• Hallo zusammen!


    Zur Zeit schmökere ich in der Ausgabe von Georg Heyms Werken, die der Verlag 2001 unter dem bezeichnenden Titel Das Werk veröffentlicht hat.


    Mein Eindruck: Heyms Stärke sind die Kurzgeschichte und die Lyrik, thematisch gesehen die Natur, der Tod, der Irrsinn. Vom Drama hätte er lieber die Finger gelassen. Er bleibt da rein historisch, ohne erkennbare Struktur, und man hat das Gefühl, einer viel zu lang geratenen Kurzgeschichte beizuwohnen. Oder habe ich etwas übersehen?


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Georg Heym: Gedichte und Prosa (ca. 1907-1911)


    Georg Heym (1887-1912) war einer der Begründer des literarischen Expressionismus. Er wurde als Sohn eines Staatsanwaltes geboren, verlebte seine Kindheit in Schlesien und seine Jugend sowie junge Erwachsenenzeit in Berlin. Ende Januar 1912 ertrank er bei dem Versuch, seinem Freund aus einem Eisloch zu helfen, worin dieser bei einer gemeinsamen Schlittschuhpartie gefallen war.

    Der von mir gelesene Band stammt von 1962 und vereint von Hans Rauschning ausgesuchte Gedichte und Prosastücke von zu Lebzeiten und aus dem Nachlass veröffentlichten Sammlungen.

    Die zu Lebzeiten erschienenen Bände „Der ewige Tag“ (Lyrik) und „Der Dieb“(Prosa), ebenso wie die Texte aus dem Nachlass sind geprägt von der Unwirtlichkeit und Bedrohlichkeit der großen Stadt, vom Tod und seinen Erscheinungsformen, von Kriegsahnung und Abnormitäten aller Art. Bei der Lyrik gibt es aber auch immer wieder spätimpressionistische Liebes- und Landschaftsgedichte. Heym verbleibt in der Form traditionell im Versmaß und strengen metrischen Formen, dagegen sind seine Inhalte neu für die Lyrik jener Zeit. Er führt - zusammen mit anderen Frühexpressionisten - die moderne Großstadt mit ihrer industriellen Prägung, dem Gestank, dem Lärm und den ausgebeuteten Menschen als Thema in die Literatur ein. Auch sonst ist er sehr stark auf das Negative fixiert, und seine Gedichte sind voller Düsternis, aber auch Melancholie. Mystiker könnten darin eine gewisse Todesahnung sehen, es kann aber auch eine Revolte gegen ein ungeliebtes Jurastudium und einen strengen Vater sein, die ihn zusammen mit einer entsprechenden Veranlagung in diese Negativ-Fixierung getrieben haben. Die Gedichte entfalten trotz ihrer düsteren Themen eine große sprachliche Schönheit, viele davon haben mich fasziniert. Er benutzt neue, unverbrauchte große Metaphern, gerne auch aus dem spirituellen Schatz der alten Kulturen. Ein berühmtes Beispiel:


    Der Gott der Stadt (1910)
    Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
    Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
    Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
    Die letzten Häuser in das Land verirrn.


    Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
    Die großen Städte knieen um ihn her.
    Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
    Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.


    Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik
    Der Millionen durch die Straßen laut.
    Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
    Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.


    Das Wetter schwält in seinen Augenbrauen.
    Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
    Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
    Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.


    Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
    Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
    Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
    Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.
    Zitiert nach Der Gott der Stadt (1910) - Deutsche Lyrik


    Ist die Lyrik durch ihre Gebundenheit und durchgängige Melancholie trotz ihrer düsteren Themen von einer eigenartigen Schönheit, so gilt das nicht für die Prosa. Hier – zumindest in der Auswahl, die meiner Lektüre zugrunde liegt – herrscht meist nackte Gewalt. In „Der Irre“ wird ein Geistesgestörter aus der Anstalt entlassen und mordet sich durch auf dem Weg zu seiner Frau, die er so geprügelt hatte, dass er deswegen in der Anstalt inhaftiert wurde. „Jonathan“ ist ein Matrose, der nach einer Beinverletzung im Hospital liegt, von Schmerzen und Einsamkeit fast überwältigt, und dem man die kurzzeitig mögliche Kommunikation mit seiner Zimmernachbarin, diesen kleinen Hoffnungsstreif, aus „Heilungsgründen“ verbietet. Schließlich wird er nach Wundbrand amputiert und stirbt an deren Folgen und seiner Hoffnungslosigkeit. Die titelgebende Erzählung „Der Dieb“ ist inspiriert von dem im August 1911 erfolgten Diebstahl der „Mona Lisa“ aus dem Louvre und legt sie einem Mann zur Last, der unter religiösem Wahn in dem Bild die Verkörperung der Großen Hure Babylon sieht, die er vernichten muss. Heym hat nicht mehr erlebt, wie sich der Diebstahl im Dezember 1913 aufklärte.


    Das ist eine der beeindruckendsten (Wieder)begegnungen, die dieses Lesejahr mir gebracht haben. Ein schon in jungen Jahren extrem stilsicherer und wortgewaltiger Dichter, der uns intensive Bilder und Eindrücke geschenkt hat, die später in seinen Nachfolgern fortgewirkt haben. Wie schade, dass er so früh gehen musste und wie gut, dass er schon so früh so vollendet war!

  • Danke für diese Vorstellung! Ich kenne von Heyms Prosa nur "Das Schiff", eine finstere, sehr eindrucksvolle Geschichte, die öfter in Gruselanthologien auftaucht - mit der personifizierten Pest als Antagonist. Die Novellensammlung werde ich mir bei Gelegenheit vornehmen, sie ist ja bei Gutenberg zu haben.