Ihr Lieben,
ich freue mich, einen spannenden Dschungelurlaub unter der Reiseleitung eines gewissen Mr. Conrad mit Euch gebucht zu haben.
Viel Vergnügen bei der Lektüre und eine anregende Diskussion wünscht
Tom
Ihr Lieben,
ich freue mich, einen spannenden Dschungelurlaub unter der Reiseleitung eines gewissen Mr. Conrad mit Euch gebucht zu haben.
Viel Vergnügen bei der Lektüre und eine anregende Diskussion wünscht
Tom
Hier die obligatorische Sammlung für alle Wissbegierigen:
Der Autor:
http://en.wikipedia.org/wiki/Joseph_Conrad
Das Werk:
http://en.wikipedia.org/wiki/Heart_of_Darkness
Historischer Hintergrund:
http://en.wikipedia.org/wiki/Congo_Free_State
Alle Artikel sind auch in deutscher Sprache verfügbar.
Viele Grüße
tom
Da es mehrere deutsche Übersetzungen gibt, möchte ich darauf hinweisen, dass ich die von Daniel Göske lese und mich gegen die kritisierte Widmer-Version entschieden habe. In einem Hinweis betont Göske, dass er mit der Buchfassung aus dem Jahr 1902 arbeitete und nicht mit der dreiteiligen Ursprungsversion aus "Blackwood´s Magazine" (1899). Welche Unterschiede es zwischen den beiden Fassungen gibt, hat sich mir noch nicht erschlossen.
Es grüßt
Tom
Hallo,
meine Ausgabe fußt auf der Übersetzung von E.W. Freißler von 1926. Welcher Originaltext Conrads dieser Übersetzung zugrunde liegt, ist leider nicht erkennbar. Die Übersetzung liest sich angenehm; Inwiefern sie Conrads Diktion nachvollzieht, kann ich ebenfalls nicht beurteilen.
Gestern las ich die Erzählung "Jugend" von 1902, da sie ebenfalls den Erzähler Marlow aufweist. Sie ist sehr schön, aber nach den ersten 25 Seiten von "Herz der Finsternis" kann ich schon gut erkennen, dass die erstgenannte Erzählung das Niveau unseres Werkes, das ja drei Jahre früher veröffentlicht wurde, nicht erreicht.
Ich bin sehr überrascht über den scharfen kolonialkritischen Ton. Das habe ich so bisher in der britischen Literatur der Zeitgenossen noch nicht gelesen, egal ob Kipling (kaum) oder Foster (moderat).
Vielleicht liegt es daran, dass Conrad als gebürtiger Pole die Folgen der Unterdrückung am Beispiel seiner Eltern und auch seines eigenen Schicksals selbst erfahren musste.
Momentan bin ich bei der Szene, wo Marlow den Hauptsitz der Handelsgesellschaft erreicht hat und immer stärker mit Leid und Tod der Eingeborenen und der Arroganz und fehlenden Empathie der Kolonialherren konfrontiert wird. Gleichzeitig imponieren ihm auch bestimmte Merkmale derselben, z.B. dass sich der Buchhalter der Gesellschaft nicht gehen lässt, sondern wie aus dem Ei gepellt aussieht und seine Bücher penibel führt. Allerdings gelingt ihm das erstere nur, weil er sich ein "eingeborenes Weib dazu abgerichtet" hat. Brrr, wenn es eine genaue Übersetzung ist, sagt die Verwendung des Verbs schon alles über die Einstellung der Kolonisten. Hunde würden besser gehalten und nicht zum Sterben unter die Bäume geschickt.
Euch ein schönes Wochenende
HG
finsbury
Huhu,
na, wo seid ihr denn alle?
Habe nun mit dem zweiten Teil begonnen; Kurtz beginnt sich immer mehr zu konkretisieren. Bisher wurde nur gerüchtemäßig über ihn berichtet, so, dass man den Eindruck einer exzentrischenn, aber heldenhaften Gestalt bekommt, die sich positiv von den schlaffen, gleichzeitig von Gier zerfressenen "Pilgern" abhebt. Interessant, dass Conrad hier die Metapher "Pilger" (auch im englischen Original?) benutzt, obwohl es den Kolonisten doch nur um Ausbeutung und Machterweiterung geht.
Die Naturschilderungen sind sehr intensiv, hier wird Conrad auch üppig, im Gegensatz zu seiner oft knappen, andeutenden Handlungsschilderung (z.B. wird Ende des ersten Teils erzählt, dass Marlow schon lange vergeblich auf Nieten zur chiffsreparatur wartet, während der Dampfer zu Beginn von II schon kurz vor der Ankunft bei Kurtz ist, das Dazwischenliegende kommt nun wohl zum Teil in Rückblenden).
Wie gefällt's euch denn?
HG
finsbury
na, wo seid ihr denn alle?
Hier bin ich - und eile zur Fahne!
Mein "Herz der Finsternis" schlägt recht langsam. Ich bin gerade dort eingetroffen, wo Marlow den ersten apokalyptischen Reitern in Gestalt der Zwangsarbeiter und Sterbenden begegnet. Die absolute Gefühllosigkeit des Buchhalters ist erschreckend, aber Conrad zeichnet hier eine Figur, die wir 35 Jahre später in den Konzentrationslagern der Nazis wiederfinden. Auch dort haben auf Ordnung und Sauberkeit bedachte Männer ihren "Dienst" verrichtet - korrekt gekleidet vom Seitenscheitel bis zu den geputzten Schuhen.
Ich hoffe, im Laufe des Tages noch ein wenig weiter zu kommen.
Vielleicht bis später.
Liebe Grüße
Tom
Hallo riff-raff,
danke für deine genaue Recherche!
Welche Übersetzung kommt dem Original am nächsten? Vor allem wenn man bedenkt, dass "to teach" im Englischen ausser "lehren", "unterrichten", "unterweisen" etc., auch "dressieren" und "abrichten" bedeuten kann. Das Englische verfügt hier über eine interpretatorische Zweideutigkeit, die den deutschen Übersetzungen völlig abgeht; die deutschen Übersetzer müssen sich für eine der zwei Varianten entscheiden, während Conrads Englisch die Auslegung letztlich dem Leser überlässt.
Ja, das ist wieder Problem mit dem Wortreichtum unserer Sprache. Wir haben fast für jede Ausdrucksvariante ein eigenes Wort. Das aber macht eben auch den Übersetzer noch mehr als in anderen Sprachen zum Interpreten.
Aus dem Kontext heraus nun scheint mir Freißler nicht unbedingt falsch zu liegen, aber wenn ich nun den Originalauszug lese, erscheint er mir deutlich lakonischer als meine Übersetzung. Man kann aber eben auch nicht sicher sein, ob die beiden neutraleren Übersetzungsvarianten besser zu Conrads Intention passen. Werde mir den englischen Originaltext bei den Zweifelsfällen daneben legen.
Weiter gekommen bin ich noch nicht und lese heute auch nichts mehr in diesem Buch.,
Bis morgen
finsbury
Guten Morgen,
ich bin gestern noch ein wenig vorgestoßen in das finstere Herz Afrikas. Marlow dämmert allmählich, dass er einem ziemlich abstrusen "Unternehmen" dient. Über den Handelsstationen der Brüsseler "Gesellschaft" liegt nicht nur der Hitzeschleier Afrikas, sondern auch eine Atmosphäre kolonialer Brutalität und stupider Sinnlosigkeit. Deutlich wird dies vor allem in der Figur des Mannes, der eigentlich mit der Herstellung von Ziegeln betraut ist, obwohl die Rohstoffe dafür fehlen. Auch der Leiter der Station zeichnet sich allein dadurch aus, dass er so gut wie nichts unternimmt, den Dingen ihren Lauf lässt und ansonsten "gesund" bleibt, was angesichts des Klimas vielleicht eine Art von "Leistung" ist. Irgendwie fühle ich mich an Kafka erinnert, vor allem an die Erzählung "In der Strafkolonie".
Liebe Grüße
Tom
Ein Aspekt, der mir sehr gut gefällt, ist das Empfinden eines traumhaften, unwirklichen Erlebens. Kurz vor dem Aufbruch mit dem maroden Dampfer beschreibt Marlow seine Gefühle wie folgt:
„Mir kommt es vor, als versuche ich euch einen Traum zu erzählen – ein vergeblicher Versuch, weil das Erzählen eines Traums nie das Traumgefühl selbst weitergeben kann, jene Mischung aus Widersinn, Staunen und Verwirrung, gegen die man sich in verzweifelten Zuckungen auflehnt, jenes Gefühl, gefesselt zu sein vom Unfasslichen, das das eigentliche Wesen des Traums ist. [...] Nein, es ist unmöglich, das Lebensgefühl irgendeines Abschnitts in unserem Dasein weiterzugeben – das, was seine Wahrheit ausmacht, seinen Sinn, sein zartes, innerstes Wesen. Es ist unmöglich. Wir leben, wie wir träumen – allein ...“
Liebe Grüße
Tom
Hallo! :winken:
Etwas verspätet stoße ich auch noch zu eurer Runde. Ich habe "Heart of Darkness" vor ungefähr zwanzig Jahren gelesen und fand es damals sehr interessant und herausfordernd. Da sich Wahrnehmung und Geschmack in so einem Zeitraum ja doch sehr ändern können, bin ich gespannt, wie ich es jetzt lese.
Bisher habe ich nur die ersten Seiten, bis zum eigentlichen Beginn von Marlows Erzählung, geschafft. Zwei Dinge sind mir dabei besonders ins Auge gefallen: einmal, wie Marlows Geschichte eingeleitet wird:
we knew we were fated [...] to hear about one of Marlow's inconclusive (!) (ergebnislosen? wenig überzeugenden? Was steht in euren Übersetzungen?) experiences.
Ich stimme euch darin zu, dass Conrad den Kononialismus für seine Zeit erstaunlich kritisch sieht. Allerdings ist da eine Bemerkung Marlows, der ja anscheinend eine Art Sprachrohr Conrads ist, die ich ziemlich schwer verdaulich finde:
What redeems it [the conquest of the earth] is the idea only. An idea at the back of it; not a sentimental pretence but an idea; and an unselfish belief in the idea - something you can set up, and bow down before, and offer a sacrifice to ...
Das ist so schwammig formuliert, dass es fast jeder zu seiner Rechtfertigung von fast allem nutzen könnte - und so geschieht es ja auch bis heute. Den annäherend aufklärerischen Gestus, der sonst so manchmal aufscheint, lässt Conrad hier völlig vermissen.
Hallo zusammen,
ich bin nun wieder von meinem Kurz-Urlaub zurück und habe vom Herz der Finsternis ca. die Hälfte gelesen; ich bin an der Stelle, wo sie mit ihrem Boot im Nebel festsitzen, kurz bevor sie zu Kurtz kommen sollen. ( finsbury: die Pilger sind auch im englischen "pilgrims")
Was mich sehr beeindruckt, sind die Naturbeschreibungen. Man kann sich die Landschaft sehr plastisch vorstellen und bekommt auch dieses Gefühl mit, das alles nur sehr langsam vorangeht. Alle wirken wie im Halbschlaf oder Traum. Afrika wirkt wie verzaubert, aber auch unheimlich und angsteinflößend. Marlow ist fast wie ein Ritter, der sich der Höhle des Drachen nähert. Er hört immer wieder Berichte, die Kurtz wie eine mythische Person beschreiben.
Was mir noch aufgefallen ist: auch wenn Conrad sehr gut schreibt, kann ich doch selten mehr als ein paar Seiten am Stück lesen. Die Handlungsbeschreibungen halten sich, wie finsbury schon erwähnt hat, eher in Grenzen. Mir kommt es so vor, als würde die Erzählweise diese "narkotisierte" Atmosphäre im Kongo widerspiegeln (vielleicht liegt es aber auch nur an mir :zwinker:).
Viele Grüße
thopas
we knew we were fated [...] to hear about one of Marlow's inconclusive (!) (ergebnislosen? wenig überzeugenden? Was steht in euren Übersetzungen?) experiences.
Hallo, ink-heart,
Daniel Göske übersetzt: "eine Bemerkung, ... die ihm sehr ähnlich sah". Ich würde es eher so formulieren: "... ein für Marlow typisches (inconclusive) Erlebnis bzw. eine für ihn typische Geschichte ...".
...auch wenn Conrad sehr gut schreibt, kann ich doch selten mehr als ein paar Seiten am Stück lesen. Die Handlungsbeschreibungen halten sich, wie finsbury schon erwähnt hat, eher in Grenzen. Mir kommt es so vor, als würde die Erzählweise diese "narkotisierte" Atmosphäre im Kongo widerspiegeln (vielleicht liegt es aber auch nur an mir :zwinker:).
Hallo, thopas,
es liegt nicht an Dir, denn ich empfinde es ähnlich. Für mich liegt aber gerade darin der Reiz, wie ich bereits erwähnte.
Viele Grüße
Tom
"Style overrules substance." Mit diesem Urteil qualifiziert man für gewöhnlich Vorträge und Reden, die zwar rhetorisch brillant, inhaltlich jedoch vage blieben oder schwach waren. Mich beschleicht mehr und mehr das Gefühl, dass "Herz der Finsternis" unter diese Kategorie fällt. Es passiert wenig, aber dieses Wenige wird sehr schön und äußerst stimmungsvoll beschrieben, was nicht unbedingt gegen das Werk spricht. Wie geht es Euch diesbezüglich, liebe Mitstreiter?
Mittlerweile habe ich Mr. Kurtz kennengelernt. Da ich Euch nicht vorauseilen möchte, warte ich mit weiteren Anmerkungen.
Liebe Grüße von
Tom
Hallo zusammen,
ich habe nun den zweiten Teil beendet und schon etwas mehr über Kurtz erfahren. Er wirkt nach wie vor wie ein Fabelwesen und wird auch von Marlow so beschrieben. Interessant finde ich die Tatsache, daß Marlow Kurtz als jemanden beschreibt, der "spricht". Da bin ich noch gespannt, was ihn zu dieser Aussage veranlaßt.
"Style overrules substance." Mit diesem Urteil qualifiziert man für gewöhnlich Vorträge und Reden, die zwar rhetorisch brillant, inhaltlich jedoch vage blieben oder schwach waren. Mich beschleicht mehr und mehr das Gefühl, dass "Herz der Finsternis" unter diese Kategorie fällt. Es passiert wenig, aber dieses Wenige wird sehr schön und äußerst stimmungsvoll beschrieben, was nicht unbedingt gegen das Werk spricht. Wie geht es Euch diesbezüglich, liebe Mitstreiter?
Das war auch mein Eindruck, da gebe ich dir recht, Tom. Es ist eine wunderschöne Sprache und es sind sehr schöne, stimmungsvolle Landschaftsbeschreibungen, aber es passiert nicht viel. Ab und zu kommt eine Passage mit etwas mehr Handlung, z.B. der Angriff auf das Boot, nachdem sich der Nebel gelichtet hat, aber dann beschreibt Marlow wieder seine Empfindungen und seine Ansichten über Kurtz.
Ich finde, Conrad beschreibt die Zustände in den Kolonien und auch die geistige Einstellung der Angehörigen der Kolonialmächte gegenüber den Eingeborenen sehr gut. Marlow sieht die Afrikaner nicht als Menschen, sondern als "brutes", also wie Tiere, oder auch als unheimliche Geisterwesen. Als sein Steuermann stirbt ist er allerdings doch überrascht, daß er ihm so ans Herz gewachsen war. Kurtz' Einstellung gegenüber den Eingeborenen scheint sich ja auch im Laufe der Zeit verändert zu haben.
Viele Grüße
thopas
Hallo zusammen,
nun muss ich euch sagen, dass ich mich inzwischen ziemlich durch die Erzählung quäle. Viel zu viel Unwägbares, wie ink heart sagt "Schwammiges", Bewunderung an Stellen, wo ich Abstoßung empfinde (Kurtz), Gleichgültigkeit und Ekel, wo ich Mitgefühl erwarte (beim Tod des Steuermanns). Dazwischen quast sich die Handung so durch, vieles verstehe ich auch nicht, z.b. welches Komplott Marlow Kurtz überhaupt mitteilen will: Will dieser denn Direktor werden? Nun, ich bring's zu Ende , aber Conrad wird sicher nicht mein Lieblingssschriftsteller werden. Je mehr es den Kongo weiter hoch geht, desto verquaster wird es, sicherlich gewollt, dennoch nicht mein Ding.
HG
finsbury
Hallo zusammen,
ich bin jetzt durch mit dem Buch und vieles, was ihr geschrieben habt, spiegelt auch meine Leseerfahrungen wieder. Die Schilderung der Natur und des Kontinent sind atemberauben und reduzieren den Mensch auf die Grösse eines Insekts. Eine meiner Lieblingsstellen im Buch ist die folgende:
Bäume, Bäume, Millionen von Bäumen, undurchdringlich, unermesslich, hoch aufragend - und ihnen zu Füssen, dicht am Ufer, kroch das kleine, russige Dampfboot den Fluss hinauf, wie ein träges Käferchen auf dem Boden einer mächtigen Säulenhalle dahinkrabbelt.
Da kommt die ganze Einsamkeit und Nichtigkeit des Menschen zum Ausdruck. Um mit dieser prekären Situation umzugehen entwickeln Menschen unterschiedliche Strategien. Man kann sich dieser Unermesslichkeit, die einen umgibt, hingeben und dabei in Kauf nehmen, sich selbst zu verlieren (wie es letztlich mit Kurtz geschieht) oder man blendet die bedrohliche Fremdheit einfach aus, hält stur an seine Gewohnheiten und Alltagsroutinen fest, wie es der Prokurist der Handelsgesellschaft macht. Man könnte Marlows hochachtungsvolle Worte angesichts dessen gestärkten Kragen und weissen Manschetten als Ironie missdeuten, aber ich denke, er meint es wirklich ernst, wenn er behauptet, ihn zu respektieren:
Ja. Ich respektierte seinen Kragen, seine breiten Manschetten, sein gebürstetes Haar. Er sah aus wie die Schaufensterpuppe eines Frisörs, doch dem grossen Sittenverfall des Landes zum Trotz wahrte er den Schein. Das ist Rückgrat. Seine gestärkten Kragen und die makellose Hemdbrust waren Errungenschaften, die von Charakterstärke zeugten. Er war seit fast drei Jahren hier draussen [...]
Und "dort draussen gab es keine äusserliche Kontrolle", wie er etwas später betont. "Der Wahrheit dort muss [man] mit seiner eigenen Wahrheit begegnen - mit seiner natürlichen inneren Stärke."
Ich halte den Prokuristen für ein Gegenentwurf zur Figur des phantomhaften Kurtz. Heisst es nicht mehrmals im Text, dass es Kurtz an Selbstbeherrschung fehle? Und Kurtz ist hohl. So steht es jedenfalls irgendwo. Wobei ich "hohl" als 'offen für Neues', 'durchlässig', 'empfänglich' auffasse. Der Dschungel hatte bei ihm leichtes Spiel einzudringen, während beim Prokuristen die Wildnis einfach abprallt. Nicht, dass er dadurch automatisch ein Held wäre ...
Natürlich kann es sein, dass man ein zu grosser Narr ist, um in die Irre zu gehen - zu geistlos, um überhaupt zu merken, dass die Mächte der Finsternis angreifen. Ich glaube, kein Narr hat je einen Pakt mit dem Teufel geschlossen.
Gruss
riff-raff
Ich hinke euch ein wenig hinterher, verfolge eure Anmerkungen aber mit Spannung. Den ersten Teil habe ich jetzt zuende gelesen und werde mich gleich an den zweiten begeben.
Interessant fand ich bisher: Schon lange, bevor Marlows Reise tatsächlich beginnt, gibt es eine Menge Vorausdeutungen über das, was er erleben wird: die Informationen über seinen Vorgänger, den sanften Kapitän Fresleven, der wegen einer Nichtigkeit (zweier schwarzer Hennen) einen Eingeborenen brutal angreift und getötet wird, die zwei mit schwarzer Wolle strickenden Frauen - Schicksalsgöttinnen offensichtlich - und Marlows eigene Vorahnungen.
Die ersten Erlebnisse in Afrika finde ich eindrucksvoll geschildert und mit erstaunlich viel schwarzem Humor: "I felt I was becoming scientifically interesting." Richtig unheimlich, gerade weil er so normal und hohl ist, ist der Manager (Prokurist in der deutschen Übersetzung?), genauso wie sein "Spion". @ finsbury: Auf die Hohlheit des Managers wird sehr ausdrücklich hingewiesen, daher kann ich ihn bisher nicht als Gegenentwurf zu Kurtz sehen.
Ebenso ist interessant, dass die Unzulänglichkeiten der Sprache immer wieder von Marlow thematisiert werden, dass er immer wieder deutlich macht, dass er in dieser Hinsicht an seine Grenzen stößt. Auch die erste Parallele zwischen Kurtz und Marlow klingt an: Für letzteren ist Kurtz nur ein Wort; er selbst aber ist, wie sich eine knappe Seite später herausstellt, für seine Zuhörer nur eine Stimme.
... Bewunderung an Stellen, wo ich Abstoßung empfinde (Kurtz), Gleichgültigkeit und Ekel, wo ich Mitgefühl erwarte (beim Tod des Steuermanns)...
Hallo finsbury,
vielleicht erinnerst Du Dich an den Arzt, der Marlow im Auftrag der Gesellschaft untersuchte. Dessen Bermerkung "Es wäre für die Wissenschaft interessant, die mentalen Veränderungen an Individuen vor Ort zu beobachten" liefert eine Erklärung für Marlows Gefühlswelt. Der Arzt scheint aus Erfahrung zu sprechen: Der urzeitliche Dschungel, die brutale Profitgier der Kolonialherren und die "Primitivität" der Eingeborenen stumpfen die "zivilisierte" Gefühlswelt ab und hinterlassen Spuren in Marlows Seele. Über die "Deformationen", unter denen Kurzt leidet, wird sicher noch ausführlich zu sprechen sein.
Bis dahin viele Grüße
Tom
Manager (Prokurist in der deutschen Übersetzung?)
Nein, Direktor.
Auf die Hohlheit des Managers wird sehr ausdrücklich hingewiesen, daher kann ich ihn bisher nicht als Gegenentwurf zu Kurtz sehen.
Ich stimme Dir zu. Der Direktor und Kurtz sind aus identischem Holz geschnitzt. Sie unterscheiden sich in ihren Methoden. Kurtz´Methoden werden vom Direktor ausdrücklich als "unsolide" bezeichnet.
Viele Grüße
Tom
... Da kommt die ganze Einsamkeit und Nichtigkeit des Menschen zum Ausdruck. Um mit dieser prekären Situation umzugehen entwickeln Menschen unterschiedliche Strategien. Man kann sich dieser Unermesslichkeit, die einen umgibt, hingeben und dabei in Kauf nehmen, sich selbst zu verlieren (wie es letztlich mit Kurtz geschieht)
Hallo riff-raff,
das hast Du sehr schön formuliert. Im Herzen der Finsternis geht jedes menschliche Maß verloren und schafft Raum für Erfahrungen, die jenseits der „Werte“ angesiedelt sind, die von den Herren der belgischen Handelsgesellschaft vertreten werden: Ordnung, Sauberkeit, Profit. „Ich hatte ungeheure Pläne. [...] Ich stand an der Schwelle zu großen Dingen“, beschwor er [Kurtz] mich in einem Ton voller Sehnsucht und Wehmut.“ Welche Dinge das waren, bleibt weitgehend verborgen, so wie Kurtz als Figur sehr schemenhaft bleibt, ein Phantom des Urwalds.
Was erfahren wir über Kurtz? Er wird verehrt, zunächst nur von seinen eigenen Leuten (als Sendbote des Fortschritts und der Humanität), später auch von den Eingeborenen sowie dem russischen „Harlekin“, der durch ihn „Dinge gesehen hat, Dinge ...“
Kurtz lässt sich anbeten. In archaischen Riten werden ihm Menschen geopfert (die abgeschlagenen Köpfe auf den Pfählen rund um das Haus lassen dies ahnen), vermutlich auch verspeist. Ob Kurtz aktiv an diesen barbarischen Handlungen teilnimmt, bleibt unklar.
Wird Kurtz von Habgier getrieben? Ich glaube das nicht, obwohl seine einsamen Streifzüge durch die Wildnis nach Auskunft des Russen dem Elfenbein galten. „Sie können Mr. Kurtz nicht wie einen normalen Menschen beurteilen“, meint der sklavisch ergebene Russe. Marlow erkennt, dass „diese Köpfe da nicht eigentlich etwas mit Profit zu tun hatten. Sie zeigten, dass es Mr. Kurtz an Mäßigung bei der Befriedigung seiner verschiedenen Gelüste gebrach, dass ihm irgend etwas fehlte, irgendeine Kleinigkeit, die sich, als es dringend darauf ankam, nicht unter seiner großartigen Beredsamkeit fand. Ob er selbst von diesem Mangel wusste, kann ich nicht sagen. [...] Aber die Wildnis hatte ihn frühzeitig erkannt, und sie hatte für die groteske Invasion furchtbare Rache an ihm genommen.“
Gegen Profitgier als Motiv spricht auch die Auseinandersetzung, die Kurtz mit dem Direktor hat. „Mich retten – Sie meinen, das Elfenbein retten! Hören Sie doch auf! [...] Ich werde Ihnen zeigen, wozu ich noch imstande bin. Sie mit Ihren kleinlichen Krämeransichten – Sie behindern mich.“ Marlow ahnt die wahren Hintergründe. „Ich sah das unvorstellbare Geheimnis einer Seele, die keine Mäßigung, keinen Glauben und keine Furcht kannte, aber in blindem Ringen mit sich selbst lag.“ Damit erweist Kurtz sich als halbwegs würdiger Bruder Fausts, des blindwütigen Kapitäns Ahab oder gar des gefallenen Engels und der Lichtgestalt Luzifers in Miltons „Paradise lost“. Um einen Bogen in die Jetztzeit zu schlagen: In Cormac McCarthys „Die Abendröte im Westen“ erinnert die Figur des „Richters“ Holden an Conrads Phantom Kurtz.
Viele Grüße
Tom