Februar 2006: Rilke - Die Aufzeichnungen [...] Brigge

  • Hallo zusammen,


    Zitat von "riff-raff"

    Müsste man nicht schon beinahe ein Heiliger sein um so zu lieben?

    Deshalb ist es ja auch eine Legende (=Heiligengeschichte).
    Mir leuchtet es ein, dass das parallel läuft. Die Zeit in Paris scheint die zu sein, wo er eben weggegangen ist und Leid und Einsamkeit kennenlernt. Auch muss er die Kindheit aufarbeiten, um weiterzukommen.


    Ich habe übrigens noch etwas interessantes zur Form gelesen: Rilke scheint beeindruckt gewesen zu sein von Rodins Atelier, wo überall Teile von Skulpturen herumlagen, jeder für sich nur ein Teil eines Körpers aber perfekt. Offenbar versuchte er, etwas ähnliches in der Sprache zu gestalten, deshalb die Bruchstücke.


    Zitat von "riff-raff"


    Das hat mich an Bertolt Brecht und seinen Herrn K. erinnert:


    "Was tun Sie", wurde Herr K. gefragt, "wenn sie einen Menschen lieben?" "Ich mache einen Entwurf von ihm",...

    ...siehe auch Max Frisch! Dort macht man sich jeweils ein Bildnis vom andern.


    Zitat von "alpha"

    Mit den historischen Anspielungen habe ich meine liebe Mühe, um ehrlich zu sein. Manchmal sind sie an sich interessant, manchmal auch nicht. Mal sind sie einigermassen verständlich, ander fallen wie aus dem Rahmen... - Man müsste wissen, um was es sich handelt,...

    Welche meinst du jetzt konkret? Ich habe eine kommentierte Ausgabe zur Hand. Zum Teil geht es auch um die Kunstauffassung.


    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Zu Rilkes Sicht der Liebe, vielleicht recht interessant:


    Ausschnitt aus den Duineser Elegien:


    Aber die Liebenden nimmt die erschöpfte Natur
    in sich zurück, als wären nicht zweimal die Kräfte,
    dieses zu leisten. Hast du der Gaspara Stampa
    denn genügend gedacht, daß irgend ein Mädchen,
    dem der Geliebte entging, am gesteigerten Beispiel
    dieser Liebenden fühlt: daß ich würde wie sie?
    Sollen nicht endlich uns diese ältesten Schmerzen
    fruchtbarer werden? Ist es nicht Zeit, daß wir liebend
    uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn:
    wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung
    mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends.


    Interpretation (Romano Guardini:)


    Älteste Schmerzen: man sollte aus ihnen lernen, worin der eigentliche Sinn des Lebens liegt. Es ist dringendst Zeit zu retten, was noch zu retten ist [Durch Technik] verschwinden die echten Gestalten, Bilder, welche das Leben mit Sinn erfüllen, zu Gunsten rationaler Nutzformen. In all der Versachlichung geht auch die Große Liebe verloren. Die Liebe wird sachlich. Die große Leidenschaft gibt es nicht mehr. So ist es Zeit, zu retten, was noch gerettet werden kann: dadurch, dass wir „liebend uns vom Geliebten befrein.“ Wir sollen lernen, nicht in die Person des Geliebten hineinzulieben. Nicht einmal so, dass wir, ihn meinend, zugleich das Höchste meinen. Sondern so, dass wir über ihn hinausgehen, ins Offene des Seins einfachhin, zur Stelle werden, wo das Dasein zu Bewusstsein seiner reinen Wirklichkeit erwacht.


    Zitat Guardini:


    „Das darf uns aber nicht hindern, zu sagen, dass der Gedanke im Letzten unrichtig ist. Lieben heißt, Jemanden lieben. Liebe ist die lebendigste Wirksamkeitsform der Person gegenüber der Person. Im Liebesbezug entsteht zwar nicht, aber erwacht im Anderen das Du wie im Selbst das Ich, und ohne den Wechselbezug von Du und Ich gibt es keine Liebe. So klar man sieht und so tief man bewundert, was Rilke aus jener inneren Unfähigkeit macht, kann man doch nicht anders als sagen: Das Wesen dessen, was Liebe eigentlich meint, hat er aus dem Blick verloren. Damit hat er aber etwas Entscheidendes vom Sinn des Daseins überhaupt verloren; denn ein Dasein, in welchem es den Bezug von Ich und Du als Brennpunkte der Existenz-Ellipse nicht mehr gibt, ist nicht mehr es selbst. In ihm entsteht eine innere Wesenlosigkeit, die sich auch in allem anderen geltend macht: im Verhältnis zu den Dingen, zum Schicksal und – darüber wird noch zu sprechen sein – Gott.“



    Liebe Grüße!
    Undine

    Doch vor dem ersten Tode kam der Mord. (Rainer Maria Rilke)

  • Oh, Udine, gib mir noch etwas Zeit...


    Im zweiten Zitat wird plötzlich noch auf den Sinn des Lebens verwiesen - eine heikle Angelegentheit und schon allein eine Diskussion wert! - Dem kann ich so natürlich nicht zustimmen.


    Ich kenne Guardini nicht. - Weshalb mischt er auch noch Gott hinein, ist das notwendig?


    Demnächst mehr, hoffe ich!



    Grüsse
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Von der Zeitkritik finde ich nichts in dem Ausschnitt - eher ein Aufruf, es sei an der Zeit, etwas Neues zu beginnen. - Oder habe ich da etwas völlig falsch verstanden?


    Zitat

    Ist es nicht Zeit, daß wir liebend
    uns vom Geliebten befrein und es bebend bestehn:
    wie der Pfeil die Sehne besteht, um gesammelt im Absprung
    mehr zu sein als er selbst. Denn Bleiben ist nirgends.


    Es - welches es mag da gemeint sein?


    Der letzte Satz klingt resigniert: Bleiben, Ruhe? - Nein, damit ist es vorbei, heute mehr denn je, aber könnte Ruhe, Statik, "Bleiben" nicht auch Tod bedeuten? - Lebt man nicht nur in der Dynamik? - Als Pfeil eben nur, während der Flugzeit?


    Zitat

    Wir sollen lernen, nicht in die Person des Geliebten hineinzulieben. Nicht einmal so, dass wir, ihn meinend, zugleich das Höchste meinen. Sondern so, dass wir über ihn hinausgehen, ins Offene des Seins einfachhin, zur Stelle werden, wo das Dasein zu Bewusstsein seiner reinen Wirklichkeit erwacht.


    Das verstehe ich nun wirklich nicht: "hineinlieben"? - Ist damit die "Bildnisproblematik" gemeint? - Dass eine fiktive Person geliebt wird, die keinen Änderungen mehr unterworfen werden kann, statt dem wirklichen Menschen, bzw. dem Menschen an sich?
    "wo das Dasein zu Bewusstsein seiner reinen Wirklichkeit erwacht" - das Dasein erwacht? - Oder sollte der Mensch, der liebende, gemeint sein?
    Um ganz ehrlich zu sein: Ich verstehe noch immer nicht!

    Lieben, ohne dem Geliebten einen Zwang anzutun, aber davon finde ich nichts...


    Fragen über Fragen, ich bin solche Texte und Diskussionen leider zu wenig gewohnt...



    Grüsse
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann

  • Hallo zusammen!


    Wenn ich mich kurz einmischen darf:


    Zitat von "alpha"

    Ich kenne Guardini nicht. - Weshalb mischt er auch noch Gott hinein, ist das notwendig?


    Guardinis Interpretationen - ich kenne v.a. seine Sokrates-Darstellung - sind von einem äusserst katholischen Standpunkt aus gemacht, wenn ich mich nicht irre. Das kann man akzeptieren oder nicht.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo ihr!
    Ja, danke Sandhofer, für die Einmischung *gg* - Guardini ist Theologe und Philosoph, ich schätze ihn sehr - kenne allerdings nicht allzu viel von ihm. Wie findest du ihn, Sandhofer?
    Auf Wikipedia findet ihr, wen es interessieren sollte, sicherlich genaueres zu Guardini...
    Zu seiner Interpretation der Elegien: Ich glaube ich hätte das Ganze in einen größeren Zusammenhang stellen sollen, denn so ist nur ein Ausschnitt der Elegien bzw der dazugehörigen Interpretation Guardinis herausgegriffen, und manchen fehlt vielleicht der Kontext. Doch um das alles in einen größeren Zusammenhang zu stellen, bedürfte es mehr als hier Platz ist - wer möchte kann ja gerne eine neue Leserunde zu den Duineser Elegien eröffnen! ;-)
    Nun denn, wie auch immer, ich versuche, lieber alpha, die unklaren Teile (sofern sie mir selbst klar seien) noch einmal genauer zu erläutern: Von meinem persönlichen Standpunkt aus muss ich zunächst einmal sagen, dass Guardini meiner Meinung nach die Elegien sehr treffend interpretiert. Weiters ist es auch nötig, etwas genauer über Rilkes Persönlichkeit und sein Leben Bescheid zu wissen, um zu verstehen was er ausdrücken möchte...
    Mit dem "es" meint er, denke ich, den Auftrag, der an uns, die Menschen, gestellt wird von allem. Doch wie bereits vorhin gesagt, kennt man nicht zumindest die ganze erste Elegie, wird man sich damit schwer tun. Hier also die erste Elegie: http://www.rilke.de/gedichte/die_erste_duineser_elegie.htm
    "Das alles war Auftrag." es....
    Das Thema Liebe ist bei Rilke überhaupt ein ganz ganz ganz kompliziertes. Da ich mich nun doch schon längere Zeit mit ihm beschäftige, kann ich ungefähr nachvollziehen, was gemeint ist- doch es zu erklären ist sehr schwer, ich probiers (man verzeihe Unverständlichkeiten)
    Guardini kommt in seiner Interpretation auf Rainer Maria Rilkes "Unfähigkeit" zu Lieben zu sprechen, was zu wissen eine ganz wesentliche Voraussetzung zur Interpretation aller Liebes-Stellen Rilkes ist. Rilke hat es nicht geschafft, in irgendeinem Herzen Heimat zu finden, wie er es auch nicht geschafft hat, auf der Welt irgendwo eine Heimat zu finden- sein Leben war das eines ewig ruhelos umherstreifenden Dichters, und seine Unfähigkeit zu Lieben sucht er schließlich ins Positive umzuwandeln und ist also der Überzeugung, dass man, wenn man liebt, nur wirklich "richtig" liebt, wenn die Liebe nicht mehr auf die Person an sich gerichtet ist, sondern schließlich in die weite Welt, ins All, ins Göttliche - in alles. Die Elegien sind durch diese alles durchziehende Einsamkeit des Menschen geprägt...


    Konnte ich helfen?


    Liebe Grüße,
    Undine

    Doch vor dem ersten Tode kam der Mord. (Rainer Maria Rilke)

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Undine"

    Ja, danke Sandhofer, für die Einmischung *gg* - Guardini ist Theologe und Philosoph, ich schätze ihn sehr - kenne allerdings nicht allzu viel von ihm. Wie findest du ihn, Sandhofer?


    Mir scheint alphas Charakterisierung sehr zutreffend:

    Zitat

    Weshalb mischt er auch noch Gott hinein, ist das notwendig?


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen!


    In meiner Ausgabe des „Malte“ sind noch Schriften aus Rilkes Nachlass abgedruckt: zwei unterschiedliche Fassungen des Romananfangs und der ursprüngliche Schluss der Aufzeichnungen. Habt ihr die auch?


    Die beiden frühen Einstiegskapitel zum Roman sind insofern interessant, dass Rilke hier eine vermittelnde Erzählerinstanz benutzt, während in der endgültigen Fassung es ja Malte selbst ist, der zu uns spricht. In einer Version wird vor allem die Gespensterszene auf dem Gut Urnekloster unverhältnismässig stärker gewichtet als in der Schlussfassung.


    (Zur Erinnerung: Es handelt sich um die Episode als Malte von seinem Vater nach Urnekloster mitgenommen wird, als dieser seinen Schwiegervater aufsucht. Während des gemeinsamen Abendessens öffnet sich eine Tür eine „schlanke, hellgekleidete Dame“ geht langsam durch den Raum und verschwindet in der gegenüberliegenden Tür. Von seiner Tante, Mathilde Brahe, erfährt Malte, dass es sich bei der Erscheinung um Christine Brahe handle, die „vor etwa hundertzwanzig Jahren in ihrem zweiten Kindbett gestorben“ sei. Auffallend ist vor allem die Reaktion von Maltes Vater auf die Spukgestalt: Er gerät in Zorn und versucht sich dem Gespenst in den Weg zu stellen, was sein Schwiegervater aber verhindert: „Du bist heftig, Kammerherr, und unhöflich. Was lässt du die Leute nicht an ihre Beschäftigungen gehen?“ „Wer ist das?“, schreit Maltes Vater. Worauf der alte Brahe erwidert: „Jemand, der wohl das Recht hat hier zu sein. Keine Fremde; Christine Brahe.“ Maltes Vater reisst sich los und stürzt aus dem Saale. Wegen dieser Begebenheit vermutet Malte, dass sie jetzt abreisen werden, aber der Vater entscheidet anders und sie halten sich noch acht Wochen auf Urnekloster auf. In dieser Zeit erscheint Christine Brahe noch drei weitere Male. Bei ihrem letzten Erscheinen hat sich Maltes Vater soweit im Griff, dass während das Gespenst hinter seinem Sessel vorübergeht er seinem Schwiegervater zuprostet, auch wenn er das Glas „wie etwas sehr Schweres“ ergreift und nur „eine Handbreit über den Tisch“ zu heben vermag. – Mit „Und noch in dieser Nacht reisten wir.“ endet die Erzählung.)


    Diese Episode auf Gut Urnekloster wird von Malte nun in dieser frühen Version des Romananfangs mit den folgenden bedeutungsschwangeren Worten eingeleitet:


    „Heute“, sagte er langsam [Malte erzählt einem Freund], „heute ist es mir klar geworden. Klarheiten kommen so sonderbar; man ist nie vorbereitet auf sie. Sie kommen während man auf einen Omnibus steigt, während man die Speisekarte in der Hand dasitzt, während die Kellnerin nebenan steht und anderswohin schauend wartet [...] Heute kam mir diese Klarheit auf dem Boulevard des Capucines [...], da, gerade mitten im Übergange, läutete es in mir auf und war eine Sekunde so hell, dass ich nicht allein eine sehr entfernte Erinnerung, sondern auch gewisse seltsame Zusammenhänge sah, durch welche eine frühe und scheinbar unwichtige Begebenheit meiner Kindheit mit meinem Leben verbunden ist. [...] es war mir, als wäre in ihr der Schlüssel gewesen für alle ferneren Türen meines Lebens, das Zauberwort für meine verschlossenen Berge, das goldene Horn, auf dessen Ruf hin immer Hülfe kommt. Als wäre mir damals der wichtigste Wink meines Lebens gegeben worden, ein Rat, eine Lehre – und nun ist alles verfehlt nur weil ich diesen Rat nicht befolgt, weil ich diesen Wink nicht verstanden habe; weil ich nicht gelernt habe, nicht aufzustehen, wenn sie eintreten und vorübergehen, die, welche eigentlich nicht kommen dürften, die Unerklärlichen. mein Vater hat es noch gekonnt, er kämpfte damit, ich sah, welche Anstrengung es ihn kostete, nicht wieder aufzuspringen, - aber schliesslich konnte er es; er blieb bei Tische sitzen, freilich er hatte auch dann noch nicht die vornehme Gelassenheit meines Grossvaters; er konnte niemals essen während sie vorübergingen; seine Hände zitterten, sein Gesicht verzerrte sich auf eine fremde und fürchterliche Art. [...]
    [...]
    „Zwölf Jahre oder höchstens dreizehn muss ich damals gewesen sein. Mein Vater hatte mich nach Urnekloster mitgenommen...."


    Was folgt ist die Episode auf Gut Urnekloster, genau so, wie sie auch im fertiggestellten Roman erscheint. Warum Malte gerade in dieser Episode das „Zauberwort“, den „Schlüssel“ zu sehen scheint „für alle ferneren Türen seines Lebens“ bleibt mir auch weiterhin schleierhaft. Interessant fand ich einfach, wie viel mehr Gewicht Rilke in dieser frühen Fassung auf die Gespensterszene legt. Sieht einer von euch hier klarer?


    Gruss


    riff-raff

  • Da hast du recht, riff-raff, diese erhöhte Aufmerksamkeit auf die Episode auf Urnekloster scheint bedeutsam zu sein.


    Ich weiss nicht, irgendwie assoziiere ich "die Unerklärlichen" mit all den seltsamen Gestalten (eher Bettlern...) welche im ersten Teil der Aufzeichnungen ein Rolle spielen, im zweiten jedoch völlig verschwinden, was mich etwas erstaunte!
    Und dann ist da auch noch die Episode mit der Hand - welche jedoch auf die Zeit vor Urnekloster zu datieren ist (oder bringe ich die Reihenfolge durcheinander?), welche ebenfalls in diese Thematik gehört. - Und der Besuch bei den Bekannten im niedergebrannten Schloss!
    - Von dem her finde ich es eher verwunderlich, dass Rilke die Gewichtsverteilung in der Endfassung verändert hat.
    Weshalb die Episode so wichtig wäre für Malte, ist kaum zu beurteilen, da wir zu wenig von den entscheidenen Augenblicken für sein Leben als Erwachsener wissen: Womit vertrieb er die Zeit, all die Jahre hindurch, ausser mit Reisen, wovon lebte er, wen liebte er, was für Erfahrungen machte er?



    Grüsse
    alpha

    Genug. Will sagen: zuviel und zu wenig. Entschuldigen Sie das Zuviel und nehmen Sie vorlieb mit dem zu wenig! <br /><br />Thomas Mann