Oktober 2007 Goethe: Dichtung und Wahrheit

  • Hallo zusammen,


    wie im Kalender ausgeschrieben eröffne ich hiermit die Leserunde zu Goethes Autobiografie.


    Teilnehmer: Manjula
    finsbury


    Weitere Teilnehmer sind natürlich jederzeit herzlich willkommen.


    Zur Textgrundlage:


    Ich lese das Werk in einem unkommentierten Nachdruck der Artemisgedächtnisausgabe von 1962.


    Daneben greife ich auf Richard Friedenthals Biografie: Goethe - sein Leben und seine Zeit zurück.


    Einen Materialienthread mit Internetlinks richte ich gleich noch ein.


    Momentan bin ich am Ende des ersten Buchs im ersten Teil. Die Lektüre beginnt leicht. Flüssig und interessant erzählt Goethe von seinen Kindheitseindrücken, verweist auf Dinge, die sein Leben prägten, wie z.B. die Italienreise und -begeisterung seines Vaters sowie dessen Sammelleidenschaft, das hohe Amt seines Großvaters väterlicherseits, der Schultheiß von Frankfurt war und seine Lektüreerfahrungen.
    Man bekommt ein lebendiges Bild des noch stark mittelalterlich geprägten Frankfurts aus der Mitte des 18. Jahrhunderts
    vermittelt, in dem gleichzeitig auch der Bürgerstolz der reichsfreien Stadt eien große Rolle spielte.


    Bereits im Vorwort rückt Goethe ein naheliegendes Missverständnis des Buchtitels gerade: Dichtung und Wahrheit bedeutet nicht, dass Goethe hier seine autobiografische Wahrheit möglichen Erdichtungen über seine Person gegenüberstellt, sondern dass er sein Thema, also seine Autobiografie, halb poetisch und und halb historisch behandeln möchte. Was diese Aussage bedeutet, will er im Verlaufe seines Werkes noch weiter ausführen.


    Ich freue mich auf deine Leseeindrücke, Manjula!


    HG
    finsbury

  • Hallo zusammen,


    im Folgenden habe ich einige links zu Goethe und seiner Autobiografie zusamengetragen. Viel Spaß beim Surfen und Schmökern!


    Basisartikel zu Goethe aus Wikipedia:


    http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Wolfgang_von_Goethe


    aus derselben zur Autobiografie:


    http://de.wikipedia.org/wiki/Dichtung_und_Wahrheit


    Der Text selbst im Netz:


    http://www.wissen-im-netz.info…goethe/dichtung/index.htm oder


    http://www.pinselpark.de/liter…e/dicht/dicht0_00inh.html



    Goethe über die Gattung der Autobiografie:


    http://www.stephanreuthner.de/diwages.htm


    Auswahlbiografie zu diesem Werk:


    http://www.geocities.com/athens/academy/9791/diwalit.htm


    Untersuchung zum Aspekt der „Männlichkeit“ in seiner Autobiografie


    http://www.unet.univie.ac.at/~…3/Quellenautopsie%201.htm



    Goethe in Sesenheim - Autobiografie vs andere Quellen:


    http://www.mediaculture-online…e-in-Sesenheim.724.0.html


    HG
    finsbury

  • Hallo finsbury,


    erstmal vielen Dank für den ausführlichen Materialienthread :klatschen: Ich hoffe, dass ich morgen mal Zeit habe, um alles durchzustöbern.


    Ich lese die Jubiläumsausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt.


    Ja, der Einstieg liest sich leicht und flüssig, man bekommt gleich ein farbiges Bild der Stadt Frankfurt zu Zeiten Goethes. Und aufgrund seiner dramatischen Geburt wurde der Hebammenunterricht eingeführt? Gleich ein guter Anfang :smile:


    Ein nettes Zusammentreffen, die Passagen über die Messen zu lesen, während gerade die Buchmesse stattfindet.


    Ein Satz hat mir sehr gut gefallen: "Und alles Bedeutende und Gefährliche schien, wie es nach einem abgeschlossenen Frieden zu gehen pflegt, sich nur ereignet zu haben, um glücklichen und sorgenfreien Menschen zur Unterhaltung zu dienen." Wenn man bedenkt, wieviele spannende, dramatische Bücher und Filme es über Kriege gibt...


    Dies etwas in Eile, da ich gleich weg muss, aber dann habe ich (im Zug) eine Stunde Lesezeit und werde mich morgen wohl ausführlicher äußern können.


    Wochenendgrüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo Manjula,


    das macht richtig Spaß, dieses Buch zu lesen und geht äußerst locker! Goethe klingt modern, schreibt einfach und unterhaltsam. Ich merke nichts vom Staub der Jahrhunderte.


    Dein Hinweis auf das Zusammentreffen von Messe heute und im Buch - danke, darauf habe ich gar nicht geachtet!
    Beim Buch erkennt man gut, woher der Zusammenhang zwischen Messe und Kirmes kommt.


    Ich bin nun mit dem dritten Buch des ersten Teils fertig und fand die Schilderung der Einquartierung des Königsleutnants Thoranc sehr interessant. Man konnte wirklich in diesem Haushalt mitleben, die unterschiedlichen Interessen und Befindlichkeiten nachvollziehen.


    Interessant ist, dass Goethe seine Mutter verhältnismäßig schlecht wegkommen lässt. Sie wird entweder kritisiert, wenn er zum Beispiel im zweiten Buch erzählt, dass sie immer mit einer feinen Handarbeit herumsäße, während seine Tante ihn den ganzen Tag herumgetragen habe, oder bleibt blass im Hintergrund, während das Handeln des Vaters, auch wenn er dessen Pedanterie und Griesgrämigkeit durchschimmern lässt, mit Sympathie und Nachsicht geschildert wird.
    Liegt das an der allgemeinen Missachtung der Frauen in jenem Zeitalter oder hatte Goethe wirklich ein so kaltes Verhältnis zu seiner Mutter?
    In Friedenthals Biografie steht, dass die Legende von der "Frau Rat" oder "Frau Aja" erst von Bettine von Arnim erschaffen wurde, während Goethe sich zeitlebens herzlich wenig um seine Mutter kümmerte.
    Nun denn ..., Spaß machen auch die Exkurse über das französische Theater im besetzten Frankfurt. Man meint, mit in dem überfüllten Publikumsraum zu sitzen und die Schminke der Schauspieler über deren Wangen laufen zu sehen.
    Ich bin gespannt, wie's weitergeht.
    Wie sieht's bei dir aus, Manjula? Ist das Buch auch ein guter Zugbegleiter ?


    HG
    finsbury

  • Guten Morgen finsbury,


    das ist das Buch in jedem Fall - nur leider hat mich eine lautstarke Reisegruppe davon abgehalten, mich richtig darauf zu konzentrieren, so dass ich noch im zweiten Buch stecke. Zur Mutter kann ich daher noch nicht viel sagen; auffallend ist es aber schon, dass man vom Vater und auch vom Großvater ein recht genaues Bild hat, während die Mutter, die doch eigentlich in den ersten Lebensjahren oft bestimmender ist, gar nicht erwähnt wird.


    Überhaupt die Familie: mit seiner Schwester fühlt er sich ja "innig verbunden", die verstorbenen Geschwister streift er aber nur nebenbei. Dabei ist der drei Jahre jüngere Bruder ja erst mit sieben Jahren gestorben, es werden aber weder gemeinsame Kindheitserinnerungen noch Trauer bei seinem Tod erwähnt. War man damals (angesichts der hohen Kindersterblichkeit) einfach nüchterner als heute?


    Was mich beeindruckt, ist die umfassende Bildung, die Goethe schon als Knabe erhalten hat. Wenn man sich nur seine Leseliste anschaut: Respekt. Nett, wie er über den Büchertrödler schreibt "...sobald uns gelüstete nach diesen Werken, anstatt nach irgendeiner Näscherei zu greifen." Das hatte er dann wohl von seinem Vater, der ja auch nach dem Umbau als erstes seine Büchersammlung in Ordnung bringt. Und immer mal wieder sind Hinweise auf spätere Werke eingestreut, z.B. als er seinen Freund Pylades nennt.


    Ich habe noch gar nicht erwähnt, dass sich in meiner Ausgabe ein recht umfangreicher Anhang befindet, in dem auch einiges über die Entstehungsgeschichte erzählt wird. Hier heißt es, dass Goethes Auseinandersetzung mit autobiographischer Literatur mit seiner Übersetzer- und Rezensententätigkeit begann. So tastete er sich an die eigene Biographie heran und kommt zu dem Ergebnis, dass eine Autobiographie notwendigerweise die historische Persönlichkeit in ihrem geschichtlichen Zusammenhang zu würdigen hat. Dementsprechend hat er bei der Niederschrift nicht nur Erinnerung von Freunden wie Bettina von Arnim einfließen lassen, sondern auch zeitgenössische Berichte und Lexika (z.B. bei der Schilderung des Erdbebens von Lissabon) herangezogen.


    So, jetzt werde ich mal beginnen zu arbeiten, in der Hoffnung, dass mir dann heute abend mehr Lesezeit bleibt :smile:


    Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo Manjula,


    um kurz nach sechs musst du schon arbeiten? Respekt!


    Das ist interessant zu wissen, dass Goethe auch zeitgenössische Quellen hinzuzog. Also war doch nicht alles in seinem Kopf gespeichert :zwinker:
    Momentan bin ich im vierten Buch, in dem eine recht umfangreiche Zusammenfassung der fünf Bücher Mose mir das Lesen schon ein wenig zäh gestaltet.
    Bis zum Wochenende werde ich aber sowieso wenig zum Lesen kommen.
    Was meinst du mit "Pylades"? In welchem Werk von Goethe kommt der denn vor. Ich dachte, das sei eine Anspielung auf den treuen Freund des Achill in der Ilias des Homer.


    Die Stelle, wo er von seinen Geschwistern spricht, fand ich auch merkwürdig kalt. Wahrscheinlich hast du Recht mit deiner Interpretation.
    Irgendwo am Anfang sagt er im Übrigen, dass viele frühe Kindheitserinnerungen gar keine eigenen Erinnerungen sind, sondern Reflexe der Erzählungen von Erwachsenen über uns, die wir uns als eigene Erinnerungen anverwandelt haben. So hätte man dann auch tiefe Empfindungen im Zusammenhang z.B. mit Tod von Angehörigen vielleicht vergessen?! Ich kann das Letztere nicht beurteilen, da es mir zum Glück als Kind nicht widerfahren ist, aber dem ersteren kann ich nur zustimmen: Meine Erinerungen der frühen Kindheit sind eher rudimentär.


    HG
    finsbury

  • Hallo finsbury


    nur kurz, weil ich gerade auf dem Sprung bin:



    Was meinst du mit "Pylades"? In welchem Werk von Goethe kommt der denn vor. Ich dachte, das sei eine Anspielung auf den treuen Freund des Achill in der Ilias des Homer.


    Pylades taucht in "Iphigenie auf Tauris" als treuer Freund des Orest auf. Die Ilias habe ich leider (noch) nicht gelesen.


    Morgen dann mehr, liebe Grüße
    Manjula


    PS: Jetzt ist mein normaler Arbeitsbeginn :zwinker: der Dienstag war zum Glück eine Ausnahme.

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo Manjula,


    :redface: :redface:!
    Klar, Orests Freund. Der von Achill hieß Patroklos!
    Und dabei habe ich gerade die Elektra von Sophokles gelesen, in der Pylades dann auftaucht. Und die Lektüre der beiden Antigonen liegt auch nicht so lange zurück. Ja, diese griechischen Namen....
    So, ich muss noch ein bisschen fronen. Morgen habe ich hoffentlích Zeit zum Lesen.


    HG
    finsbury

  • Hallo Manjula und alle,


    nun hatte ich ein bisschen Zeit zum Lesen und habe den ersten Teil beendet.
    Die ausführliche Zusammenfassung der Bücher Mose im vierten Buch hat mich zunächst verwundert, aber Goethe hat es ja dann selbst erklärt

    Zitat von "Goethe"


    so flüchtete ich gerne nach jenen morgenländischen Gegenden, ich versenkte mich in die ersten Bücher Mosis und fand mich dort unter den ausgebreiteten Hirtenstämmen zugleich in der größten Einsamkeit und und in der größten Gesellschaft.


    Ich kenne mich mit Thomas Manns Autobiografie und den Gründen für seine Stoffauswahl nicht aus, könnte mir aber denken, dass die ausführliche Behandlung der Jakob/Joseph-Geschichte in "Dichtung und Wahrheit" einer der Anstöße für seine Behandlung des Stoffes gegeben hat, da er ja auch ein großer Verehrer Goethes war.


    Anregend war auch das fünfte Buch mit den Feierlichkeiten zu Joseph des II. Krönung zum König von Rom und Goethes Verwicklung in die Hinterschlagungsaffaire. Bisher finde ich die Autobiografie löblich geerdet und wenig olympisch: Mir wird Goethe hier nachgerade auch persönlich sympathisch.
    Auch die Behandlung des Themas "Juden" ist für seine Zeit vergleichsweise liberal und nachdenklich. Entsetzlich fand ich es allerdings (wofür Goethe nichts kann), dass man das jüdische Viertel während der Krönung einfach abgesperrt hat.
    Wie sieht's bei dir aus, Manjula? Im Übrigen ein schönes Wochenende!


    HG
    finsbury

  • Guten Morgen finsbury,


    durch einen Migräneanfall bin ich leider nicht so weit gekommen wie geplant und stecke noch im 5. Buch. Generell finde ich, dass die einzelnen Bücher sich sowohl in der Thematik als auch im Stil unterscheiden, dass es sich also nicht um eine willkürliche Einteilung handelt.


    Das dritte Buch steht im Zeichen der Einquartierung der Franzosen, wobei Goethes Familie mit Thoranc ja sehr gut wegkommt. Sein Vater scheint das aber nicht zu erkennen, zeigt sich stur und ist wohl auch blind für die Folgen, die sein Verhalten für die Familie haben könnte. Nachdem er in den ersten beiden Büchern recht sympathisch erschien, steht er jetzt deutlich schlechter da. Dagegen scheint Thoranc eine Art Vaterersatz darzustellen: er schafft es immerhin, sich über schlechte Stimmungen und Beeinflussungen hinwegzusetzen und kann sich selbst so gut einschätzen, dass er sich in bestimmten Situationen lieber zurückzieht als anderen zu schaden.


    Schön war in diesem Teil auch, wie seine Begeisterung für das Theater wächst.


    Zitat

    Interessant ist, dass Goethe seine Mutter verhältnismäßig schlecht wegkommen lässt. Sie wird entweder kritisiert, wenn er zum Beispiel im zweiten Buch erzählt, dass sie immer mit einer feinen Handarbeit herumsäße, während seine Tante ihn den ganzen Tag herumgetragen habe, oder bleibt blass im Hintergrund, während das Handeln des Vaters, auch wenn er dessen Pedanterie und Griesgrämigkeit durchschimmern lässt, mit Sympathie und Nachsicht geschildert wird.


    Merkwürdig, ich hatte eher den Eindruck, dass Goethe die Anpassungsfähigkeit der Mutter schätzt, während er die Sturheit des Vaters eher ablehnt. So unterschiedlich kann ein Text wirken!


    Im 4. Buch erfährt man einiges über die weitere Ausbildung, wobei Goethe mit Musik, Physik, Religion, Zeichnen...ja in jeden Bereich mal hineinschnuppert. Schon hier ein Hinweis auf den späteren Universalgelehrten? Am Ende wird aber doch deutlich, dass seine Hauptprofession die Dichtkunst sein wird.


    Zitat

    Ich kenne mich mit Thomas Manns Autobiografie und den Gründen für seine Stoffauswahl nicht aus, könnte mir aber denken, dass die ausführliche Behandlung der Jakob/Joseph-Geschichte in "Dichtung und Wahrheit" einer der Anstöße für seine Behandlung des Stoffes gegeben hat, da er ja auch ein großer Verehrer Goethes war.


    Ja, das erscheint mir nachvollziehbar. Leider kenne ich dieses Werk von Mann noch nicht.


    Das 5. Buch sollte lt. meinem Anhang eigentlich komplett im Zeichen der Krönung stehen, Goethe hat sich dann aber entschlossen, dieses Thema mit einer Liebesgeschichte einzurahmen. Ich bin sehr gespannt, wie diese Kombination auf mich wirkt.


    Zitat

    Bisher finde ich die Autobiografie löblich geerdet und wenig olympisch: Mir wird Goethe hier nachgerade auch persönlich sympathisch.


    Ja, das geht mir genauso. Ich hatte Autobiografien bisher immer gemieden, weil ich Selbstbeweihräucherungen gefürchtet hatte, aber das kann man ihm (zumindest bis jetzt) nicht vorwerfen. Er schreibt ja durchaus auch über weniger angenehme Dinge, z.B. wie er von seinen rauhen Altersgenossen "gemobbt" wurde. Dieser Teil scheint (leider!) sehr modern, wie überhaupt das ganze Werk viel neuer wirkt als es tatsächlich ist.


    Eine schöne Woche wünscht
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo Manjula,


    hoffentlich bist du jetzt wieder schmerzfrei. Ich weiß von Kolleginnen, wie sehr ein solcher Migräneanfall schmerzt und alles lähmt und drücke dir die Daumen, dass dir das Wiederauftreten möglichst lange erspart bleibe.


    Momentan komme ich auch nicht weiter voran, stecke also am Anfang des zweiten Teils und werde auch zwei oder drei Tage dort bleiben, da ich gerade Anderes lese.


    Ja, es ist wirklich interessant, dass wir diese Vater- und Mutterfigur so unterschiedlich wahrnehmen. Auf mich wirkt es so, als würde Goethe seinem Vater diese unglaublich breiten, liberalen Bildungsmöglichkeiten zugute halten und das ist ja wirklich ein kulturelles Schlaraffenland, das ihm da geboten wird: Dauerkarte fürs französische Theater, mal eben ein Hebräisch-Lehrer, weil Söhnchen in der Richtung Interesse zeigt, Kontakt mit bidlenden Künstlern jeglicher Art ... .
    Ich glaube, ohne dieses großzügige Elternhaus mit seiner starken Unterstützung wäre Goethe vielleicht nicht so weit gekommen oder hätte doch zumindest sein Genie in anderer Richtung entfaltet.
    Die Mutter bleibt eben doch dahinter blass: Ja, sie wirkt ausgleichend, schützt auch im fünften Buch den Sohn vor dem Zorn des Vaters, aber mit ihr setzt er sich kaum auseinander, während sein Vater ihm ständig zum Thema wird. Für mich ist das Nichtbeachten schon eine Form der Missachtung!


    Übrigens finde ich - wie du auch - Goethes Erlebnisse mit Gleichaltrigen erschreckend und gleichzeitig auch beruhigend modern.
    Es zeigt eben, dass Prügeleien und Mobben wohl eine Phase ist, die einige Jugendliche als Täter oder Opfer durchmachen müssen und sie nicht ein Zeichen für die Verrohung unserer Zeit sind.


    Eine schöne weitere Arbeitswoche!


    HG
    finsbury

  • Hallo finsbury,


    ja, ich bin wieder fit, vielen Dank.


    Die Beschreibung der Krönungsfeierlichkeiten fand ich auch interessant. Was für ein Prunk das gewesen sein muss! Und Goethe zeigt sich auch hier wieder sehr interessiert an allem. Man kann bei einer Autobiographie natürlich immer rätseln, ob der Autor sich etwas "geschönt" darstellt, aber es scheint doch so, dass er wirklich sehr vielseitig war. Dass er dann auch noch, wie von Dir erwähnt, die Möglichkeit hatte, seine Interessen auch alle auszuleben, unterstützt ihn natürlich sehr.


    Zitat

    Auch die Behandlung des Themas "Juden" ist für seine Zeit vergleichsweise liberal und nachdenklich. Entsetzlich fand ich es allerdings (wofür Goethe nichts kann), dass man das jüdische Viertel während der Krönung einfach abgesperrt hat.


    Dass er das nur lapidar in einem Nebensatz erwähnt, fand ich, gerade wg. seiner ausgewogenen Haltung, etwas merkwürdig. Möglicherweise war die Ausgrenzung aber für ihn ganz selbstverständlich, und er hat gar nicht groß darüber nachgedacht.


    Das Vater-Mutter-Verhältnis hat mir auch noch zu denken gegeben. Es ist richtig, dass der Vater in den Gedanken des Sohnes viel mehr Platz einnimmt als die Mutter; sie läuft eigentlich nur am Rande mit, wird erwähnt, wenn sie auf etwas reagiert, sie stößt aber nie etwas an und hat scheinbar keinerlei Einfluss auf die Gedanken und Handlungen Goethes. Mal sehen, wie das im Verlauf des Buchs weitergeht.


    Schmunzeln musste ich, als Goethe über die glückliche Beziehung zwischen einem lehrenden Jüngling und einem wißbegierigen Mädchen spricht. Ganz schön macho :breitgrins:


    Den letzten Teil des 5. Buchs habe ich wohl zu oberflächlich gelesen, hier ist mir noch nicht alles klar. Das werde ich heute abend (hoffentlich) nochmal nachlesen.


    Viele Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo Manjula,


    nun ist Goethe in der zweiten Hälfte des sechsten Buches nach Leipzig aufgebrochen, um dort zu studieren (mit 16!).
    Was ihm dort passiert, werde ich nun lesen, allerdings ist heute und morgen meine abendliche Lektürezeit wegen Veranstaltungen knapp bemessen.
    Übrigens kommt am Anfang des sechsten Buches eine sehr interessante Bemerkung über seine Mutter. Sinngemäß sagt er, sie sei wegen ihrer Jugendlichkeit eher eine Mitlernende als eine Lehrende gewesen. Das könnte ein Erklärungsansatz sein für ihre Verdrängung an den Rand des Geschehens. Der Vater kommt nun auch deutlich schlechter weg.
    Aber Näheres kann ich erst Samstag posten, weil ich jetzt erstmal die Zeit lieber zum Lesen nutzen will.
    Schöne Restwoche!


    HG
    finsbury

  • Hallo finsbury,


    mit 16 - nicht schlecht!


    Ich bin übrigens kein Stück weiter gekommen, wollte mich aber zumindest ordnungsgemäß abmelden :zwinker:, da ich bis Sonntag in Salzburg und internetlos bin. Ich wünsche Dir ein schönes Wochenende!


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]


  • mit 16 - nicht schlecht!


    Im 18. Jahrhundert ein ganz normale Alter, um sein Studium zu beginnen. Eher ungewöhnlich ist die Breite der Bildung, die Goethe vorher schon genossen hatte.

  • Hallo Manjula, Bonaventura und alle,


    Zitat von "Bonaventura"

    Im 18. Jahrhundert ein ganz normale Alter, um sein Studium zu beginnen. Eher ungewöhnlich ist die Breite der Bildung, die Goethe vorher schon genossen hatte.


    Wobei diese teilweise etwas willkürlich war und die Naturwissenschaften - obwohl sich Goethe auch für diese später wie bekannt sehr interessierte - jedenfalls nach unserem Text fast vollständig ausschloss. Nur die Mediziner, die er in Leipzig kennen lernte, trugen Kenntnisse zu Linné und anderen Geistesgrößen der Zeit bei.
    Die Naturwissenschaften starteten aber wohl ihren Siegeszug während Goethes Leben, z.B. mit Alexander von Humboldt.


    Der 16jährige Goethe wird aber auch in Leipzig nicht allein gelassen, sondern wir nehmen zur Kenntnis, dass die Universität deutlich patriarchalischer organisiert war und sich die Professoren und ihre Gattinnen auch privat der Studenten annahmen und sie zum Beispiel zum Mittagstisch baten. Auch die Landsmannschaften spielen eine große Rolle bei den sozialen Kontakten des jungen Goethe.


    Das siebte Buch ist sehr interessant wegen seiner literaturhistorischen Anmerkungen und auch weil Goethe nun Werke erwähnt, die uns überliefert sind und nicht einem seiner zahlreichen Autodafés seiner Jugenschriften zum Opfer fielen.
    Ich las heute "Die Laune des Verliebten" - laut Kindler der Höhepunkt der deutschen Schäferidylle: Dazu kann ich nur sagen, dass ich dann auf keinen Fall weitere Bekanntschaft mit diesem Genre machen möchte :wegrenn:.
    Goethe will hier seine Liebelei zur Wirtstochter Käthchen Schönkopf sublimiert haben, der er wohl wegen seiner Eifersucht und Launen gewaltig auf den Zeiger gegangen sein muss: Die Lösungswege im Schäferspiel haben das Niveau von ZDF-Liebesfilmen: Vielleicht sind diese ja Epigonen dieses zephirleichten Genres.
    Manjula, dir eine schöne Arbeitswoche; Ich hoffe, es war schön in Salzburg. Ich ziehe mich für drei Tage ins Kloster im Teutoburger Wald zurück und bin dann frühestens ab Mittwochabend wieder online.


    Bis bald


    HG
    finsbury

  • Guten Morgen allerseits,


    Im 18. Jahrhundert ein ganz normale Alter, um sein Studium zu beginnen. [...]


    ja, die Kindheit/Jugend endete damals deutlich früher als heute - diese zeitliche Verschiebung finde ich sehr interessant.


    Interessant im sechsten Buch finde ich die Charakterisierung der Schwester. Er hegt ja eine große Zuneigung zu ihr, ist aber nicht blind für ihre Mankos. In meinem Anhang wird auf einen Biograph verwiesen, der die Beziehung zwischen den Geschwistern als "latent inzestuös" bezeichnet. Aus der kurzen Passage im sechsten Buch lässt sich das natürlich nicht begründen, sonstige Quellen hierzu kenne ich nicht.


    Zitat

    Übrigens kommt am Anfang des sechsten Buches eine sehr interessante Bemerkung über seine Mutter. Sinngemäß sagt er, sie sei wegen ihrer Jugendlichkeit eher eine Mitlernende als eine Lehrende gewesen. Das könnte ein Erklärungsansatz sein für ihre Verdrängung an den Rand des Geschehens.


    Das fand ich auch bezeichnend. Goethe hat sie wohl eher auf der "Seite" der Kinder gesehen als als Elternteil. Sozusagen eher Freundin als Mutter.


    Zitat

    Das siebte Buch ist sehr interessant wegen seiner literaturhistorischen Anmerkungen


    Im Zusammenhang mit seiner Schwester erwähnt Goethe auch die Richardson-Romane. Wenn man sandhofers Meinung dazu zu Grunde legt, kommt die Schwester nicht allzugut weg :zwinker:


    Zitat

    Ich las heute "Die Laune des Verliebten" - laut Kindler der Höhepunkt der deutschen Schäferidylle: Dazu kann ich nur sagen, dass ich dann auf keinen Fall weitere Bekanntschaft mit diesem Genre machen möchte .
    Goethe will hier seine Liebelei zur Wirtstochter Käthchen Schönkopf sublimiert haben, der er wohl wegen seiner Eifersucht und Launen gewaltig auf den Zeiger gegangen sein muss: Die Lösungswege im Schäferspiel haben das Niveau von ZDF-Liebesfilmen: Vielleicht sind diese ja Epigonen dieses zephirleichten Genres.


    :breitgrins: (aber um ehrlich zu sein: jetzt hast Du mir Lust gemacht, diesen Höhepunkt auch mal zu lesen)


    Ja, in Salzburg war es schön (wenn auch schweinekalt) - ich hoffe, Du hattest auch erholsame Tage im Teutoburger Wald.


    Schöne Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Interessant im sechsten Buch finde ich die Charakterisierung der Schwester. Er hegt ja eine große Zuneigung zu ihr, ist aber nicht blind für ihre Mankos. In meinem Anhang wird auf einen Biograph verwiesen, der die Beziehung zwischen den Geschwistern als "latent inzestuös" bezeichnet. Aus der kurzen Passage im sechsten Buch lässt sich das natürlich nicht begründen, sonstige Quellen hierzu kenne ich nicht.


    Hm ... man müsste wohl, v.a., wenn nur ein Pärchen da ist und der Altrersunterschied relativ klein, in vielen solchen Geschwisterbeziehungen von "latent inzestuös" sprechen. So was sagt m.M.n. nicht viel aus. (Andererseits hat der geneigte Autor vielleicht auch einfach zu viel Musil gelesen ...)


    Im Zusammenhang mit seiner Schwester erwähnt Goethe auch die Richardson-Romane. Wenn man sandhofers Meinung dazu zu Grunde legt, kommt die Schwester nicht allzugut weg :zwinker:


    Nur, dass die Heroinen bei Richardson zwar auch passiv und opferbereit sind, allerdings - im Gegensatz zur wohl frigiden Cornelia - dies durchaus lustvoll erleben ... ;)

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo Manjula und alle,


    Zitat von "Manjula"

    ich hoffe, Du hattest auch erholsame Tage im Teutoburger Wald.


    je nun, die Begleitumstände waren nicht danach, es war zwar anstrengend, aber auch spannend und ich habe nur eine halbe Seite Goethe geschafft.


    Nun bin ich aber wieder zu Hause und konnte das siebte Buch zu Ende lesen.


    Vorher aber noch zu Goethes Schwester: Dass sie Richardson las, kann ihr nach den Zeitumständen kaum zum Vorwurf, eher zum Lobe gereichen, denn was immer wir heute von diesen Romanen halten: Sie waren Mitbegründer ihrer Gattung und verhalfen den Frauen zum Romanheldinnentum.
    Was sandhofer zu dem "inzestuösen Verhältnis" geschrieben hat, kann ich nur unterstreichen: Man neigt heute viel zu sehr dazu, jedem herzlichen Verhältnis gleich sexuelle Komponenten zu unterstellen, um sie zu skandalisieren.
    Ich finde es allerdings auch fragwürdig, dass man Cornelia nach den wenigen zeitgenössischen bio- und autobiografischen Zeugnissen Frigidität unterstellt und weiß auch nicht, was einem das an literaturhistorischen Erkenntnissen bringen soll.


    Nun zum siebten Buch: Das ist wirklich interessant. Inwieweit allerdings die Darstellung wirklich mit Goethes geistigem Werdegang übereinstimmt, wird unter anderem von seinem Biographen Richard Friedenthal sehr in Frage gestellt.
    Dennoch, wenn wir Goethe glauben können, sehen wir hier und zu Beginn des achten Buches die Weimarer Klassik in ihren Beginnen entstehen: Die Rückkehr von der barocken Verspieltheit zur schlichten Form und die Bekanntschaft mit Winckelmanns Schriften wird ihm von dem bildenden Künstler Oeser vermittelt; Sein Scheitern mit einem mythologischen Hochzeitsgedicht bei dem ansonsten sehr satirisch geschilderten Professor Clodius reduziert drastisch seine Anleihen aus dem griechischen Olymp und endlich wendet er sich von der Kirche ab, die ihm mit ihrer Irrationalität und ihren moralisch begründeten Drohungen und Heilsversprechungen abstößt: So wird einiges ausgerissen und vieles neu gesät, was für sein späteres Werk wichtig wird.
    Amüsiert haben mich seine Schilderungen des Freundes Behrisch. Dieser wunderliche Kauz vermittelt mehr Lebendigkeit als das ganze Professorenpantheon von Weimar. Den hätte ich auch gerne gekannt, wenn er auch - wie Goethe formulierte - ein Zeitverderber war.


    Einen schönen Feiertag noch


    HG
    finsbury

  • Hallo Manjula und alle,


    so, nun habe ich die Hälfte geschafft und beginne morgen mit dem 10. Buch.
    Das achte Buch war noch mal sehr interessant in Bezug auf Goethes Wurzeln in der Aufklärung und seine Abgrenzung davon und besonders wegen seiner Ausführungen zur Religion. Er macht seinen pantheistischen Ansatz deutlich und spricht den persönlichen Gott und erst recht die kirchliche Religion nur Personen zu, die sich durch ihre sozialen Umstände und fehlende
    Bildung noch nicht zu einer solchen höheren Blickweise erheben können.
    Gleichzeitig erzählt er aber auch sehr amüsant von seinen kabbalistischen Studien und alchemistischen Versuchen an der Seite des Fräulein von Klettenberg, der "schönen Seele" aus dem Wilhelm Meister.
    Diese etwas chaotische und wenig sachliche Herangehensweise an naturwissenschaftliche Zusammenhänge hat er sich ja durchaus später bewahrt :zwinker:.
    Im neunten Buch sehen wir ihn nun in Straßburg: Die schöne heitere Landschaft durchsonnt das ganze Buch: Er erzählt einige Anekdötchen über seltsame Bekanntschaften, hat mal wieder eine kleine Liebschaft mit einer Tanzmeistertochter, worüber deren Schwester ganz wuschig wird und härtet sich selbst gegen seine Empfindlichkeiten ab: Indem er sich ungesichert auf die oberste Plattform des Münsters begibt, besiegt er seine Höhenangst, die Lärmempfindlichkeit trainiert er sich ab, indem er extra neben Blaskapellen hermarschiert und er geistert nachts über Friedhöfe und wohnt Leichenöffnungen bei, um Gespensterfurcht und Ekel zu besiegen. Irgendwie ist Goethe doch auch eine echte Type: Diese Autobiografie macht ihn mir weniger olympisch, dafür sehr liebenswert.
    Nun wird meine Lektüre ein wenig langsamer werden, da ich beruflich sehr eingespannt bin und außerdem noch eine Leserunde auf dem Nachbarforum beginnt: Ich hoffe dennoch, pro Woche ein Buch zu schaffen:


    Wie geht's dir denn so mit J.W. Manjula?


    Eine schöne Arbeitswoche


    HG
    finsbury