Februar 2007: "Tausendundeine Nacht"

  • Hallo!


    Ein kurzes Fazit zur Halbzeit von mir:


    Nach Lektüre des halben Buches bietet sich ein Zwischenfazit an. Dieses fällt ausgesprochen positiv aus. Nicht nur ist die Lektüre der Geschichten in hohem Grad vergnüglich aufgrund deren Originalität und Einfallsreichtum. Auch das Wiedererkennen zahlreicher klassischer literarischer Motive (und Handlungsstrukturen) oder die erfrischende Buntheit des orientalischen Lebens reicht als Erklärung der erfreulichen Lektüre nicht aus. Faszinierend finde ich vor allem die Komplexität der narrativen Verschachtelung: Es gibt Geschichten innerhalb Geschichten von Geschichten, deren Ebenen virtuos miteinander kombiniert werden. In der europäischen Literatur müsste man um die Mitte des 15. Jahrhunderts lange (und vergeblich) suchen, um eine derartige erzählerische Kunstfertigkeit zu finden. Die zum Teil deutlich späteren frühneuhochdeutschen Prosaromane dagegen sind "handwerklich" plump angelegt, wobei man mit solchen interkulturellen Vergleichen natürlich vorsichtig sein muss.
    Diese Technik der Verklammerung in "Tausendundeine Nacht" ist außerordentlich und macht die Lektüre auch zu einem intellektuellen Vergnügen, da der formale Abwechslungsreichtum zur Unterhaltung beiträgt und man auf neue Varianten dieser Technik immer gespannt ist.
    Selbst wenn einmal vergleichsweise linear erzählt wird, steckt so viel Stoff in wenigen Seiten, dass man diese zu längeren Erzählungen (oder gar Romane) ausbauen könnte. Die 72. bis 101. Nacht umspannt etwa mehrere Generationen und wäre ein gutes Beispiel für diese Art der Verdichtung.


    Wie weit seit Ihr denn?


    CK

  • As-salam aleikum,


    Halbzeit ist bei mir noch nicht, ich hinke mit dem Lesen / Hören hinterher, aber gedanklich verlassen mich diese Geschichten von Tausendundeine Nacht nie. Die Freude und der Genuss beim Lesen bleiben, obgleich ich nicht entspannt lesen kann, denn es gibt zu viel Ineinandergreifen der Handlungsstränge, und somit ist deren aufmerksames Verfolgen gefordert. Und außerdem suche ich irgendwie in diesen Märchen nach einem tieferen Sinn, den es zu entdecken geht.


    xenophanes, Du schreibst von der " erfrischende Buntheit des orientalischen Lebens". Aber der Raum in dem die Märchen spielen ist doch hauptsächlich eine erfundene eben Märchen Welt. Auch wenn die Erzähler viele real existierende Städte nennen wie Bagdad, Alep, Damaskus, Kairo, usw. Diese Städte, diese Länder zeugen vom geographischen Ausmaß des damaligen muslimischen Reiches. Gleich zu Beginn des Buches heißt es doch:"…als noch die Könige der Sasaniden herrschten, im Inselreich von Indien und China … Tage und Nächte lang war er unterwegs bis er Samarkand erreichte." Eine reale Topographie (oder sollte ich besser Toponomie schreiben) als Rahmen für Märchenhandlungen.


    Mit den schönen Verschachtelungen der Erzählungen hast Du natürlich auch Recht. Mir kommen immer wieder Analogien in den Sinn mit Mosaiken oder der modernen Mathematik, der Mengenlehre. Und das führt mich via Gedankensprung wieder zu den Arabesken, der Kaligraphie, der städtischen Architektur, ich meine damit dem Raster einer arabischen Großstadt. Die Geschichten von Tausendundeine Nacht bestehen doch nur aus solchem Flechtwerk. Nichts wird gradlinig erzählt. Schließlich geht es um das Leben von Schahrasad. Und immer wieder wird noch ein Histörchen angehängt.


    In sha' Allah


    Babur

  • Hallo!



    xenophanes, Du schreibst von der " erfrischende Buntheit des orientalischen Lebens". Aber der Raum in dem die Märchen spielen ist doch hauptsächlich eine erfundene eben Märchen Welt.


    Aber das schließt doch orientalisches Flair nicht aus: Die Schilderung der Räume, Kleidung, Essen, Alltag (Markt & Kaufleute), Transportmittel und auch mancher Orte (gestern stieß auf ausführliche Stellen über Kairo und den Nil) reicht bei mir jedenfalls aus, um diesen Eindruck hervorzurufen.


    CK

  • Hallo!


    Jetzt weiß ich auch endlich wo Thomas Bernhard diese Masche geklaut hat! :


    "Es ist mir zu Ohren gekommen, o glücklicher König, daß der Schneider dem Kaiser von China erzählte, daß der junge Mann den Anwesenden berichtete, wie er zu dem Friseur sagte:"


    :breitgrins:


    "Der hinkende junge Mann aus Bagdad und der Friseur" ist bis dato die komischste Geschichte der Sammlung. Diesen Friseur finde ich hochgradig amüsant.


    CK


  • Hallo!


    Jetzt weiß ich auch endlich wo Thomas Bernhard diese Masche geklaut hat! :


    "Es ist mir zu Ohren gekommen, o glücklicher König, daß der Schneider dem Kaiser von China erzählte, daß der junge Mann den Anwesenden berichtete, wie er zu dem Friseur sagte:"


    Interessant! War mir gar nicht so aufgefallen, aber klar - gut gesehen.


    Schöne Grüße,
    Thomas

  • Hallo!


    Ich bin nur mit der Ausgabe von Ott nun fertig. Noch jemand da? :smile:


    Eben stieß ich auf:


    Irwin, Robert
    Die Welt von Tausendundeine Nacht
    (Insel Verlag) ISBN: 978-3-458-16879-9
    Gebunden
    464 S.


    Las das einer der Anwesenden?


    Außerdem möchte ich mir eine "Zweitausgabe" kaufen, in der die bei Ott fehlenden Geschichten (Sindbad ...) enthalten sind. Es wurden hier ja einige zitiert: Welche würdet ihr mir ans Hirn legen?


    Danke.


    CK

  • Hallo zusammen, hallo xenophanes,


    ich bin schon seit einiger Zeit fertig. Das war eine sehr unterhaltsame, bunte Mischung. Nach dem witzigen Geschichtenzyklus um den "Buckligen" kam zur Abwechslung eine sentimentale Liebesgeschichte, die vergleichsweise handlungsarm war. Darauf mußte ich mich erstmal einstellen. Die beiden Liebenden waren hauptsächlich damit beschäftigt, in Tränen auszubrechen oder in Ohnmacht zu fallen oder im Trennungsschmerz dahinzusiechen. ;-)


    Mit der Übersetzung von Claudia Ott war ich sehr zufrieden, obwohl ich mangels Arabischkenntnissen die Übersetzung nicht genau beurteilen kann, aber das Deutsch klang jedenfalls sehr flüssig und angenehm, was besonders auch in der Hörbuchversion deutlich wird. Mir sind nur ein paar Kleinigkeiten aufgefallen, wie die schon erwähnte Frau, die "fünf Spannen" groß war, irgendwo hieß es mal "die Gram" statt "der Gram". Außerdem fand ich folgenden Reim (S. 540) sehr gezwungen (die Übersetzerin brauchte einen Reim auf "-in"):


    "Früher hatt' ich einen Vater, der war treu um mich besorgt,
    Aber er verließ mich und ist nun der Gräber Nachbarin."


    <b>Er</b> ist eine Nachbar<b>in</b>? Na ja. :-)


    Aber sehr gut finde ich, daß die Gedichte möglichst getreu übertragen worden sind, besonders auch was die Form betrifft. Das bringt natürlich einige Zwänge und Schwierigkeiten mit sich. Aber so hat man als Arabisch-Unkundiger wenigstens eine ungefähre Vorstellung davon, wie das im Original aussieht.


    Zitat von "xenophanes"

    Außerdem möchte ich mir eine "Zweitausgabe" kaufen, in der die bei Ott fehlenden Geschichten (Sindbad ...) enthalten sind. Es wurden hier ja einige zitiert: Welche würdet ihr mir ans Hirn legen?


    um die Übersetzung von Enno Littmann kommt man eigentlich nicht herum. :-) Als Ergänzung zu Littmann kann man sich noch die zweibändige Ausgabe von Felix Tauer zulegen:


    Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten. Band 1 [und Band 2]. Die in anderen Versionen von '1001 Nacht' nicht enthaltenen Geschichten der Wortley-Montague-Handschrift der Oxforder Bodleian Library. Aus dem arabischen Urtext vollständig übertragen von Felix Tauer. Leipzig: Insel, 1983.


    Ich glaube, davon gab es später auch mal eine Taschenbuchausgabe. In der Wortley-Montague-Handschrift sind viele Geschichten mit erotischer oder zotiger Thematik enthalten. Die oben erwähnte Übersetzung von Tauer enthält nur die Geschichten aus dieser Handschrift, die <i>nicht</i> in der Übersetzung von Enno Littmann enthalten sind. Deshalb eignet sich das sehr gut als Ergänzung zu Littmanns Übersetzung.


    Bei Diederichs ist in der Reihe "Märchen der Weltliteratur" die zweibändige Sammlung "Arabische Märchen" erschienen (hrsg. und übersetzt von Max Weisweiler). Das wäre etwas, wenn man sich für arabische Märchen interessiert, die nicht in 1001 Nacht enthalten sind. Denn es gibt ja nicht nur diese eine sehr berühmte Märchensammlung, sondern noch andere, teils recht alte kleinere Sammlungen oder Einzelmärchen. Wenn ich das recht im Kopf habe, sind in der Übersetzung von Weisweiler auch einige Märchen, die aus einer Handschrift aus dem 14. Jh. stammen.


    Schöne Grüße,
    Wolf

  • Hallo!



    um die Übersetzung von Enno Littmann kommt man eigentlich nicht herum.


    Danke!


    Eben bestellt:


    Littmann, Enno (Übertragen).
    Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten. Vollständige deutsche Ausgabe in sechs Bänden zum ersten Mal nach dem arabischen Urtext der Calcuttaer Ausgabe aus dem Jahre 1830. Preis: EUR 45,00
    Frankfurt, Insel, 1968. 6 Bände. Dunkelblaue Orig.-Kunstledereinbände mit silbernen Rückentitel und -verziehrung. Tadellos.
    45 Euro


    CK

  • Hallo xenophanes!


    Zitat von "xenophanes"

    Eben bestellt:


    Littmann, Enno (Übertragen).
    Die Erzählungen aus den tausendundein Nächten. Vollständige deutsche Ausgabe in sechs Bänden zum ersten Mal nach dem arabischen Urtext der Calcuttaer Ausgabe aus dem Jahre 1830. Preis: EUR 45,00
    Frankfurt, Insel, 1968. 6 Bände. Dunkelblaue Orig.-Kunstledereinbände mit silbernen Rückentitel und -verziehrung. Tadellos.
    45 Euro


    Sehr gute Entscheidung, genau diese Ausgabe (blaues Kunstleder, 1968) habe ich auch. :-) Die sieht sehr edel aus, liegt angenehm in der Hand und ist auf gutem Dünndruckpapier gedruckt, das offenbar nicht vergilbt, denn meine Ausgabe sieht aus wie neu gedruckt. Die derzeit lieferbare Leinenausgabe kostet 128 Euro, da hast Du also einiges Geld gespart. Meine Ausgabe hat mich sogar nur knapp 30 Euro gekostet. :breitgrins: Das umfangreiche Nachwort der Littmann-Übersetzung fand ich übrigens auch sehr lesenswert.


    Schöne Grüße,
    Wolf