September 2006 - Marcel Proust

  • C'est cela, venez demain, je vous paierai le thé - sagt sie auf Französisch1): Ich zahle Ihnen den Tee. Ich vermute, woran er sich hier stösst ist die vulgäre Erwähnung von Geld, von Zahlen. Man spricht nicht vom Geld, wenn man es hat, das ist neureich ... :winken:


    1)S. 53 der nrf-Ausgabe

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Danke, sandhofer :smile:


    Da ist die Übersetzung aber ungenau - spendieren und zahlen ist ja wohl deutlich was anderes :sauer:


    Ich bin nun ebenfalls bei der schlafenden Albertine. Ehrlicherweise muss ich sagen, dieses hin und her über die Eifersucht und seine Gefühle ermüdet mich etwas, ich kann da manches nicht nachempfinden und seine krankhafte Eifersucht muss für mich nicht über 100 Seiten ausgebreitet werden :redface: Mir gefällt er als zynischer Gesellschaftskritiker besser. So, ich hoffe, dass es bald anders wird, zumindest die Beschreibung der schlafenden Albertine waren poetisch.


    Gruß von Steffi

  • Da ist die Übersetzung aber ungenau - spendieren und zahlen ist ja wohl deutlich was anderes :sauer:


    Ich muss gestehen, dass ich über das in meinen Ohren recht gewählt und gequält klingende "Spendieren" auch überrascht war, als ich "Payer" vorfand. Proust trifft verschiedene Sprachebenen im Grunde genommen recht genau; warum hier ein höheres Register gezogen wurde? :?:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Guten Abend,


    das ist ja wirklich eine merkwürdige Übersetzung. In meiner Ausgabe heißt es im weiteren Gossengeruch statt Fäkaliengeruch; payer wird aber auch hier mit spendieren übersetzt (wenn auch in Anführungszeichen).


    Marcels Verhältnis zu Albertine empfinde ich als sehr merkwürdig und widersprüchlich: einerseits kann sie ihn nicht mehr reizen, dennoch denkt er an eine Heirat. Und seine Eifersucht! Krankhaft ist ja noch ein zu schwaches Wort. Er liefert aber eine sehr schöne Analyse dazu:


    Zitat

    Sobald die Eifersucht erkannt ist, wird sie von der, auf die sie sich bezieht, als ein Mißtrauen ausgelegt, welches zur Täuschung berechtigt.


    In einem Satz den Teufelskreis der Eifersucht und die Qualen für beide Seiten niedergelegt.


    Die Passagen über die schlafende Albertine fand ich auch sehr poetisch. Er nutzt ja ihre "Abwesenheit" aber schamlos aus :zwinker:


    Worüber ich noch gegrübelt habe: was bringt Albertine eigentlich dazu, seine Eifersucht und Einschränkungen auf sich zu nehmen? An einer Stelle wird ja geschildert, dass sie den Luxus genießt, den er ihr bieten kann, aber ob das alles ist?


    Und endlich kam die Stelle, in der der Name "Marcel" genannt wird. Sehr raffiniert.


    Schöne Restpfingsten!


    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Guten Abend,


    und es geht weiter mit Marcels Obsession...Er kann es nicht einmal ertragen, Albertine einkaufen gehen zu lassen; sie könnte ja durch einen der vielen Ausgänge entwischen. Er erkennt auch deutlich, dass es ihm weniger um das Zusammensein mit Albertine geht als darum, sie von allen anderen fern zu halten:


    Zitat

    ...das Vergnügen, Albertine mit mir in meiner Wohnung zu haben, war viel weniger für mich ein positives Vergnügen, als dass es vielmehr darin bestand, dieser Welt , in der jeder seine Freude an ihr hätte haben können, dies junge Blüte entzogen zu haben...


    Es geht mir wie schon häufig in diesem Werk: ich bin beeindruckt von der Intensität, die Proust hier schildert, aber gleichzeitig froh, so etwas nie erlebt zu haben.


    Gut gefallen hat mir auch dieser Satz:


    Zitat

    Im übrigen ist die Liebe ein unheilbares Leiden wie jene Krankheitsveranlagungen, bei denen rheumatische Anfälle nur kurze Zeit Ruhe geben, um Migränen Platz zu machen, die schließlich einen geradezu epileptoiden Charakter erhalten.


    Sehr bissig.


    Ich stehe nun kurz vor Albertines geplantem Besuch bei Verdurins, den Marcel um jeden Preis verhindern will.


    Viele Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]



  • Es geht mir wie schon häufig in diesem Werk: ich bin beeindruckt von der Intensität, die Proust hier schildert, aber gleichzeitig froh, so etwas nie erlebt zu haben.


    Hallo zusammen,


    geht mir ebenso, Manjula.


    Erstaunlich finde ich, wie der Erzähler aus seiner Sicht sich alles schön zurecht biegt. In allem ist er sich unsicher, nur in einem nicht! Albertine ist eine Lügnerin. Das sagt er ganz bestimmend.


    S. 135 (st 3645):
    ....sondern weil sie, abgesehen davon, eine Lügnerin von Natur war....


    (was ich nicht so recht glauben kann).


    Ab und zu streut der Erzähler ein, wie sich Albertine verändert hat, aber so unauffällig, dass es kaum ins Gewicht fällt.


    S. 143:
    Zwischen Albertine und mir lag oft das Hindernis eines Schweigens, das zweifellos aus den Vorwürfen erwuchs, die sie erschwieg, weil sie deren Ursache für nicht wiedergutzumachen hielt....


    Die Ursache aus Sicht des Erzählers. Es können jedoch ganz andere Ursachen sein.


    Dass Albertine plötzlich nicht mehr zu den Verdurins will, weil Marcel sie begleiten möchte (was er eigentlich nicht will), zeigt mir nicht ihre Unehrlichkeit, sondern evtl. eine Enttäuschung ihm nicht für einem Nachmittag oder Abend entronnen zu sein. Die Atmosphäre muß doch bedrückend sein, wie eine Gefangene gehalten zu werden. Ich glaube nicht, dass wir nochmal einer so entspannten, schlafenden Albertine in diesem Band begegnen werden.


    Lächeln mußte ich über die eigene Selbsteinschätzung des Erzählers:


    S. 148/149
    Tatsächlich stand jetzt, so wie es Pflanzen gibt, die sich im Lauf ihres Wachstums spalten, neben dem sensiblen Kind, das ich einst war, ein ganz gegenteiliger Mann voll gesunder Vernunft und Strenge gegen die krankhafte Schwäche der anderen, ein Mann, der dem, was meine Eltern für mich gewesen waren, sehr ähnlich sah.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Guten Abend,


    dass Marcel felsenfest von Albertines Unehrlichkeit überzeugt ist, ist mir auch aufgefallen. Bis jetzt hat er sie doch noch nicht bei einer Lüge ertappt, oder? Und Francoises Meinung über sie kann er ja nicht ernsthaft als Maßstab nehmen, er erwähnt ja selbst, dass sie Leonie oft genug Lügengeschichten erzählt hat. Ganz allgemein finde ich die Haltung Marcels gegenüber Albertine zunehmend unsympathisch. Besonders unangenehm aufgefallen ist mir das in der Szene mit der schlafenden Albertine, als er sagt:


    Zitat

    Nur ihr Atem wurde durch jede meiner Berührungen verändert, als wäre sie ein Instrument, auf dem ich spielen und dem ich verschiedene Modulationen entlocken konnte...


    Es kommt mir vor, als ob er sie als seelenloses Ding sieht, das nur durch ihn, den Künstler, belebt werden kann. Wenn sie schläft, glaubt er, Macht über sie ausüben zu können; er bezeichnet ihren Schlaf auch als "Auslöschen ihres sonstigen Lebens". Andererseits sagt er an anderer Stelle:


    Zitat

    Man liebt nur, was man noch nicht vollkommen besitzt.


    Mir erscheint das ziemlich gequält: Entzieht sie sich ihm, ist sie begehrenswert. Könnte er aber seine Qualen beenden und sie "besitzen", wäre sie nicht mehr interessant für ihn. Ich fühle mich wieder an Swann erinnert und bin gespannt, ob sich in der weiteren Geschichte noch mehr Parallelen auftun.


    Viele Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]

  • Hallo !


    Ihr habt sehr interessante Gedanken zu Albertine.


    Es kommt mir vor, als ob er sie als seelenloses Ding sieht, das nur durch ihn, den Künstler, belebt werden kann.


    Das hast du treffend formuliert. Auch der Aufbau in diesem Band erinnert mich mehr an Kunst, speziell an Musik. Immer wieder tauchen Variationen auf, von der schlafenden Albertine, Geräusche von außen usw.


    Dass man nichts über Albertines Inneres erfährt, weist auf einen erzählerischen Standpunkt rein aus der Sicht des Erzählers hin, was sehr konsequent durchgehalten wird. Ich denke auch, dass Albertine als eine Art Anstoß für die Muse dient, die Marcel natürlich gefangen halten will. Nur durch sie kann er ja diese vielfältigen, intensiven Gefühle erfahren und niederschreiben. Gleichzeitig wird aber auch immer mehr seine Verachtung für Albertine spürbar.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    Albertine:
    Muse und auch eine Art Mutterersatz (Gute Nacht Kuss ...)
    Vielleicht sollte man Freud oder Jung lesen bevor man sich an Prousts Zyklus festbeisst *g*


    Gruß
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Auch der Aufbau in diesem Band erinnert mich mehr an Kunst, speziell an Musik. Immer wieder tauchen Variationen auf, von der schlafenden Albertine, Geräusche von außen usw.


    Hallo zusammen,


    besonders die Rufe und der Gesang der Viktualienhändler zieht sich über Seiten hinweg. Im Nachwort wird erwähnt, dass in diese Rufe aufreizend, verführerisch und pervertierend für Albertine sein sollen. Dazwischen finden sich allerdings auch Melodien mit Todesthemen z.B. eine Gebetsformel aus einer Totenmesse.
    Auf Albertines Tod wird hingewiesen (S. 167), Nachwort: "Vorbereitung auf den Tod Albertines .... in "Freuden und Tage" .... Da Ausdrücke wie "Voltigieren" oder "Volte" auch im Flugsport verwendet werden, schimmert an dieser Stelle auch der Tod Agostinellis durch."


    zu den Schnecken (S. 162) heißt es im Nachwort:
    Der "bigorneau" (Strandschnecke) bezieht seinen Namen von "bigorne", dem zweihörnigen Spitzamboß. Muschel und Horn erklären, weshalb "bigorneau" sowohl das weibliche als auch das männliche Geschlecht bezeichnen kann. Im Hinblick auf Albertine ist es wohl nicht zufällig, daß Proust mit diesem nicht nur doppeldeutigen, sondern auch doppelgeschlechtlichen Ruf beginnt.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)


  • zu den Schnecken (S. 162) heißt es im Nachwort:
    Der "bigorneau" (Strandschnecke) bezieht seinen Namen von "bigorne", dem zweihörnigen Spitzamboß. Muschel und Horn erklären, weshalb "bigorneau" sowohl das weibliche als auch das männliche Geschlecht bezeichnen kann. Im Hinblick auf Albertine ist es wohl nicht zufällig, daß Proust mit diesem nicht nur doppeldeutigen, sondern auch doppelgeschlechtlichen Ruf beginnt.


    Ah, sehr interessant ! Ich sollte wohl auch ab und an ins Nachwort schauen.


    Immer mehr kristallisiert sich heraus, dass Albertine eine Last bedeutet - überbordende Früchte an einem Stamm, die seine Reserven aufzehren. Außerdem, so gesteht er, wollte er doch nur ein bißchen Mann und Frau spielen, um Gelesenes nachvollziehen zu können. Da präsentiert er sich ja sehr egoistisch, ein kindlicher Egoismus, wie ich finde.


    Hier übrigens noch das Palais de Trocadero, das 1937 abgerissen wurde.



    Gruß von Steffi

  • Guten Abend,


    die Stelle mit der Schnecke ist wirklich sehr interessant und aufschlussreich. Überhaupt empfinde ich die Aufzählung der Lebensmittel als sehr poetisch, aber auch symbolhaft. Allein diese Szene könnte man schon seitenlang interpretieren.


    ...
    Dass man nichts über Albertines Inneres erfährt, weist auf einen erzählerischen Standpunkt rein aus der Sicht des Erzählers hin, was sehr konsequent durchgehalten wird. ...


    Nachdem Du darauf hingewiesen hast, fiel es mir auch auf: ja, man erfährt nie Albertines Sicht der Dinge. Es wäre sogar möglich, dass die Sünden oder Begehrlichkeiten, die er ihr andichtet, reine Phantasie sind. Irgendwie hat es etwas Beklemmendes, eine Person so "seziert" zu sehen, ohne dass sie die Chance hat, ihren Standpunkt darzulegen.


    Albertines verhinderter Besuch des Trocadero (Steffi, vielen Dank für die Bilder - sehr schön!) zeigt ja mal wieder die Kontrollwut von Marcel. Interessant, dass sowohl Francoise als auch Albertine, beides eigentlich Frauen mit durchaus eigener Meinung, ihm so widerspruchslos gehorchen.


    Viele Grüße
    Manjula

    [size=10px] "Kunst soll keine Schulaufgabe und Mühseligkeit sein, keine Beschäftigung contre cœur, sondern sie will und soll Freude bereiten, unterhalten und beleben, und auf wen ein Werk diese Wirkung nicht übt, der soll es liegen lassen und sich zu andrem wenden." [/size]



  • Albertines verhinderter Besuch des Trocadero (Steffi, vielen Dank für die Bilder - sehr schön!) zeigt ja mal wieder die Kontrollwut von Marcel. Interessant, dass sowohl Francoise als auch Albertine, beides eigentlich Frauen mit durchaus eigener Meinung, ihm so widerspruchslos gehorchen.


    Viele Grüße
    Manjula


    Hallo zusammen,


    Francoise ist sehr erpicht darauf, Marcel alles recht zu machen und Risse zwischen Albertine und ihm zu vergrößern. Dieser Hinweis fand ich ganz interessant, zeigt es doch, dass es an Marcel liegt, dass überhaupt Risse entstehen.


    An dieser Trocadero-Szene hat man gesehen, dass der Autor nicht mehr zum Durchsichten seines Manuskripts kam, denn er fragt seine Mutter (die eigentlich garnicht da ist) ob sie auf Francoise verzichten kann, damit er sie ins Trocadero schicken kann.


    Danke Steffi für den tollen Link :-)


    Die Ausführlichkeit mit dem Marcel erzählt, wie er nun den Dialekt zwischen Francoise und ihrer Tochter versteht, die sie bisher als Geheimsprache benutzten, fand ich irgendwie bedeutungsvoll; kann es aber nicht erklären. *seufz*


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Zitat

    Interessant, dass sowohl Francoise als auch Albertine, beides eigentlich Frauen mit durchaus eigener Meinung, ihm so widerspruchslos gehorchen.


    Hallo !


    Wiederum habe ich dabei das eigenartige Gefühl, dass wir auch Francoise nur aus der Sicht von Marcel kennenlernen und die Wahrheit bzw. Realität eigentlich eine ganz andere ist. Alles spielt sich nur im Kopf des Erzählers ab ? Irgendwie überlagert sich die Geschichte mit dem erzählenden Marcel und dem wahren Proust. Ich kann es schlecht erklären ...


    Besonders betroffen machten mich die Gedanken über Krankheit und die Krankheiten, die durch die Medizin hervorgerufen werden.


    Gruß von Steffi

  • Hallo zusammen,


    vor der Ausfahrt mit Albertine, spielt Marcel erst die Sonate von Vinteuil, dann nimmt er die Noten von Wagners "Tristan" und legte sie über das Notenblatt der Sonate. Eine solche Szene gabs schon mal. Passend dazu auch das Ende der Fahrt im Bois, es wird beschrieben, sie fuhren einen kleinen Weg, wo die von Efeu und Dorngestrüpp umkleideten Bäume ruinengleich zu der Höhle eines Zauberers hinzuführen schienen. In der Legende von Tristan und Isolde gab es eine verzauberte Höhle.


    Wunderschön poetisch ist dieser Satz:


    Nun aber schien es mir, als sei dieses Wunder nach draußen in die freie Natur verlegt, da vor jenem See im Bois, den ich so sehr liebte, am Fuß der Bäume die Sonne gerade ihren Schatten, den reinen, vereinfachten Schatten ihres Beins, ihres Oberkörpers, neben dem meinen auf den Sand des Weges zu zeichnen hatte. Und ich fand einen zwar immaterielleren, aber nicht weniger intimen Reiz als in der Annäherung, der Verbindung unserer Körper in derjenigen unserer Schatten.


    Dann stiegen sie wieder in den Wagen und die schönen, unkomplizierten Gedanken sind wieder vorbei. Schade, es könnte viel einfacher sein, wenn sich Albertine nicht wie eine Gefangene fühlen müßte.


    Bergotte ist tot.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()


  • Wiederum habe ich dabei das eigenartige Gefühl, dass wir auch Francoise nur aus der Sicht von Marcel kennenlernen und die Wahrheit bzw. Realität eigentlich eine ganz andere ist. Alles spielt sich nur im Kopf des Erzählers ab ? Irgendwie überlagert sich die Geschichte mit dem erzählenden Marcel und dem wahren Proust. Ich kann es schlecht erklären ...


    passend dazu eine Aussage des Erzählers:


    Auch das Zeugnis der Sinne ist nämlich eine Tätigkeit des Geistes, bei der die Überzeugungen die Evidenz erschaffen.


    Viele Grüße
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Guten Abend,


    ich bin auch an der Stelle über Bergottes Tod angekommen. Marcel berichtet relativ kühl darüber, gibt ja auch zu, dass er in den letzten Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm hatte. Obwohl er ja früher sein Idol war. Vielleicht ein Zeichen, dass er seine schriftstellerischen für seine gesellschaftlichen Ambitionen hintangestellt hat. Interessant an dieser Szene fand ich, dass der Erzähler, der ja sonst jedes Wort von Albertine anzweifelt, bzgl. seines Todeszeitpunkts eher ihr glaubt als verschiedenen Zeitungen. Eine etwas verquere Sicht auf die Wirklichkeit, oder?


    Überhaupt beschäftigt ihn das Thema Lüge sehr. Albertine lügt sowieso ständig, Gisele lügt anders als sie, die gesamte kleine Schar hat sich gegenüber ihm der Lüge verschworen...Amüsant war hier der kleine Ausflug in die Verlagswelt, wo sich nach Auffassung des Erzählers alle Verlagsmitglieder verschwören, den Autor im Dunkeln zu lassen. Und auch die Politik lässt er nicht ungeschoren:


    Zitat

    Proklamiert zu haben (als Führer einer politischen Partei oder was sonst immer), dass es abscheulich ist zu lügen, zwingt in der Mehrzahl der Fälle dazu, mehr als die anderen zu lügen, ohne dass man deswegen die feierliche Maske oder die erhabene Tiara der Gesinnungstreue ablegen darf.


    oder andersrum gesagt: ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.


    Zitat

    Besonders betroffen machten mich die Gedanken über Krankheit und die Krankheiten, die durch die Medizin hervorgerufen werden


    Ja, das ging mir auch so, insbesondere als er sagt, dass die natürlichen Krankheiten geheilt werden können, die "medizinischen" aber nicht. Ein erschreckender Gedanke.


    Zitat

    Die Ausführlichkeit mit dem Marcel erzählt, wie er nun den Dialekt zwischen Francoise und ihrer Tochter versteht, die sie bisher als Geheimsprache benutzten, fand ich irgendwie bedeutungsvoll; kann es aber nicht erklären. *seufz

    *


    Ich glaube, dass auch die Sprache eines der zentralen Themen der "Suche" ist. In einem der vorigen Bände wurde beschrieben, wie allein durch die Betonung eines Namens klar wird, ob der Sprechende zur "Gesellschaft" gehört oder nicht. Die Sprache kann also Aufschluss über die Gesellschaftsschicht geben (und das sehr unbarmherzig, denn anders als Kleidung, Armut, Herkunftsort usw. kann man sie nur schwer ablegen), sie kann aber auch ein Schutzschirm sein gegenüber denen, die sie nicht verstehen. Dass Marcel diesen Schutzschirm durchbricht, ist vielleicht ein Zeichen dafür, dass er auch gesellschaftliche Schranken in Frage stellen könnte (Charlus z.B. hätte sich sicher geweigert, einen Dienstbotendialekt zu lernen. Hm, so richtig kann ich es nicht erklären, aber auch mir kommt diese Szene wichtig vor.


    Viele Grüße
    Manjula

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  • Hallo zusammen !



    Ich glaube, dass auch die Sprache eines der zentralen Themen der "Suche" ist.


    Das empfinde ich auch so. Es dreht sich sehr viel um Sprache und Wortschöpfungen, auch der Diskurs über das Lügen gehört in weiterem Sinne mit dazu.


    Zitat

    Auch das Zeugnis der Sinne ist nämlich eine Tätigkeit des Geistes, bei der die Überzeugungen die Evidenz erschaffen.


    Ich muss zugeben, dass es mir bei diesem Band sehr schwer fällt, meine Gedanken zu ordnen und sozusagen im Lesefluss zu bleiben. Ob es daran liegt, dass nicht wirklich etwas passiert oder daran, dass Proust diesen Band nicht mehr redigieren konnte ? Merkt ihr etwas entsprechendes ?


    Gruß von Steffi


  • Ich muss zugeben, dass es mir bei diesem Band sehr schwer fällt, meine Gedanken zu ordnen und sozusagen im Lesefluss zu bleiben. Ob es daran liegt, dass nicht wirklich etwas passiert oder daran, dass Proust diesen Band nicht mehr redigieren konnte ? Merkt ihr etwas entsprechendes ?


    Hallo zusammen,
    hallo Steffi,


    mir gehts ähnlich, obwohl es bei den Verdurins wieder ganz gewohnt zu geht. Schwer zu erklären. Es fällt mir schwer etwas dazu zuschreiben.


    Nicht nur Bergotte ist gestorben, sondern auch Swann und die Fürstin Scherbatow und sogar der Tod Cottards wird erwähnt, doch im Nachwort wird aufgeklärt, dass später im Roman Cottard wieder autritt. Somit wieder ein Hinweis darauf, dass Proust nicht mehr zum Redigieren seines Romans kam.


    Als es heißt, dass Mademoiselle Vinteuil und ihre Freundin erwartet werden, flammt bei Marcel wieder Eifersucht auf.


    Viele Grüße
    Maria

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  • Ich muss zugeben, dass es mir bei diesem Band sehr schwer fällt, meine Gedanken zu ordnen und sozusagen im Lesefluss zu bleiben. Ob es daran liegt, dass nicht wirklich etwas passiert oder daran, dass Proust diesen Band nicht mehr redigieren konnte ? Merkt ihr etwas entsprechendes ?


    Hallo zusammen,


    ja, das geht mir auch so. Schwer zu sagen, woran es liegt. Sicher ist dieser Band im Vergleich zu den vorigen noch etwas handlungsärmer, aber ich glaube, dass das nicht der Hauptgrund ist. Auch bisher gab es ja Passagen, in denen über viele Seiten so gut wie gar nichts geschieht und die ich trotzdem sehr flüssig lesen konnte. Vielleicht - das fällt mir eben erst ein - ist aber dieser Stil auch bewusst als Symbol für den Zustand des Erzählers gewählt? Auch er macht ja den Eindruck des Stillstands; bei seiner Arbeit macht er keine Fortschritte und die Beziehung zu Albertine dreht sich ja auch mehr oder weniger im Kreis. Ich werde mal darauf achten, ob sich der Stil wieder ändert, wenn sich auch sein Leben ändert.


    Sehr interessant finde ich übrigens die Entwicklung, die Charlus im Lauf des Werks macht. Am Anfang stellt er sich für Marcel als kühner, etwas grausamer Frauenheld dar. Dieses Bild bekommt immer mehr Risse, und die Szene vor dem Empfang bei Mme Verdurin zeigt ihn als alternden, etwas "tuckigen" (sorry, aber mir fällt gerade kein besserer Ausdruck ein) Homosexuellen, der sich kaum noch im Griff hat. Der Erzähler bedauert - da er ihn für sehr talentiert hält - , dass Charlus nicht Schriftsteller wurde, sonder sein Leben mit "glänzenden Festen und fragwürdigen Zerstreuungen" verplempert. Eigentlich beschreibt er sich damit selbst. Die Gedanken über Charlus als Schrifsteller sind in meiner Ausgabe übrigens als lange Fußnote gedruckt, bei Euch auch? Mir kommt es eher wie ein Teil des Textes vor, nicht als Kommentar.


    Grinsen musste ich bei der Beschreibung von Mme Verdurin:


    Zitat

    ...ihrem schönen Blick, der, von der Gewöhnung an Debussy stärker umschattet, als es durch den dauernden Gebrauch von Kokain je hätte geschehen können...


    Euch noch einen schönen Sonntag!


    Viele Grüße
    Manjula

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