Juli 2008-William Shakespeare: King Lear

  • Hallo,


    Der Anbruch des schönen Monats Juli signalisiert gleichzetig auch den Beginn unserer Shakespeare-Leserunde. :smile: Eine der großen Tragödien steht auf dem Programm.


    Bevor wir anfangen zu lesen, sollten wir uns erstmal darüber verständigen, welchen Text wir überhaupt lesen, da es literaturhistorisch nicht so einfach scheint herauszufinden, welches der "echte" King Lear ist. Es gibt zwei Quart-Ausgaben und eine Folio-Ausgabe, die jeweils unterschiedliche Texte beinhalten. Die erste Quart-Ausgabe ist als "Kladde" zu vernachlässigen, zwischen der zweiten Quart under der Folio-Ausgabe gibt es allerdings beträchtliche Unterschiede, da beide Ausgaben Zeilen beinhalten, die in der anderen Ausgabe nicht vorkommen. Für beide Ausgaben kann man Indizien finden, dass sie die "richtige Ausgabe" ssind, geklärt ist das aber nicht. Ich werde deshalb eine Ausgabe lesen, die beide Versionen zusammenfasst, um den vollen Text zu haben. Ich werde ausserdem auf Englisch lesen und nur bei Verständnisproblemen eine deutsche Übersetzung hinzuziehen.


    Was für einen Text lest ihr und in welcher Sprache?


    Nach diesen einleitenden Worten erkläre ich die Leserunde als eröffnet. :breitgrins:


    Gruß,
    Telemachos

  • Hallo Telemachos, hallo liebe Mitlesende,


    ich habe den Lear schon öfter gelesen, meist auch in dieser zusammengefassten Version. Diesmal habe ich mir vorgenommen, die Folio-Version zu lesen (The Tragedy of King Lear). Ich habe allerdings auch die andere Version zuhause, sodaß ich vergleichen kann, wo die Unterschiede liegen, wenn wir hier über welche stolpern sollten. (Ich lese auf englisch; ich glaube, die Folio-Version gibt es nicht auf deutsch...).


    Der Lear war bei mir übrigens auch Schullektüre; unser Lehrer meinte damals, daß er keine Lust habe, immer nur den Sommernachtstraum zu lesen, sondern mal was anderes ausprobieren möchte. Somit war der Lear mein erster Shakespeare auf Englisch. An der Uni habe ich auch mal einen Lektürekurs zu King Lear belegt, d.h. es wurde ein Semester lang in diesem Kurs nur King Lear gelesen (Zeile für Zeile; der Prof hat vorgelesen und dann dazu erklärt). Das fand ich ganz interessant; ich werde bei Gelegenheit mal im Keller nach meinen Kursunterlagen suchen, die müssen da noch irgendwo sein :smile:.


    Und jetzt auf nach Britannien! :klatschen:


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo! :winken:


    Für mich ist dieses eine Erstlektüre und ich bin schon sehr gespannt. Ich habe hier eine kompilierte Version (Arden) und eine Folioversion (Cambridge) mit Quarto-Ergänzungen im Anhang, außerdem Übersetzungen von Erich Fried und Frank Günther, in die ich öfter mal einen Blick werfen werde (Übersetzungen finde ich spannend :zwinker:). Auf welche Ausgabe ich mich einschieße, weiß ich noch nicht. Ich werde erst mal ein bisschen hin- und herlesen - kann also etwas länger dauern, bis ich in Schwung komme.

  • Ich habe bisher leider nur die erste Szene geschafft(die war aber auch lang :zwinker:)


    King Lear wird mir schon gleich sehr unsympathisch. Schließlich macht er seine Gunst nur davon abhängig, welche seiner Töchter ihn am besten mit Worten preisen kann. Er kann sie überhaupt nicht einschätzen. Die Heuchelei von Regan und Goneril erscheint ihm aufrichtig, während Cordelias aufrichtige Antwort ihm nicht passend scheint. Wie man am Ende der Szene sieht, planen Reganu und Goneril aber schon Lear abzusetzen, wenn er untragbar wird. Nur Cordelia durchschaut die Lügen der Schwestern. Kent, der vernünftig und offen wirkt, wird nach seinem Versuch zu helfen, einfach verbannt. Regan hat recht, wenn sie von Lear's "Infirmity of age"(292) spricht. Er selber denkt von sich, er sei unfehlbar.


    Bemerkenswert fand ich an der Szene auch, dass es der französische König ist, der Cordelia wegen ihrer Liebenswürdigkeit heiratet und somit zu den "Guten" gehört. Damit dürfte Shakespeare bestimt den Unmut einiger seiner Landsleute aus sich gezogen haben.


    Soviel jetzt dazu, später mehr!


    Gruß,
    Telemachos

  • Ich habe bisher den ersten Akt gelesen. Da ich den Lear schon kenne, kann ich quasi nicht mehr unvoreingenommen herangehen, da geht es mir wie bei Der Tod in Venedig. Deshalb finde ich es sehr interessant, wie ihr das Stück "erlebt", da ihr es noch nicht kennt :smile:.


    Stimmt, es ist jedesmal wieder sehr seltsam, wenn man Lear erlebt, wie er so offensichtliche Fehleinschätzungen begeht. Man müßte ja denken, daß er seine Kinder kennt, aber nein... Wahrscheinlich gibt es keine logische Erklärung dafür, außer daß es für den Handlungsverlauf des Stückes nötig ist und Lear somit im weiteren Verlauf geläutert werden kann.



    Bemerkenswert fand ich an der Szene auch, dass es der französische König ist, der Cordelia wegen ihrer Liebenswürdigkeit heiratet und somit zu den "Guten" gehört. Damit dürfte Shakespeare bestimt den Unmut einiger seiner Landsleute aus sich gezogen haben.


    Shakespeare hat die Grundhandlung des Stückes ja nicht selbst erfunden, sondern aus verschiedenen anderen Werken und Chroniken gekannt. Vermutlich ist da auch schon Frankreich derjenige, der Cordelia heiratet, aber das müßte man mal nachverfolgen. Vielleicht war das dem Publikum auch schon bekannt, sodaß es da nicht weiter darüber nachgedacht hat. England war auch immer mal wieder verbündet mit Frankreich; vielleicht ist das Stück ja auch während einer solchen Phase entstanden...


    Ich warte mit dem Weiterlesen mal auf euch :winken:.


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo! :winken:


    Ich habe auch die erste Szene gelesen (mache aber nachher noch weiter) und kann mich Telemachos soweit anschließen. Diesen Anfang finde ich erstaunlich unvermittelt - hier geht's ja gleich richtig zur Sache - und irgendwie auch psychologisch unmotiviert. So ein bisschen mehr über Lears vorangegangene Entwicklung hätte ich gerne erfahren; puren Altersstarrsinn finde ich ein bisschen dünn.


    Übrigens finde ich die englische Fassung ziemlich gut zu lesen und werfe nur ab und zu mal einen Blick in die beiden Übersetzungen. Alle Fußnoten lasse ich beim ersten Durchgang weg - es sei denn, wir diskutieren uns irgendwo fest. :zwinker:


  • ... psychologisch unmotiviert. So ein bisschen mehr über Lears vorangegangene Entwicklung hätte ich gerne erfahren; puren Altersstarrsinn finde ich ein bisschen dünn.


    Ihr Lieben,


    ich verfolge Eure Diskussion ein wenig und gestatte mir, Euer Erstaunen über Lear und dessen Verhalten ein wenig zu kommentieren.


    Bitte vergesst nicht: Lear ist König, was im alten Britannien (und nicht nur dort) bedeutete, dass er unmittelbar unter dem lieben Gott logierte. Die Hybris gegenüber den Töchtern und dem Earl of Kent wurzelt in dem Glauben, unfehlbar zu sein. Wenn seine Entscheidungen und Handlungen für Außenstehende nicht nachvollziehbar sind, beruft er sich einfach auf seine göttliche Legitimation, was jede weitere Diskussion erübrigt. Auch ist Lear natürlich nicht der moderne, auf das Wohl seiner Töchter achtende und liebende Vater, sondern in erster Linie ein Monarch, der den Fortbestand seiner Herrscherlinie sichern möchte und sichern muss.


    Viele Grüße


    Sir Thomas


  • Ihr Lieben,


    ich verfolge Eure Diskussion ein wenig und gestatte mir, Euer Erstaunen über Lear und dessen Verhalten ein wenig zu kommentieren.


    Hallo Sir Thomas,


    wir sind für alle hilfreichen Beiträge dankbar :winken:. Du hast recht treffend formuliert, was bei mir so im Kopf herumgegeistert ist, worauf ich aber jetzt erst durch deine Hilfestellung gekommen bin. Trotzdem wundert man sich über Lears Fehlentscheidung bzw. seine zu barsche Reaktion Cordelia gegenüber. Ein bißchen Einfühlungsvermögen hätte die Situation wohl ziemlich schnell geändert. Aber wahrscheinlich spielt da auch der Altersstarrsinn eine Rolle und eben die Ansicht, daß alle so zu funktionieren haben, wie er es will...


    Viele Grüße
    thopas


  • Aber wahrscheinlich spielt da auch der Altersstarrsinn eine Rolle und eben die Ansicht, daß alle so zu funktionieren haben, wie er es will...


    Hallo, thopas,


    Lears Alters- und Monarchenstarrsinn duldet keinen Widerspruch und ist empfänglich für die Schmeicheleien Gonerils und Regans, nicht aber für die Offenheit Cordelias.


    Eine kleine Anmerkung noch: Das Stück entstand Anfang des 17. Jahrhunderts. Möglicherweise reflektiert Shakespeare in der Person Lears die Schwierigkeiten der englischen Könige, ihre Herrscherlinie geordnet weiterzuführen. Seit den Rosenkriegen im 15. Jahrhundert war die Sorge, eine ungeregelte Nachfolge könne das britische Reich zerrütten, durchaus berechtigt. Heinrich der VIII. ist ein gutes Beispiel für dieses politisch brisante Thema. Auch Elisabeth I. (Heinrichs mit Anne Boleyn gezeugte Tochter) kam nicht ohne Intrigen auf den Tudor-Thron.


    Viele liebe Grüße


    Sir Thomas

  • Hallo zusammen!



    Bitte vergesst nicht: Lear ist König, was im alten Britannien (und nicht nur dort) bedeutete, dass er unmittelbar unter dem lieben Gott logierte. Die Hybris gegenüber den Töchtern und dem Earl of Kent wurzelt in dem Glauben, unfehlbar zu sein. Wenn seine Entscheidungen und Handlungen für Außenstehende nicht nachvollziehbar sind, beruft er sich einfach auf seine göttliche Legitimation, was jede weitere Diskussion erübrigt. Auch ist Lear natürlich nicht der moderne, auf das Wohl seiner Töchter achtende und liebende Vater, sondern in erster Linie ein Monarch, der den Fortbestand seiner Herrscherlinie sichern möchte und sichern muss.


    Da hast du natürlich recht. Trotzdem (oder gerade deswegen) finde ich sein Handeln eher überraschend und nicht aus einer vorausgegangenen Handlung motiviert. Immerhin gibt er seine Macht und sein Königreich ab. Darüber wundere nicht nur ich mich, sondern auch alle Charaktere im Stück. Erklären kann ich mir die fehlende 'Vorgeschichte' natürlich schon: Shakespeare legt hier ganz offensichtlich andere Schwerpunkte und für das Thema des Stückes ist dieses hier eben der benötigte Ausgangspunkt, nicht eine erklärungsbedürftige Entwicklung. Ich habe wohl eher meine eigenen (literarischen) Präferenzen geäußert: Ich mag es einfach, wenn man innere Entwicklungen literarisch nachvollziehen kann. Das ist hier nur sehr bedingt möglich.


    Ich bin inzwischen in der Mitte des zweiten Aktes gelandet. Das Lesen macht mir Spaß, die Sprache gefällt mir sehr, besonders dort, wo sie richtig 'saftig' wird, z. B. als Kent zu und über Oswald redet. Was für ein Erfindungsreichtum! Ich wünschte, der würde sich in den heutigen alltagssprachlichen, meist sehr unkreativen Beschimpfungen ein wenig niederschlagen. :breitgrins: Ansonsten bin ich bisher häufig an ein Grimm'sches (?) Märchen erinnert, in dem die dritte Königstochter ihrem Vater sagt, sie liebe ihn so sehr wie das Salz, und daraufhin verbannt wird. Später merkt er natürlich, dass Salz viel wichtiger ist als Gold und alles, was die beiden anderen Töchter noch so genannt haben mögen. Vermutlich wird es eine ähnliche Entwicklung (ohne Märchen-Happy-end) hier auch noch geben ...

  • Hallo,


    ich habe inzwischen meine Notizen von damals gefunden und etwas nachgelesen, und langsam kommt die Erinnerung zurück...


    Sir Thomas hat ja schon die besondere Funktion des Königs damals erwähnt. Ein König war nicht nur ein Mensch, sondern verkörperte auch den ganzen Staat. Es gab da keine Trennung. Wenn also Lear meint, daß er seine lästigen Pflichten abgibt, aber weiterhin die Rechte des Königs genießen will und sich einen schönen Lebensabend machen will, dann muß das scheitern. Er handelt damit gegen die Natur und bringt die natürliche Weltordnung durcheinander. Und so gibt er nicht nur seine Pflichten ab, sondern verliert damit auch gleich seine Rechte und vor allem seine Macht. Goneril und Regan übernehmen die Macht recht schnell und sprechen Lear relativ bald jegliche Einflußnahme ab. Deswegen ist es für sie auch wichtig, daß die Ritter, die Lear zur Seite stehen, reduziert werden, denn je isolierter Lear ist, desto besser können sie ihn kontrollieren.


    Der damaligen Weltordnung entsprach es auch, daß Kinder ihren Eltern Gehorsam schulden. Sowohl Cordelia, als auch Edgar verhalten sich in den Augen ihrer Väter "widernatürlich" und werden zur Strafe verbannt. Auch Kent, der offen die Wahrheit spricht, wird verstoßen. Der Narr ist der einzige, der die Wahrheit sagen darf, aber nur, weil er eben der Narr ist und als Mensch nicht für voll genommen wird. Üblicherweise kamen Narren damals nur in Komödien vor; daß Shakespeare einen Narren in einer Tragödie auftreten läßt, war zur damaligen Zeit so etwas wie eine Sensation.


    In den mittelalterlichen Tragödien wird meist gezeigt, wie ein Mensch durch Glück/Schicksal aufsteigt und später wieder herabfällt. Im Mittelalter war der Mensch der Spielball des Schicksals, er hatte keinerlei Einfluß darauf, was mit ihm geschieht. Im Lear, an der Schwelle der Neuzeit entstanden, sehen wir nun den König, der selbst schuld ist an seinem Fall. Und auch Edmund nimmt das Schicksal in die Hand. Er sieht nicht ein, daß er von Natur aus dazu bestimmt ist, der zweite Sohn und der Bastard zu sein, der keine Ansprüche auf das Erbe hat. Deshalb beschließt er, einzugreifen, und sich zu holen, was ihm zusteht.


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo zusammen! :winken:


    Ich habe inzwischen den dritten Akt des Dramas beendet und es gefällt mir nach wie vor gut, vor allem wegen seiner Kraft, die weder inhaltlich noch sprachlich vor Extremen zurückscheut. Die intriganten Charaktere, allen voran Edmund, sind allein durch ihre eigenen Aussagen schon so gekennzeichnet, dass man nur Abscheu empfinden kann. Als sehr drastisch habe ich auch die Behandlung des armen Gloucester durch Cornwall und Regan empfunden ("Out, vile jelly!" *schauder*), und das, obwohl es so gut wie keine Regieanweisungen gibt. Der Dialog spricht in der Tat für sich selbst (das können viele Dramen nicht von sich behaupten), und trotzdem bleibt ziemlich viel Freiheit für eine Umsetzung auf der Bühne.


    Ebenfalls sehr eindrucksvoll finde ich die Wandlung Lears, wie er im dritten Akt auf Edgar-Tom reagiert und sich auf einmal seiner eigenen früheren Versäumnisse bewusst wird:
    Poor naked wretches, whereso'er you are,
    That bide the pelting of this pitiless storm,
    How shall your houseless heads and unfed sides,
    Your loop'd and window'd raggedness, defend you
    From seasons such as these? O! I have ta'en
    Too little care of this. Take physic, Pomp;
    Expose thyself to feel what wretches feel,
    That thou mayst shake the superflux to them,
    And show the Heavens more just.


    Aufgefallen ist mir auch (ich habe nicht viel Shakespeare-Erfahrung; deshalb war es für mich eher unerwartet), dass der allergrößte Teil des Dramas in Prosa geschrieben ist. Nur Lear und der Narr sprechen jeweils einiges in Versen. Hierbei wüsste ich gerne mehr zu der Aussprache zu dieser Zeit. Die Reime legen nahe, dass sie zum Teil deutlich anders sein muss als heute. Hat jemand einen Tipp, wo ich mehr darüber herausfinden kann?


    Liebe Grüße und fröhliches Weiterlesen! :smile:


  • Aufgefallen ist mir auch (ich habe nicht viel Shakespeare-Erfahrung; deshalb war es für mich eher unerwartet), dass der allergrößte Teil des Dramas in Prosa geschrieben ist. Nur Lear und der Narr sprechen jeweils einiges in Versen. Hierbei wüsste ich gerne mehr zu der Aussprache zu dieser Zeit. Die Reime legen nahe, dass sie zum Teil deutlich anders sein muss als heute. Hat jemand einen Tipp, wo ich mehr darüber herausfinden kann?


    Hallo ink-heart,


    die Aussprache zu Shakespeares Zeit (Frühneuenglisch) war schon relativ ähnlich zur heutigen Aussprache. Die großen Lautverschiebungen hatten schon stattgefunden, bis ca. 1700 wurde das Englische dann stark normiert, aber groß waren die Unterschiede nicht mehr. Ich habe mir mal die Reime angeschaut, aber ich finde, daß die meisten doch sehr exakt sind. Wo hast du denn da so große Unterschiede bei der Aussprache festgestellt?


    In Shakespeares Stücken wechselt meist Prosa und Vers ab. Shakespeare benutzt das oft, um die Personen zu charakterisieren. Z.B. sprechen Personen niedrigen Standes eher Prosa, Könige, Adlige etc. eher in Versen. Aber das ist meist nicht ganz konsistent. Bei den Versen benutzt Shakespeare meist den Blankvers (fünfhebiger Jambus ohne Reim), nur am Ende einer Szene oder auch einer Replik gibt es oft ein "rhyming couplet".


    Ich werde heute abend mal schauen, ob ich noch etwas zur Aussprache zur elisabethanischen Zeit finde. Im Internet bin ich noch nicht so richtig fündig geworden...


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo,


    ich bin im 4.Akt zurzeit. Den Punkt von ink-heart kann ich bestätigen. Die "bösen" Charaktere sind durch und durch abscheulich und die Szene, wo sie Gloucester die Augen ausstechen fand auch ich ziemlich schauderhaft.


    Das Mitleid für Lear hält sich aber bei mir in Grenzen. Von Anfang an(Liebesbeweis durch Lobreden) war er mir unsympathisch und das ändert sich auch nicht im Laufe seines Wahnsinning-werdens. In der Szene als Lear und Kent Edgar in der Hütte finden, denkt er, dass auch Edgar von seinen Töchtern betrogen worden sein müsse, weil er in so einem erbärmlichen Zustand ist. Sein Größenwahnsinn und seine Egomanie setten sich also weiter fort.


    Die "Gerichtsszene" III, 6 kann ich mir übrigens richtig gut auf der Bühne vorstellen.


    Da die Zeit knapp wird, leider jetzt nicht mehr von mir.


    Bis später,
    Telemachos


  • Ich werde heute abend mal schauen, ob ich noch etwas zur Aussprache zur elisabethanischen Zeit finde. Im Internet bin ich noch nicht so richtig fündig geworden...


    So, ich habe in meiner Sprachgeschichte folgendes gefunden: die Aussprache zur Shakespeare-Zeit war nicht so viel anders als heute. Es gab noch ein paar nicht abgeschlossene Lautwandel, die ab ca. 1700 dann abgeschlossen waren. Die auffälligsten Unterschiede waren:


    1) Bei manchen Wörtern wurde noch /e/ statt /i/ ausgesprochen, z.B. in sea oder tea, die wie die deutschen Wörter See und Tee ausgesprochen wurden. Also konnte Shakespeare nicht see auf sea reimen.


    2) Wörter, die heute die gleiche Schreibung des Vokals, aber eine unterschiedliche Aussprache haben, wie flood-mood-good, wurden damals noch alle sehr ähnlich ausgeprochen und haben einen Reim ergeben.


    3) Die große Lautverschiebung bei den langen Vokalen (Great Vowel Shift) war noch nicht ganz abgeschlossen, evtl. wurde five noch wie [fi:f] ausgesprochen und down wie [du:n]. Deshalb reimt sich bei Shakespeare auch noch love auf approve, weil to love vom mittelenglischen luven kommt (diesen Reim habe ich im King Lear gefunden).


    Ich habe jetzt den dritten Akt beendet und bin auch wieder überrascht von der Skrupellosigkeit und Abscheulichkeit der "Bösen". Ich habe jetzt auch einen auffälligen Unterschied bei Quarto und Folio gefunden: die "Gerichtsszene" (mock trial scene) in III, 6 ist im Folio nicht enthalten. Lear ist glaube ich inzwischen wirklich wahnsinnig geworden, deshalb bezieht er auch alles um sich herum nur noch auf sich. Die Undankbarkeit seiner Töchter, die seinem Weltbild nicht entspricht, ist für ihn der zentrale Punkt geworden. Alles andere bekommt er nicht mehr mit. Da ist es ganz interessant, wenn Shakespeare den wahnsinnig gewordenen Lear dem nur wahnsinnig spielenden Edgar/Tom gegenüberstellt. Interessant ist auch, daß Lear erst im Wahnsinn erkennt, wie seine Töchter wirklich sind bzw. die Welt sieht, wie sie wirklich ist; genauso wie der arme Gloucester erst nachdem er sein Augenlicht verloren hat erkennt, welcher seiner Söhne der aufrichtige ist. Im Folio ist auch der Schluß der letzten Szene im dritten Akt nicht enthalten, in dem die Bediensteten dem geblendeten Gloucester helfen. Da wirkt es etwas abrupt und fast noch grausamer, daß Gloucester geblendet wird und fast niemand was tut, um ihm zu helfen.


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo, ihr Lieben!


    Herzlichen Dank, thopas; das hilft mir sehr weiter und passt für die Stellen, die ich beim Nochmaldurchblättern zusammengesucht habe (grrr, man sollte doch immer gleich Notizen machen), wie die Faust aufs Auge.


    Ich bin inzwischen durch mit "Lear" und habe ihn bis zum Schluss vor allem der interessanten Sprache wegen gerne gelesen. Inhaltlich frage ich mich schon, ob dieses Drama uns heute eigentlich noch so viel zu bieten hat. Lears Erkenntnisprozess im Wahnsinn ist sicherlich gut und zum Teil auch anrührend dargestellt. Insgesamt werden in diesem Drama aber doch sein absoluter Machtanspruch (den er ja eigentlich selbst aufgegeben hatte) und absolut autoritäre Strukturen in allen Bereichen verteidigt. Cordelia empfinde ich dementsprechend auch als ziemlich blasse Figur; die Schwestern, so gemein und unsympathisch sie dargestellt sind, werden mir in vielem nachvollziehbarer.


    Die zweisprachige dtv-Ausgabe enthält übrigens einen ziemlich gelungenen Essay des Übersetzers über Sprachreflexion im "Lear". Daraus würde ich gerne nochmal ein bis zwei Thesen in die Runde werfen, wenn ihr ausgelesen habt.


    Liebe Grüße :winken:

  • Hallo,


    ich habe das Stück inzwischen auch fertig gelesen und entdeckt, daß es doch einige Unterschiede zwischen Quarto und Folio gibt, die den Zuschauer/Leser schon anders beeinflussen. Im Quarto geht Albany nicht gerade zimperlich mit seiner Frau um, erklärt ihr klar und deutlich, was er von ihr hält (IV, 2), im Folio-Text bekommt man zwar auch mit, daß Albany die abscheulichen Taten von Gonerill, Regan und Cornwall nicht billigt, aber es ist viel weniger ausführlich. Außerdem fehlt im Folio die Szene IV, 3, in der erwähnt wird, daß Frankreich wieder zurück in sein Land mußte und deshalb nun ein Marschall mit dem französischen Heer in Britannien ist. Ohne diese Szene landet man gleich bei Cordelia, die sich um ihren Vater sorgt, und es wirkt dann so, als ob sie an der Spitze des Heeres nach Britannien gekommen ist.



    Lears Erkenntnisprozess im Wahnsinn ist sicherlich gut und zum Teil auch anrührend dargestellt. Insgesamt werden in diesem Drama aber doch sein absoluter Machtanspruch (den er ja eigentlich selbst aufgegeben hatte) und absolut autoritäre Strukturen in allen Bereichen verteidigt. Cordelia empfinde ich dementsprechend auch als ziemlich blasse Figur; die Schwestern, so gemein und unsympathisch sie dargestellt sind, werden mir in vielem nachvollziehbarer.


    Ich bin mir nicht so sicher, ob Lears Machtanspruch und die autoritären Strukturen wirklich verteidigt werden. Als Zuschauer/Leser sieht man doch eher, daß jemand, der sich allzusehr auf ein festgefügtes Weltbild verläßt, ziemlich leicht scheitern kann (und dann auch noch wahnsinnig wird, weil er es nicht versteht). Sowohl Lear als auch Gloucester kommen beide nicht weit mit ihrem Weltbild und erkennen dann erst viel zu spät ihren Irrtum. Lear selbst kann nicht aus seiner Haut heraus, er kann sich nicht mehr ändern, Gloucester wirkt mir da nicht so starr. Beide scheitern an ihren überkommenen Einstellungen.


    Andersherum scheitert aber auch Edmond, der sein Schicksal selbst in die Hand genommen hatte, um dem festgefügten Schicksal (wie es im Mittelalter gesehen wurde) zu entgehen bzw. ihm ein Schnippchen zu schlagen. Er steigt auf und fällt am Schluß, trotz aller Bemühungen, doch wieder hinab ("The wheel is come full circle"). Das ist sehr absurd, denn man hat nun das Gefühl, daß der Mensch eigentlich gar nichts richtig machen kann. Es gibt keinen Plan für das Leben; was man macht, ist völlig egal; und am Ende stirbt man. Und darauf muß man vorbereitet sein ("ripeness is all", wie Edgar in V, 2 zu seinem Vater sagt; bei Hamlet gibt es ja eine ganz ähnliche Formulierung "The readiness is all"). Der Lear wird deshalb gerne als das erste absurde Drama der Literaturgeschichte gesehen.



    Die zweisprachige dtv-Ausgabe enthält übrigens einen ziemlich gelungenen Essay des Übersetzers über Sprachreflexion im "Lear". Daraus würde ich gerne nochmal ein bis zwei Thesen in die Runde werfen, wenn ihr ausgelesen habt.


    Dann bin ich mal gespannt; nur her damit :winken:


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo zusammen,


    ich lese momentan noch ein bißchen Sekundärliteratur und auch immer mal wieder in einer Shakespeare-Biographie. Stanley Wells vermutet in seinem Buch Shakespeare for all time, daß Shakespeare als Schauspieler schon ca. 20 Jahre lang in Aufführungen des alten, anonymen Stücks The true chronical history of King Leir mitgespielt hat, weshalb in Shakespeares King Lear so viele "Echos" dieses alten Textes auftauchen (er könnte natürlich auch einfach davon abgeschrieben haben...). Das alte Stück ging aber wohl positiv aus, erst Shakespeare hat ein negatives Ende daraus gemacht (die erhängte Cordelia taucht allerdings in irgendeinem anderen Text auch schon auf).


    Für uns ist dieses Stück schon nicht besonders angenehm zu lesen, da es dem menschlichen Gerechtigkeitsbewußtsein nicht entgegenkommt, daß auch die Guten am Schluß sterben, aber im 17. Jhd. war das wohl noch viel ungewöhnlicher. Deshalb wurde das Stück recht bald (1681) von Nahum Tate dem Geschmack des Publikums "angepaßt", d.h. es gab ein Happy End (Cordelia rettet ihren Vater und heiratet Edgar). Auch Samuel Johnson bevorzugte wohl diese Version des Stückes, weil ihn die Ungerechtigkeit im Originalstück störte. Erst 1838 wurde der Lear wieder in der Originalfassung gespielt.


    Viele Grüße
    thopas