb bezeichnenderweise nicht vom Komponisten (Beethoven) selbst, sondern von eifrigen Interpretatoren. Dass dessen ungeachtet viele Tonkünstler ihren Werken klingende Titel wie bspw. "Totentanz" (Liszt) oder "Verklärte Nacht" (Schönberg) gaben, ist wohl den Moden ihrer Zeit geschuldet.


    Schließlich grenzt es auch an Blödsinn, in musikalischen Werken die Bündelung gesellschaftlich relevanter Strömungen zu identifizieren. Sind Beethovens Symphonien etwa die Geburt der bürgerlich emanzipierten Musik im Rahmen bzw. im Gefolge der Französischen Revolution? Natürlich nicht (was Adorno nicht daran gehindert hat, so etwas zu behaupten, wenn ich mich recht entsinne).


    Soweit meine Gedanken zur Proustschen "Lobrede auf die schlechte Musik".


    Es grüßt


    Tom

  • Hallo Tom,


    da bist du ja mit Proust völlig einer Meinung !


    Ich muss sagen, dass ich von den Künsten zur Musik am wenigsten Zugang habe, obwohl ich z.B. regelmäßig die Oper besuche. Vielleicht ist es bei Musik aber auch am einfachsten, sich den Emotionen zu überlassen, ohne dass man deutendes Beiwerk braucht.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    Eure Gedanken zu der "Lobrede" sind sehr interessant! Ich merke, dass ich Prousts Ausführungen ganz anders verstanden habe: ich dachte, er will ausdrücken, dass es Kategorien wie "schlechte Musik" gar nicht geben könne, weil sie auf jeden individuell wirkt; eine Musik, die mit angenehmen Gefühlen verbunden ist, wird der Einzelne also als schön empfinden, auch wenn sie nach "künstlerischer" Beurteilung nicht hochwertig ist. Es hat mich ein bißchen an den letzten Teil der Recherche erinnert, wo der Erzähler die Auffassung vertritt, dass auch Bücher je nach Leser ganz unterschiedlich sein können. Jetzt hat mir Eure Interpretation eine neue Sichtweise eröffnet; schön ist so eine Leserunde!


    Apropos Musik, bei itunes kann man in die vertonten Portraits reinhören. Einen Link kann ich leider nicht einstellen, aber wenn man hier:


    http://www.apple.com/de/itunes/overview/


    "Musik kaufen" anklickt und dann "Reynaldo Hahn Portraits" eingibt, erscheinen die verschiedenen Interpreten.


    Schönes Wochenende!


    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]


  • Apropos Musik, bei itunes kann man in die vertonten Portraits reinhören.


    Hallo Manjula,


    vielen Dank für diesen Hinweis, dem ich bei Gegegenheit nachgehen werde.



    ... schön ist so eine Leserunde!


    Ja. Schade, dass wir (fast) am Ende angekommen sind. Vielen Dank für Eure Beiträge; es hat mir sehr viel Spaß gemacht.


    Proust wird mich Gott sei Dank nicht verlassen. Seit einigen Tagen lese ich den vierten Band der "Recherche" (Sodom und Gomorrha). Ich muss schon sagen: Einen derartig hohen "Suchtfaktor" hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich plane immer wieder Pausen zwischen den einzelnen Bänden, halte diese aber nicht lang aus.


    Ein schönes Wochenende wünscht


    Tom