Januar 2010 - Marcel Proust: Freuden und Tage

  • Mit besten Wünschen für das neue Jahr eröffne ich unsere Proust-Runde. Ich lese die Suhrkamp-Ausgabe von 1998. Übersetzung und Anmerkungen stammen von Luzius Keller.


    Schon das Grußwort von Anatole France hat poetische Züge und macht neugierig: „Das Buch zeigt Züge eines müden Lächelns, Gebärden der Ermattung, beides nicht ohne Schönheit und Adel.“ Gefallen hat mir die Bezeichnung „Genrebilder“. Die „Treibhausatmosphäre“ mit ihren „kunstvollen Orchideen, deren seltsame und krankhafte Schönheit sich nicht von Erde nährt“ verstehe ich als Verbeugung vor Baudelaires „Fleurs du mal“, auch wenn Keller im Kommentar Maeterlincks (mir nicht bekannte) Gedichtsammlung „Serres chaudes“ (Heiße Gewächshäuser) als Referenz erwähnt. Apropos Orchideen: Ich erinnere mich noch gut an die Chrysanthemen, die im zweiten Band der „Recherche ...“ (Odettes Salon) eine Rolle spielten. Blumen scheinen so etwas wie morbide Symbole der Belle Époque bzw. der um sich greifenden Dekadenz des Fin de Siècle gewesen zu sein.


    Dann folgt das eigentliche Vorwort. Kennt jemand Prousts verstorbenen Freund Willie Heath, dessen Äußeres mit van Dyck-Portraits verglichen wird? Ich habe bislang nichts herausgefunden. Diese „Ähnlichkeit“ eines Menschen mit einem Kunstwerk nimmt m.E. einen Wesenszug unseres alten „Bekannten“ Charles Swann vorweg.


    Ich werde mich nun mit dem Leben und Sterben des Baldassare Silvande beschäftigen. Der Tod (als „Hilfe und Gnade“) hat ja schon im Vorwort eine Rolle gespielt. Das erinnert an den frühen Thomas Mann, der fast zeitgleich Geschichten schrieb wie „Der Tod“ und „Der kleine Herr Friedemann“ (beide 1897, also ein Jahr nach „Les plaisirs ...“). Der Tod als höchste Stufe der menschlichen Verfeinerung/Vollendung und als Befreiung von Künstlichkeit und Lebensferne: Keller meint, hierbei handele es sich um ein wesentliches Motiv dieser Zeit. Interessant, wenn auch schwer nachvollziebar …


    Viele Grüße


    Tom

  • Hallo Thomas,


    danke für das Eröffnen des Lesethreads. Ich beginne sehr gerne das Jahr mit Proust und bin gespannt, ob mich das "Erinnern und Vergessen" auch in Freuden und Tage begegnet.



    Mit besten Wünschen für das neue Jahr eröffne ich unsere Proust-Runde. Ich lese die Suhrkamp-Ausgabe von 1998. Übersetzung und Anmerkungen stammen von Luzius Keller.


    Ich lese ebenfalls diese Suhrkamp-Ausgabe.


    Zitat


    Schon das Grußwort von Anatole France hat poetische Züge und macht neugierig: „Das Buch zeigt Züge eines müden Lächelns, Gebärden der Ermattung, beides nicht ohne Schönheit und Adel.“ Gefallen hat mir die Bezeichnung „Genrebilder“. Die „Treibhausatmosphäre“ mit ihren „kunstvollen Orchideen, deren seltsame und krankhafte Schönheit sich nicht von Erde nährt“ verstehe ich als Verbeugung vor Baudelaires „Fleurs du mal“, auch wenn Keller im Kommentar Maeterlincks (mir nicht bekannte) Gedichtsammlung „Serres chaudes“ (Heiße Gewächshäuser) als Referenz erwähnt. Apropos Orchideen: Ich erinnere mich noch gut an die Chrysanthemen, die im zweiten Band der „Recherche ...“ (Odettes Salon) eine Rolle spielten. Blumen scheinen so etwas wie morbide Symbole der Belle Époque bzw. der um sich greifenden Dekadenz des Fin de Siècle gewesen zu sein.



    später wurde die Chrysantheme ein Ausdruck des Schmerzen und der Eifersucht Swanns, als er eine Chrysantheme in der Kommode aufbewahrt und diese meidet.


    nicht zu vergessen die Cattleya, eine Orchideensorte, mit ihren wellig-gekräuselten Lippen, die Swann in der schaukelnden Kutsche zum Anlass nahm Odettes Blumengesteck in ihrem Ausschnitt zu ordnen... später wird "Cattleya machen" zu einem Synonym für "Liebe machen".



    Zitat


    Dann folgt das eigentliche Vorwort. Kennt jemand Prousts verstorbenen Freund Willie Heath, dessen Äußeres mit van Dyck-Portraits verglichen wird? Ich habe bislang nichts herausgefunden. Diese „Ähnlichkeit“ eines Menschen mit einem Kunstwerk nimmt m.E. einen Wesenszug unseres alten „Bekannten“ Charles Swann vorweg.



    das Bild wurde von Paul Nadar gemacht und findet sich hier:


    http://www.marcelproust.it/gallery/heath.htm


    in der Proust Biographie von Tadié gibt es einen kleinen Abschnitt zu Willie Heath auf der Seite 201, das obige Bild ist darin auch enthalten.


    mir gefiel in Anatole France Einführung, dass er den Zusammenhang erkannte zwischen Hesiods "Werke und Tage" vs "Freuden und Tage". Pries Hesiod die bäuerliche Lebensweise, die den gesellschaftlichen Verfall aufhalten könnte, beschwört Proust die mondänen Vergnügungen der Fin de siècle-Gesellschaft.


    ich komme zu "Willie Heath".


    Schöne Grüße,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo zusammen,


    auch von mir alles Gute für 2010 - schön, dass wir das Jahr mit Proust beginnen.


    Ich lese eine Ausgabe aus dem Propyläenverlag von 1955 (die einzige, die meine Bücherei hatte). Leider fehlt hier das von Euch zitierte Vorwort und auch der Titel (Tage der Freuden) ist anders übersetzt. Mal sehen, wo sie sich sonst noch unterscheidet.


    Zitat

    Der Tod als höchste Stufe der menschlichen Verfeinerung/Vollendung und als Befreiung von Künstlichkeit und Lebensferne


    Das könnte auch die Überschrift für das erste Kapitel sein. Der Tod erscheint hier zunächst als etwas "Romantisches" (ein unpassendes Wort, aber mir fällt leider kein besseres ein), seine Todesszene malt sich der Baron wie ein Kunstwerk aus. Als er scheinbar wieder gesund wird, hat er sogar zuerst Angst vor dem Weiterleben, denn als Kranker war er geschützt, er wurde umhätschelt und in Watte gepackt. Krankheit als Schutz vor dem rauhen Leben: ob Proust das in Bezug auf sich selbst auch so empfunden hat?


    Sehr schön fand ich noch den Satz:

    Zitat


    Er durfte jetzt lange und reizvolle Stunden tete-à-tete mit sich selbst verbringen, mit dem einzigen Gast, den er während seines Lebens zum Abendessen einzuladen vergessen hatte.


    Ich wünsche Euch ein schönes Wochenende!


    Viele Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo zusammen,


    Das könnte auch die Überschrift für das erste Kapitel sein. Der Tod erscheint hier zunächst als etwas "Romantisches" (ein unpassendes Wort, aber mir fällt leider kein besseres ein), seine Todesszene malt sich der Baron wie ein Kunstwerk aus. Als er scheinbar wieder gesund wird, hat er sogar zuerst Angst vor dem Weiterleben, denn als Kranker war er geschützt, er wurde umhätschelt und in Watte gepackt. Krankheit als Schutz vor dem rauhen Leben: ob Proust das in Bezug auf sich selbst auch so empfunden hat?


    ich bin etwas verwirrt. Du sprichst vom 1. Kapitel; ich vermute du meinst damit Der Tod des Baldassare Silvande, Freiherrn von Sylvanien ?


    das Kapitel davor "Mein Freund Willie Heath" ist aber schon in der Propyläen-Ausgabe vorhanden?
    dieses habe ich gerade gelesen.


    "mein Freund Willie Heath":

    Zitat

    Der Tod als höchste Stufe der menschlichen Verfeinerung/Vollendung und als Befreiung von Künstlichkeit und Lebensferne


    vielleicht weil man auf etwas zurückblicken kann?
    bei der Geburt sind die Seiten des Lebens leer, beim Tod gefüllt und wenn man den Toten in guter liebender Erinnerung behält oder sogar etwas für die Menschheit hinterlässt, dann ist es doch eine Art meinschliche Vollendung.


    Zitat

    S. 12
    Aber wenn er uns auch von den Verpflichtungen gegenüber dem Leben entbindet, so kann er uns nicht entbinden von denjenigen gegenüber uns selbst und vor allemm nicht von der wichtigsten, nämlich Wer und Verdienst nachzuleben.


    sehr schön fand ich den Gedanken auf S. 11:

    Zitat

    Da erkannte ich, daß Noah die Welt nie so gut sehen konnte wie aus der Arche, obwohl sie geschlossen war und Nacht über der Erde lag.


    dieses Motto spiegelt sich auch in Marcel Proust Leben wider.


    Obwohl ich jetzt nicht auf den Gedanken des Strafgerichts gekommen wäre, wie es im Anhang von Luzius Keller erklärt wird und wieder in Verbindung mit Hesiod bringt.


    Zitat

    Die Anspielung auf Noah führt die bereits im Titel durch den Bezug zu Hesiod gegebene Dekadenzvorstellung weiter. Wie die von Hesiod in den "Werken und Tagen" angedrohte Apokalypse ist die Sintflut die Strafe für den Sittenzerfall..



    Viele Grüße
    Maria

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    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • ich bin etwas verwirrt. Du sprichst vom 1. Kapitel; ich vermute du meinst damit Der Tod des Baldassare Silvande, Freiherrn von Sylvanien ?


    das Kapitel davor "Mein Freund Willie Heath" ist aber schon in der Propyläen-Ausgabe vorhanden?


    Nein, leider nicht - ich habe eben die Suhrkamp-Ausgabe bestellt und hoffe, dass ich Euch nicht zu sehr hinterherhinken werde.


    Viele Grüße
    Manjula

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  • Ich bin am Wochenende ganz ordentlich vorangekommen, lege nun eine Pause ein und warte mit Anmerkungen, bis wir alle über die Suhrkamp-Ausgabe verfügen, was den Austausch erheblich erleichtern wird.


    Viele Grüße


    Tom

  • Hallo zusammen,


    meine Ausgabe ist heute angekommen, d.h. ich kann mich ab morgen wieder beteiligen. Danke fürs Zuwarten :smile:


    Viele Grüße
    Manjula

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  • Hallo zusammen,


    ich habe nun bis zum Beginn von "Violante oder die mondäne Welt" gelesen. Das Vorwort fand ich etwa verwirrend, da mir Hesiod gar kein Begriff ist. Trotzdem, finde ich, hat Anatole France die Atmosphäre des Schreibens von Marcel Proust sehr schön erfasst.


    Das Vorwort an Willie Heath führt ja schon ein wenig in die Thematik ein. Wobei dann der Stil de Baldassare Silvande mich überrascht hat. Etwas so leichtes hätte ich mir, allein schon wegen des Titels nicht vorgestellt.


    Auffällig ist auch die Anordnung der Texte - dazu steht ja im Nachwort einiges.


    Gruß von Steffi

  • Guten Abend,


    ich habe heute bis zum Ende von "Violante" gelesen. Das Vorwort von Anatole France war für mich sehr interessant (unverständlich, dass es in meiner vorigen Ausgabe nicht drin war). Die von ihm beschriebene Treibhausatmosphäre ist uns ja schon bei den Guermantes aufgefallen. "Seltsame und krankhafte Schönheit" - kurz und treffend zusammengefasst.



    Auch "Willie Heath" stimmt gut auf das Kommende ein.

    sehr schön fand ich den Gedanken auf S. 11:


    dieses Motto spiegelt sich auch in Marcel Proust Leben wider.


    Dieser Gedanke hat mir auch sehr gut gefallen. Wer die Welt verstehen will, sollte danach nur in sein Inneres blicken.


    Die Sterbeszene von Baldassare fand ich sehr ergreifend. Bei den Glocken, die er am Ende nicht mehr hört, sondern mit dem Herz erlauscht, musste ich auch wieder an die "Verlorene Zeit" denken.


    In "Violante" wird dagegen wieder die Inhaltsleere der mondänen Welt aufgegriffen, wo die Jahreszeiten nur dafür gut sind, "um ihrer Eleganz die jeweilige Duftnote und den jeweiligen Farbton zu verleihen". Aber obwohl Violante das sieht, kommt sie gegen die "Macht der Gewohnheit" nicht an. Gleich zu Beginn wird ja angedeutet, dass ihr hier der Wille fehlt. Und auch die Liebe kommt nicht allzu gut weg:


    Zitat

    Platonische Liebe ist eine armselige Sache. Wie wir sehen werden, konnte sie etwas später bedenken, dass sinnliche Liebe noch armseliger ist.


    Zitat

    Noch kannte sie die Liebe nicht. Wenig später begann sie, unter ihr zu leiden, welches die einzige Weise ist, sie kennenzulernen.


    Für Frischverliebte wäre dieses Kapitel nichts :zwinker:


    Viele Grüße
    Manjula

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  • Wobei dann der Stil de Baldassare Silvande mich überrascht hat. Etwas so leichtes hätte ich mir, allein schon wegen des Titels nicht vorgestellt.


    Hallo, Ihr Lieben,


    diese Leichtigkeit trifft mMn. auf die gesammte Sammlung zu (soweit ich sie bislang gelesen habe, und ich bin annähernd fertig ...). Das meiste klingt wie vorbereitende Fingerübungen im Hinblick auf das Proustsche Großwerk "A la recherche ....". Am besten gefallen mir die ganz kurzen, impressionistischen Skizzen (z.B. die Prosagedichte über Maler und Musiker, aber auch "Die Klagen ..."). Ich lasse das Gelesene jetzt ein wenig wirken und warte auf Euch.


    Eilige Grüße


    Tom

  • Hallo zusammen,


    ich mußte auch erst nachschauen, wer dieser Hesiod war. Wikipedia gibt eine kurze Zusammenfassung des Werkes "Werke und Tage", das u.a. auch bekannte Mythen enthält wie den Mythos von Prometheus und der Büchse der Pandora...


    http://de.wikipedia.org/wiki/Werke_und_Tage


    Kapitel: "Violante oder die Mondäne Welt"
    darin fand ich die intertextuelle Bezugspunkte zu De imitatione Christi von Thomas a Kampis interessant.


    Wenn ich mir ein paar Auszüge aus dem Text anschaue, dann ist ein Streben nach einem hohen Maßstab, hier das christliche Leben, das Ziel.


    http://www.thomas-von-kempen.de/allgemein/werk-ausz.html


    In der Geschichte "Violante..." fand ich ebenfalls ein Streben. Ein Streben nach einem kunstvollen Leben. Volante wollte sich nicht der (mondänen) Welt entsagen.
    Sie wird zum Kunstwerk.


    [Augustin]:
    Aber man findet das Glück nur, wenn man tut, was man mit den tiefsten Neigungen seiner Seele liebt"


    [Volante]
    "Wie kannst du das wissen, der du doch nicht gelebt hast?"


    [Augustin]
    "Ich habe nachgedacht, und das ist eigentlich leben". ....


    Nebengedanke, hat eigentlich nichts mit Proust zu tun, nur mit einer Anmerkung im Anhang zum Text "Volante.." und zwar über Shakespeares "Wintermärchen". Shakespeare hat Böhmen und Sizilien ans gleiche Meer gelegt. Ich überlege mir ob hier nicht die Möglichkeit besteht, dass deswegen der Tscheche (habe eine Tante dort) als gängige Grußformel "Ahoi" sagt, so wie wir "Hallo". Sprachwissenschaftler haben natürlich ganz andere Ideen ;-) (siehe Wikipedia).


    doch der Gedanke an Shakespeare hat mir gefallen.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo Maria,


    vielen Dank für den Link zu Thomas von Kempen. Die "Imitatio Christi" war mir bislang unbekannt.


    Augustinus (v.a. dessen "Confessiones") und T. v. Kempen spielen übrigens auch in der Geschichte "Bekenntnisse eines jungen Mädchens" eine wichtige Rolle. Sie ist inhaltlich eng "verwandt" mit der Violante-Erzählung. Darauf weist auch Kellers Kommentar hin, der gewohnt kenntnisreich und nützlich ist. Manchmal habe ich allerdings das Gefühl, dass Keller mir ein wenig die "Arbeit" abnimmt und Bezüge herstellt, auf die ich gern selbst gekommen wäre. Ich habe deshalb überlegt, die Anmerkungen zunächst einmal zu ignorieren, halte das aber nicht dauerhaft aus, weil ich viele Querverweise so ohne weiteres nicht selbst entdecken würde.


    Viele Grüße


    Tom


  • Darauf weist auch Kellers Kommentar hin, der gewohnt kenntnisreich und nützlich ist. Manchmal habe ich allerdings das Gefühl, dass Keller mir ein wenig die "Arbeit" abnimmt und Bezüge herstellt, auf die ich gern selbst gekommen wäre. Ich habe deshalb überlegt, die Anmerkungen zunächst einmal zu ignorieren, halte das aber nicht dauerhaft aus, weil ich viele Querverweise so ohne weiteres nicht selbst entdecken würde.


    Ich muss zugeben, dass ich sicherlich keinerlei Querverweise aufspüren könnte. Da die einzelnen Geschichten ja jeweils in einem anderen Stil geschrieben sind, was mich konzeptionell ein wenig an den Ulysses erinnert, habe ich viel zuwenig Kenntnisse, um die einzelnen Vorlagen erkennen zu können. Hesiod, Augustinus, Thomas von Kempen etc. sagen mir leider sehr wenig bis gar nichts. Insofern fällt es mir sehr schwer, dazu etwas zu kommentieren und ich geniesse einfach den Stil.


    Maria: Danke für die links, sie waren sehr hilfreich !


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    ich lese die Querverweise sehr unterschiedlich. Manchmal sofort, wenn ich darauf stosse, manchmal erst nach dem lesen des Kapitels. Dabei kann es passieren, dass ich ein Kapitel nochmals lese, um mit der neuen Information das Gelesene auf mich nochmals wirken zu lassen. So im Unterkapitel "Oranthe", um den Erzählstil präziser wahrzunehmen. Der Hinweis, dass "Oranthe" somit zum Brennpunkt der "Fragmente" wird, fand ich sehr hilfreich. Ich bin immer noch im Kapitel Fragmente einer italienischen Komödie. Es ist als ob Proust seinen Leser über die Schulter schauen lässt und uns Vorstufen seine "Recherche" vorstellt.


    Leider bin ich nicht so schnell mit Lesen wie ich gerne sein möchte.


    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Guten Morgen,



    Es ist als ob Proust seinen Leser über die Schulter schauen lässt und uns Vorstufen seine "Recherche" vorstellt.



    Das meiste klingt wie vorbereitende Fingerübungen im Hinblick auf das Proustsche Großwerk "A la recherche ....".


    Den Eindruck habe ich auch gewonnen. Die einzelnen Geschichten sind zwar sehr unterschiedlich, aber die Recherche hat ja auch sehr viele Facetten.



    In der Geschichte "Violante..." fand ich ebenfalls ein Streben. Ein Streben nach einem kunstvollen Leben. Volante wollte sich nicht der (mondänen) Welt entsagen.
    Sie wird zum Kunstwerk.


    Findest Du? Auf mich wirkte die Geschichte so, als wollte Violante zwar ein sinnerfülltes Leben, war aber zu schwach, um den Versuchungen der eleganten Welt (die sie am Schluss nicht einmal mehr genießt, aber aus Gewohnheit nicht lassen kann) zu entsagen. Es hat mich an den Erzähler der Recherche erinnert, der den Abschied von der "Gesellschaft" auch von einem Tag auf den anderen verschiebt. Im Gegensatz zu Violante hat er den Absprung aber geschafft. Vielleicht ist Violante eher Swann vergleichbar?


    Ich bin ebenfalls im Moment bei den "Fragmenten". Sehr elegante Kurzaufnahmen voll von liebenswürdiger Ironie. Schön fand ich z.B. die Geschichte von dem Dichter, der sich so bemüht, nicht den Klischees zu entsprechen, dass er zu einem umso größeren wird.


    Für die Erläuterungen bin ich übrigens auch dankbar, weil mir zum Selbstentdecken der Querverweise leider das Hintergrundwissen fehlt.


    Euch einen schönen Wochenanfang!


    Viele Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Heute morgen habe ich "Bouvard und Pécuchet" und "Melancholische Sommertage in Trouville" gelesen. Beides hat mir sehr gut gefallen, mit am besten bisher.


    Die Satire bei "Bouvard und Pécuchet" ist sehr aufschlussreich und schön auch, mit welcher Leichtigkeit sie geschrieben ist. Endlich kann ich nun auch mit dem Begriff Pastiche etwas anfangen !


    "Melancholische Sommertage in Trouville" dagegen reicht schon in eine psychologische Erzählung hinein. Die Liebe von Francoise entsteht vollständig ohne äußere Einflüsse, ja sie wird nur durch ihre Einbildung hervorgebracht und ist trotzdem real. Erinnerung, Wirklichkeit, Gefühl verschmelzen miteinander und den erzählerischen Hintergrund liefert die Etikette der Gesellschaft.


    Gruß von Steffi

  • Ich habe gestern den Zyklus der "Klagen und Träumereien ..." beendet und bin begeistert von diesen mit leichter Hand "getuschten" Zeichnungen. Ein zentraler Gedanke dieses impressionistisch-melancholischen Reigens ist für mich im Kapitel VI enthalten: "Im Verlangen kommt alles zum Blühen, im Besitz welkt alles dahin", heißt es zu Beginn, und am Ende steht: "Alles im Leben verkommt in unmerklichen Nuancen." Das ist so etwas wie die Kurzfassung der Proustschen Lebensphilosophie, die in der "Recherche ..." später detailliert als immerwährende Mechanik der (Ent-)Täuschung, der Trauer, der Liebe, der Eifersucht, des Selbstbetrugs, der Verstellung, der Gewohnheit, des Vergessens und der Erinnerns ausgearbeitet wird (nach M. Maar).


    Innerhalb der "Freuden und Tage" scheinen mir die "Klagen und Träumereien ..." ein sehr zentraler Abschnitt zu sein. Mir haben Sie jedenfalls wesentlich besser gefallen als die handlungsorientierten Stories um Baldassare Silvande, Violante etc. Mit "Bouvard & Pécuchet" meine ich sogar ein recht schwaches Werkchen entdeckt zu haben. Als sog. "Pastiche" auf Flaubert mag der Text funktionieren. Mich hat er jedoch einfach nur gelangweilt (was Gott sei Dank eine Seltenheit bei Proust ist!).


    Es grüßt


    Tom

  • Hallo zusammen,


    Findest Du? Auf mich wirkte die Geschichte so, als wollte Violante zwar ein sinnerfülltes Leben, war aber zu schwach, um den Versuchungen der eleganten Welt (die sie am Schluss nicht einmal mehr genießt, aber aus Gewohnheit nicht lassen kann) zu entsagen. Es hat mich an den Erzähler der Recherche erinnert, der den Abschied von der "Gesellschaft" auch von einem Tag auf den anderen verschiebt. Im Gegensatz zu Violante hat er den Absprung aber geschafft. Vielleicht ist Violante eher Swann vergleichbar?



    Ich fand schon auch, dass der Wunsch ein sinnerfülltes Leben zu führen bei Violante vorhanden war. Ihre Schwäche jedoch den Versuchungen der eleganten Welt zu entsagen gipfelte sich für mich am Vorabend ihrer Hochzeit mit dem Herzog, als Honorés Brief sie erreicht und von seiner Verunstaltung berichtet. Sie wählte trotz Schwäche bewusst den „Rahmen“ für ihr Leben.


    Die „Fragmente...“ gefielen mir in ihrer unterschiedlichen Erzählstilen gut. Besonders geistreich fand ich XI „Szenario“ mit den sprechenden Einrichtungsgegenständen und der „guten Fee“.


    Als ein schönes Bonmot fand ich diesen Aphorismus:


    Ein elegantes Milieu ist jenes, in dem die Meinung eines jeden aus der Meinung der anderen besteht. Besteht sie aus dem Widerspruch zur Meinung der anderen? Dann ist es ein literarisches Milieu.


    Schöne Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)