September 2006 - Marcel Proust

  • Hallo, Ihr,
    ich habe mich nicht mehr in die Diskussionen eingeschaltet, weil ich ein größeres Lesetempo habe und inzwischen auch den letzten Band Gelesen habe.
    Durch das Lesen der "wiedergefundenen Zeit" ändert sich ja auch der Blick auf "die Flüchtige" und die anderen Bände. Ihr solltet es unbedingt lesen, weil es -jedenfalls mir- einen wichtigen :winken:Schlüssel geliefert hat.
    Dass Proust Albertine und Gilberte so schnell vergessen kann hat mich auch überrascht. Aber mir war das schon aufgefallen nach "In Swanns Welt". Auch wenn Swann Odette geheiretet hat, war seine fastvorher krankhafte Bindung einer gelassenen großzügigen Zuwendung gewichen, die mich überrascht hat.
    Auch Robert hat sich ja problemlos von seinen fanatischen (und teueren) Versuchen, Rebecca zu einzufangen, gelöst.
    Das scheint ein Muster bei Proust zu sein.
    Emma :winken:

  • Hallo Emma,


    wow, bist Du schnell! Ja, die Parallelen zu Swann und Odette sind auch in punkto Nachlassen der Liebe gegeben. Hätte Marcel Albertine heiraten können, wäre er sicher auch recht schnell gleichgültig geworden. Dein Hinweis zum Schlüssel im letzten Band macht mich übrigens jetzt schon neugierig. Vielleicht schaust Du trotz bereits gelesenem Buch ab und zu in unsere nächste Runde rein? Würde mich freuen.


    Schöne Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo !



    Sehr schön fand ich noch die Szene, in der Madame Sazerat unbedingt Madame de Villeparisis sehen will, die sie sich als "schön wie ein Engel, bös wie ein Teufel" vorstellt - und dann eine "kleine, abscheuliche, bucklige Person mit einem ganz roten Gesicht" sehen muss. Tja, die Vorstellungen der Kindheit halten sich hartnäckig, da kann man so manche Überraschung erleben.


    Ja, diese Szene hat mir auch sehr gefallen. Das ist ja auch in Wirklichkeit so, dass man manche Dinge aus der Kindheit verklärt. So hart aufzuwachen ist allerdings gemein. In meinem Buch gibt es im Anhang noch zwei andere, leicht unterschiedliche Fassungen dieser Szene.


    Venedig war auch wieder so eine Reminiszenz an Marcels Kindheit/Jugend. Schön, dass er es doch noch dorthin geschafft hat und Venedig steht ja auch sowohl für Liebe als auch für Tod oder Vergänglichkeit. Das passt dann auch wieder zum umfassenden Thema.


    Emma: Du machst mich richtig neugierig auf den letzten Teil. Ich bin ja gespannt, ob ich auch so einen "Schlüssel" entdecke.


    Gruß von Steffi

  • Hallo, liebe LeserInnen,
    ich bin natürlich weiter gespannt auf Eure Kommentare. Sie haben mir oft noch etwas erleuchtet, was ich überlesen hatte oder etwas erklärt, was mir unverständlich gewesen war.
    Hoffentlich habe ich Eure Erwartung nicht zu hoch gehängt. Und bei Proust muß man sich ja alles immer erst mühsam erlesen.
    Emma :smile:

  • Hallo zusammen,


    ich bin nun auch durch.


    Zitat von "Steffi"

    Venedig war auch wieder so eine Reminiszenz an Marcels Kindheit/Jugend. Schön, dass er es doch noch dorthin geschafft hat und Venedig steht ja auch sowohl für Liebe als auch für Tod oder Vergänglichkeit. Das passt dann auch wieder zum umfassenden Thema.


    schade nur, dass die Venedig-Episode so kurz gehalten wurde. Man könnte denken, dass die Erfüllung seines Lebenstraums, seiner Sehnsucht, die er bereits in "Combray" zum Ausdruck bringt, mehr Seiten füllt. Auf der anderen Seite zeigt es uns wieder, dass der Besuch von Orten nicht das entscheidende ist. Alles um die Liebe und die Kunst spielt sich im Erinnern und im Vergessen statt.


    Überrascht hat mich seine sexuelle Obsession auf junge Mädchen; sein irren durch die Gassen von Venedig.


    danke euch allen für die erhellenden Gedanken in dieser Leserunde :winken:


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Hallo Maria,


    ja, die Venedigepisode habe ich auch als kurz empfunden, wenn man überlegt, wie lange er schon davon geträumt hat. Aber es ist wohl, wie Du sagst:



    Auf der anderen Seite zeigt es uns wieder, dass der Besuch von Orten nicht das entscheidende ist. Alles um die Liebe und die Kunst spielt sich im Erinnern und im Vergessen statt.


    Nicht die Realität, das tatsächliche Erleben ist wichtig, sondern das, woran man sich erinnert.


    Liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo Maria,


    stimmt, das ist eine gute Erklärung ! Auch ich hätte mir mehr Venedig gewünscht, aber ihr habt Recht: nur so kann der Focus auf der Erinnerung liegen.


    Gruß von Steffi

  • Hallo !


    Ich bin nun die ersten 50 Seiten weit gekommen und der Stil ähnelt bisher wieder dem Anfang der "Suche" - poetisch und auch gegenständlicher. Viele Hinweise sind jetzt schon enthalten und dank des Kommentars kann ich sie auch nachvollziehen. Auch das Buch "Paintings in Proust" ist sehr hilfreich !


    Marcel ist krank und verbringt einige Tage (Wochen?) bei Gilberte. Saint-Loup ist, zur größten Überraschung Marcels, homosexuell und vor dem Einschlafen (auch schon wieder eine Verbindung zum ersten Band) liest er in einem Buch von Goncourt. Die Brüder Goncourt waren ja sehr bekannt und berühmt und gelten auch als Vertreter des Naturalismus. Der Prix Goncourt ist nach ihnen benannt, den Proust 1919 für "Im Schatten junger Mädchenblüte" erhalten hat.
    Nachdem nun Marcel zu müde zum weiterlesen ist, fängt er an, seinen eigenen literarischen Stil zu beschreiben. Er sieht mehr in das Innere der Menschen und überwindet so eben auch den Naturalismus und die Objektivität der Wissenschaft und kommt zur subjektiven Wahrnehmung und zum Impressionismus. Diese Weiterentwicklung ist für mich sehr anschaulich und großartig beschrieben.


    Gruß von Steffi


  • und vor dem Einschlafen (auch schon wieder eine Verbindung zum ersten Band)


    Längere Abhandlungen über den Schlaf kommen zumindest in jedem der ersten vier Bände vor, ich denke auch in den Bänden 5-7, das erinnere ich jedoch nicht genau. Dein Beitrag scheint das zu bestätigen. Das Motiv zieht sich somit durch die gesamte Recherche.


    Gruß, Thomas

  • Hallo zusammen,


    ich habe zuerst das Nachwort gelesen. Darin wird der Leser vorbereitet, dass Proust die Fäden nun verknüpft und so manches, was bisher unklar war, aufklärt. Darauf freue ich mich. Es ist wirklich ein wunderschönes Gefühl, wenn man sich "erinnert" :-)


    Zitat

    Auch das Buch "Paintings in Proust" ist sehr hilfreich !


    heute geliefert worden. Wunderbar!
    Bin sofort zum Kapitel "Time Regained"!


    Liebe Grüße an alle
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Leute, die Proust auf solche Weise wie ihr lesen, sind mir innerlich verbunden. Dabei kenne ich ja niemanden von Euch persönlich. Bin auf Eure Kommentare zum letzten Band gespannt. Habe diesen Band erst in diesem Jahr als Hörbuch erneut gehört.


    Gruß, Thomas

  • Hallo zusammen,


    wir sind wieder bei Proust, wie schön! Ich habe das Buch gerade nicht zur Hand, deshalb nur ein kurzer Kommentar aus dem Gedächtnis: Die Stelle mit dem späten Zubettgehen hat mich auch gleich an den allerersten Satz des Werks erinnert. Stimmt, der Schlaf zieht sich als Motiv durch das gesamte Buch. Vielleicht auch, weil im Schlaf die Erinnerungen aus dem Unterbewusstsein hochkommen?


    Gilberte besitzt für Marcel nun gar keinen Reiz mehr. Nicht nur die Liebe zu ihr, sondern auch ihre Anziehungskraft ist komplett verschwunden, sogar so weit, dass es Marcel nicht einmal mehr interessiert, auf wen er damals eigentlich eifersüchtig war (und der "Mann" war Lea! Immer wieder dieses Verwirrspiel und die Verknüpfungen. Ich bin schon sehr gespannt, was sich alles auflösen wird). Die Liebesbeziehungen, die beschrieben werden (Marcel/Gilberte, Marcel/Albertine, Swann/Odette, Robert/Rahel), bestehen eigentlich nur aus solchen extremen Höhen und Tiefen und schließlich Gleichgültigkeit. Ich habe mir gerade überlegt, ob damit ausgedrückt werden soll, dass es dauerhafte ("normale") Liebe nicht gibt, aber ich glaube, es ist eher so, dass solche Beziehungen für Marcel nicht interessant genug sind, ein Wort darüber zu verlieren.



    Leute, die Proust auf solche Weise wie ihr lesen, sind mir innerlich verbunden.


    Das geht mir auch so, ich genieße diese Leserunde besonders (wenn ich ehrlich bin, schleicht sich auch ein wenig Wehmut ein, dass wir "schon" beim letzten Band angelangt sind).


    Viele liebe Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo !



    Vielleicht auch, weil im Schlaf die Erinnerungen aus dem Unterbewusstsein hochkommen?


    Guter Gedanke - auch das würde den Kreis zum Impressionismus und zu Freud schließen, obwohl lt. Kommentar Proust wohl Freuds Schriften nicht kannte, könnte ich mir doch vorstellen, dass damals viele solcher Ideen in der Luft lagen.


    Zitat


    Die Liebesbeziehungen, die beschrieben werden (Marcel/Gilberte, Marcel/Albertine, Swann/Odette, Robert/Rahel), bestehen eigentlich nur aus solchen extremen Höhen und Tiefen und schließlich Gleichgültigkeit. Ich habe mir gerade überlegt, ob damit ausgedrückt werden soll, dass es dauerhafte ("normale") Liebe nicht gibt, aber ich glaube, es ist eher so, dass solche Beziehungen für Marcel nicht interessant genug sind, ein Wort darüber zu verlieren.


    Ich kann mir darauf auch keinen Reim machen und habe schon öfters darüber nachgedacht. Dass es für Marcel nicht interessant genug sein könnte, kann ich mir vorstellen, aber wie steht Proust dazu ? Ich bin immer wieder verblüfft, wie sehr ich manchmal Marcel und Proust identifiziere und wie manchmal irgendwie der Unterschied deutlich wird.


    Zitat

    Das geht mir auch so, ich genieße diese Leserunde besonders (wenn ich ehrlich bin, schleicht sich auch ein wenig Wehmut ein, dass wir "schon" beim letzten Band angelangt sind).


    Ja, da hast du recht, Manjula. Diese Leserunde über diese lange Zeit ist schon etwas ganz besonderes. Ich vermute auch, dass mich Proust nicht mehr loslassen wird, denn schon allein diese Erinnerungen, die jetzt an Combray auftauchen, weckt ein bißchen Sehnsucht, diesen Teil wieder zu lesen.


    Thomas: Schön, dass du uns etwas begleitest und spare nicht mit deinen Ansichten, bitte !


    Maria: Das ging ja schnell mit den "Paintings" - ich musste auf meinen Band 2 Wochen warten !


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,



    Die Brüder Goncourt waren ja sehr bekannt und berühmt und gelten auch als Vertreter des Naturalismus. Der Prix Goncourt ist nach ihnen benannt, den Proust 1919 für "Im Schatten junger Mädchenblüte" erhalten hat.


    ich lese gerade diesen Artikel über die Brüder Goncourt. Vielleicht interessiert euch die Geschichte des französischen Literaturpreises:


    Ein schwieriges literarisches Erbe


    Während er das Buch der Gebrüder Goncourt liest (in Wirklichkeit ein neues Pastiche von Proust), ist Marcel nicht zufrieden mit seinen Erinnerungen und glaubt nicht an seine Fähigkeit zu schreiben. Ist schon ein verwirrender Erzählstil dieses Buch einzubringen :rollen:


    Anfänglich beabsichtigte Proust den abschließenden Teil der "Recherche" Die ewige Anbetung zu nennen.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Hallo zusammen,


    als Marcel 1916 nach Paris zurück kehrt, hat sich die Zeit verändert. Die Personen die in der Gesellschaft dazu gekommen sind, sind nun jünger. In den Gesprächen gehts nun um Krieg, statt wie früher um Affären. Die Kleidung hat sich dem Krieg angepasst (eine Abbildung eines Tonnenkleides robe tonneau habe ich leider nicht gefunden). Es gab jetzt Ringe und Armbänder, die aus Geschoßsplittern oder den Führungsringen von Fünfundsiebziger-Granaten hergestellt waren...
    Die Dreyfus-Affäre ist obsolet. Nichts ist wie vor 1914. Die gute alte Zeit ist dahin. Alte und neue Erinnerungen werden vermischt. Ein interessanter Ansatzpunkt.


    Tatsächlich stand die tiefe, durch den Krieg bewirkte Wandlung in umgekehrtem Verhältnis zu dem Wert der betroffenen Geister, wenigstens von einem gewissen Niveau an. Ganz unten beschäftigten sich die bloßen Dummköpfe und einzig dem Amüsement zugewendeten Leute überhaupt nicht damit, daß Krieg war. Ganz oben aber haben die, die sich im Inneren eine eigene Welt schaffen und darin leben, wenig Blick für die Wichtigkeit äußerer Ereigniss. Was für sie aufs nachhaltigste die Ordnung der Gedanken beeinflußt, ist viel eher etwas, was an sich gar keine Bedeutung zu haben scheint, ihnen aber die Ordnung der Zeit umkehrt und sie zu Mitlebenden einer anderen Epoche ihres Daseins macht.


    "Paintings in Proust" hat mir bereits sehr geholfen, wie z.B. das Bildnis einer jungen Frau von Pisanello. (Ähnlichkeit sah Marcel als er das Profil der Königin Viktoria auf einem Zigarettenanzünder sah..)


    http://www.zeno.org/Kunstwerke…+der+Kirche+St.+Anastasia


    Liebe Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()


  • Hallo Thomas,


    danke für die Empfehlung!
    Ich habe die Biographie von Ronald Hayman, ebenfalls Suhrkamp, die zwar sehr ausführlich das Leben Prousts behandelt, in der ich mich jedoch, trotz des chronologischem Aufbaus, nur schwer zurechtfinde. Insbesonders wenn man schnell etwas über die Romane sucht. Keine Frage, sie ist informativ, doch mir fehlte trotzdem etwas.... :rollen:


    Gruß
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Hallo !


    Mich hat der abrupte Wechsel in die neue Zeit etwas überrascht. Auch der Stil scheint anders geworden zu sein. Ich empfinde alles ein bißchen hektischer und nicht mehr ganz so sensibel. Auch mit einer größeren Distanz erzählt.


    Die Kleider bzw. Accessoires aus Munitionsüberbleibsel - das hätte ich gerne gesehen :zwinker:


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    der Gedanke, dass Kunst über jede Feindseligkeit und Rasse erhaben ist, gefällt mir. Robert Saint Loup erwähnt Schubert und Wagner ...


    ...und machte keinerlei Umschweife, um mir zu sagen, daß er beim Anhören des ersten Vogelgezwittschers im Morgengrauen an ebenjenem Waldrand berauscht gewesen sei, als habe zu ihm der Vogel aus jenem "sublimen Siegfried" gesprochen, den er nach dem Krieg wieder zu hören hoffte.


    Schöne Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)