Dezember 2005 - Adalbert Stifter: Der Nachsommer

  • Hallo zusammen!


    Wirklich vorwärts gekommen bin ich die letzten paar Tage ja nicht ... Deshalb einfach einige Antworten:


    Zitat von "finsbury"

    @ sandhofer: Sind die Kapitelüberschriften denn nicht von Stifter? Sie müssten doch in jeder Ausgabe vorhanden sein.


    Denke ich eigentlich auch. Mich hat nur irritiert, dass Maja nur Seitenzahlen angibt und keine Kapitel, was mich (mit einer andern Augabe) beim Suchen dann ziemlich im Dunkeln lässt.


    Zitat von "finsbury"

    Nun wird mir auch der Ich- Erzähler etwas sympathischer: Mit seiner Schüchternheit gegenüber den Frauen erhält er liebenswertere Züge.


    Da frage ich mich schon die längste Zeit: War das zeittypisch, oder war das autorenbedingt? Immerhin haben z.B. die Figuren von Gottfried Keller dasselbe Symptom.


    Zitat von "finsbury"

    So finde ich, dass sehr häufig die Sätze mit dem Subjekt, besonders gerne mit "ich" beginnen, obwohl der Ich-Erzähler eher der passiver Rezipient ist [...]


    Ein interessanter Aspekt, den ich noch gar nicht so richtig wahrgenommen habe. Danke für den Hinweis!


    Zitat von "finsbury"

    @ sandhofer: Mir ist noch nicht aufgefallen, dass die Kommata bei Aufzählungen fehlen.


    Vielleicht wurde das ja in Deiner Ausgabe "verbessert"? Im Nachwort meiner Hanser-Edition steht, dass dies offenbar eine Art "Markenzeichen" Stifters gewesen ist, das man absichtlich so belassen hat. Es ist jedenfalls für mich sehr interessant, wie Stifters betulich-langsame Sprache gerade in den Aufzählungen (eigentlich doch das Betulichste und Langsamste, das man sich vorstellen kann!) an Tempo gewinnt. Geradezu rasant wird heruntergeleiert, was alles zur Beschreibung gehört.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo,


    frohes neues euch allen!!


    Kurz zum oben genannten Kapitel: Da ich Geografie studiert habe, war ich völlig fasziniert von Stifters Auslassungen zum geologischen Forschungsstand seiner Zeit: Sehr modern, seine Fragen und Einsichten: Da hat er vieles schon richtig gesehen. Wunderbar überhaupt seine Naturliebe: Ich finde es sehr berührend, dass hier ein Österreicher wirklich mal die überwältigende Natur seines Landes thematisiert hat.
    Im Moment bin ich mit Stifter -wie man liest - recht versöhnt: Es passiert auch ein bisschen und ich fühle mich mitgenommen.
    Dennoch geht mir immer noch die Pedanterie auf den Geist, obwohl ich glaube, dass sie für diesen zerfressenen Autor ein Schutzmechanismus war.
    Und dann die Syntax: Ist diese "Schlichtheit", um es freundlich auszudrücken, Absicht? Aber warum? In der Ausgestaltung der Räume und Bilder lässt Stifter seine Romanfiguren doch eine extreme Gestaltungsabsicht und Sorgfalt artikulieren. Welchen Sinn erfüllen diese monotonen Satzstrukturen? In kaum einen Satz findet man zum Anfang etwas anderes als das Subjekt. Wenn man das stets vermeidet, wirkt es auch gekünstelt, aber ein paar Mal wäre ganz nett. Habt ihr schon andere
    Werke von Stifter gelesen? Dann könnte man ja wissen, ob das Gestaltungsabsicht für den "Nachsommer" ist oder allgemeine Marotte des Autors ...



    HG
    finsbury

  • Hallo zusammen,
    etwas verspätet auch von mir die besten Wünsche zum neuen Jahr!
    Ich bin auch ein Stück weitergekommen, habe aber die Notizen gerade nicht bei mir.

    Zitat von "Sandhofer"

    Mich hat nur irritiert, dass Maja nur Seitenzahlen angibt und keine Kapitel, was mich (mit einer andern Augabe) beim Suchen dann ziemlich im Dunkeln lässt.


    Da die Kapitel so lang sind, habe ich für mich Seitenzahlen notiert. Kann man nicht aufgrund der Gesamtseitenzahl ungefär umrechnen?


    Zitat von "finsbury"

    In kaum einen Satz findet man zum Anfang etwas anderes als das Subjekt. ..... Habt ihr schon andere
    Werke von Stifter gelesen? Dann könnte man ja wissen, ob das Gestaltungsabsicht für den "Nachsommer" ist oder allgemeine Marotte des Autors ...


    Danke für den Hinweis! Ich hatte sowieso vor, die Erzälungen mal wiederzulesen und werde darauf achten. Die Sprache habe ich schon als sehr schlicht und ruhig in Erinnerung, aber nie genauer auf die Ursache geachtet.
    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Hallo,


    so, nun melde ich mich zurück.


    40 Seiten habe ich heute geschafft und bin nun im Kapitel "Die Annäherung", das du, sandhofer, ja schon vor mehreren Wochen erreicht hast.
    Iim vorhergehenden Kapitel fand ich eine schöne Stelle über die Dichtkunst im Vergleich zu den anderen Künsten:


    nur die Dichtkunst hat beinah keinen Stoff mehr, ihr Stoff ist der Gedanke in seiner weitesten Bedeutung [...] Die Dichtkunst ist daher die reinste und höchste unter den Künsten.


    Das freut natürlich den leidenschaftlichen Leser, allerdings stehen meiner Ansicht nach die anderen Künste, besonders die klassische Musik, in ihren großen Werken, der Dichtkunst in nichts nach, auch wenn sie stofflich stärker gebunden sein mögen.


    Interessant sind auch die Ausführungen über die klassischen Bildwerke im oben genannten Kapitel: Ich habe mich mit der Theorie der bildenden Künste noch nicht beschäftigt und was hier über Beweglichkeit in der Abbildung und deren unterschiedliche Darstellung in der zeitgenössischen und antiken Kunst gesagt wird, ist für mich sehr erhellend, wenn auch für Fachleute vielleicht kalter Kaffee.


    Immer noch haben sich die Protagonisten nicht einander vorgestellt trotz jahrelanger intensiver Besuche: Das finde ich ja immer noch sehr gekünstelt: Wenn ich's nicht aus der Sekundärliteratur wüsste, könnte ich noch nicht mal dem Ich-Erzähler einen Namen geben.


    Hab mir heute übrigens bei Amazon eine Stifter-Biografie bestellt: Mehr und mehr gewinne ich den Eindruck, dass Stifter mit dieser kontrollierten heilen Welt sowohl der äußeren als auch der geistigen Welt eigene Obsessionen in den Griff kriegen will: Teilweise erscheint mir diese Welt als geradezu zwanghaft strukuriert. Bin gespannt, mehr über sein Leben zu erfahren. Die Andeutungen in derSekundärliteratur besätigen meinen Eindruck. Was meint ihr?


    HG
    finsbury

  • Hallo zusammen!


    Unterdessen bin ich bereits in der langen Brautzeit des Erzählers. Noch immer weiss er offiziell nicht, wer sein Gastgeber ist. Er geht auf Reisen, auch ins Ausland, doch der Leser erfährt nicht viel mehr als diese nackte Tatsache.


    Unterdessen wartet seine Braut zu Hause auf ihn. Briefe werden nicht gewechselt, sie erfährt von seinen Plänen (wenn überhaupt) auf Umwegen.


    Was die Auseinandersetzung mit Kunstgeschichte und -theorie betrifft, so hatte ich immer den Eindruck, Stifter folge hier Goethe und Lessing. Ich müsste das allerdings mal nachprüfen. Einiges von dem, was hier erzählt wird, sind ja Tätigkeiten, die Stifter selber tatsächlich unternommen hat, wenn auch nicht auf eigene Rechnung. Letzteres war wohl eher ein Wunschtraum: ein Sponsor, der mal so schnell eine Kirche restaurieren lässt. Die Wertschätzung der gothischen Baukunst, ohne grosse romantische Überhöhung, war aber nicht nur Stifters Protagonisten eigen, sondern auch dem Autor selber.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo zusammen,


    Gegen Ende des ersten Besuchs hat mir die Stelle gut gefallen, wo er noch einen Augenblick die Rosen anschauen will. Dieses bewusste Schauen, das den Leser teilhaben lässt. Es beginnt mit "Ich sah... Ich sah...." und dann folgt eine sehr präzise Beschreibung, faszinierend.
    Das Versetzen der Bäume fand ich etwas übertrieben.... doch an dieser Stelle ist mir aufgefallen, dass Risach immer "wir" sagt, obwohl er doch sozusagen alleinstehend ist.


    Etwas irritiert hat mich, dass er ihm ALLE Zimmer zeigt, z.T. ohne Erklärung. Ist das normal? Und am Ende des Besichtigungstour entschuldigt sich der Gastgeber, dass er viel von der Zeit des Gestes beansprucht habe. Das ist doch irgendwie verkehrt?!


    Was mich immer wieder überrascht sind die Wechsel im Erzähltempo: Der Rest des Sommers wird in einem Satz abgehandelt, und dann wird z.B. vor dem Besuch des King Lear äusserst umständlich geschilder, wie er dazu kam, die vorstellung anzuschauen und wie er ins Theater ging.
    Im Stadt-Abschnitt übrigens sympathisch, dass die Hilfsmittel der Stadt zur Ausbildung gelobt werden! Offenbar hat doch nicht nur das Landleben Vorteile :breitgrins:


    Zu Beginn des 2. Besuchs ...nach mehreren gleichgültigen Gesprächen...: der heutige "Small-Talk" hat also doch auch seinen Platz.


    Übrigens habe ich unterwegs Brigitta zu lesen begonnen: Auf die Satzstruktur habe ich zu wenig geachtet (weil ich nicht mehr präsent hatte, was finsbury genau dazu geschrieben hatte), aber inhaltlich ist die Parallele zum Nachsommer frappant!


    Zitat von "sandhofer"

    Was die Auseinandersetzung mit Kunstgeschichte und -theorie betrifft, so hatte ich immer den Eindruck, Stifter folge hier Goethe und Lessing.

    Warum? Entspricht das nicht allgemein dem schon erwähnten Bildungsideal des Universalgelehrten der Zeit?


    Zitat von "finsbury"

    Hab mir heute übrigens bei Amazon eine Stifter-Biografie bestellt:...

    ...und ich die rororo-Monographie wieder hervorgesucht :winken:


    Herzliche Grüsse,
    Maja

    Einmal editiert, zuletzt von ()

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Maja"

    Was mich immer wieder überrascht sind die Wechsel im Erzähltempo:


    Danke, dass Du das festgehalten hast. Ich überlese so etwas gerne.


    Zitat von "Maja"

    Warum? Entspricht das nicht allgemein dem schon erwähnten Bildungsideal des Universalgelehrten der Zeit?


    Haben wir jetzt aneinander vorbei geredet? Ich meinte den Inhalt jener Gespräche, eben die Würdigung der griechischen Antike und ihrer bildhauerischen Werke, die m.M.n. auf Lessing, Goethe und natürlich auch Winckelmann zurückgeht. Das Bildungsideal des Universalgelehrten spielt hier doch nur insofern eine Rolle, als dass natürlich Risach durch seine Kenntnisse beweist, dass er dem nachzustreben bemüht ist. (In einem späteren Gespräch wird er sich als "verhinderten" Bildhauer oder zumindest Architketen "outen", der z.B. von Natur aus weniger mit Dichtung anfangen könne; somit kommt die Palme des Universalgelehrten dann plötzlich - dem Autor Stifter zu, der dies alles geschrieben haben kann ... )


    Grüsse


    Sandhofer

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  • Hallo zusammen,

    Zitat von "sandhofer"

    Das Bildungsideal des Universalgelehrten spielt hier doch nur insofern eine Rolle, als dass natürlich Risach durch seine Kenntnisse beweist, dass er dem nachzustreben bemüht ist.

    und in der vielseitigen Ausbildung des Erzählers!


    Zitat von "finsbury"

    Mehr und mehr gewinne ich den Eindruck, dass Stifter mit dieser kontrollierten heilen Welt sowohl der äußeren als auch der geistigen Welt eigene Obsessionen in den Griff kriegen will: Teilweise erscheint mir diese Welt als geradezu zwanghaft strukuriert.

    Den Eindruck erhielt ich beim Lesen in der Biographie auch. Stifter scheint z.T. krankhaft präzis Tagebuch geschrieben und Selbstbeobachtung betrieben haben.
    Aber umso faszinierender, dass daraus ein Werk entstand, welches auch und immer wieder für andere interessant ist!


    Gestern habe ich noch "Brigitta" fertiggelesen: Es beginnen nicht viele Sätze mit dem Subjekt. Aber die inhaltlichen Parallelen zum Nachsommer ziehen sich bis zum Ende durch, auch dort geht es um eine im Alter (platonisch) blühende Liebe, und der Sohn der beiden heisst auch Gustav.


    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Hallo,


    unterdessen bin ich bis in das Kapitel "Der Einblick" vorgedrungen, muss jetzt aber kurz pausieren, weil ich eine Lektürereihe vorbereiten muss. (Ich hasse es, Jugendbücher mehrfach lesen zu müssen, aber jeder Job hat seine Tücken.)


    Danke, Maja, für deine Überprüfung der Satzstruktur in "Brigitta". Also müssen wir davon ausgehen, dass Stifter die mir langweilig erscheinende, häufig fehlende Satzverknüpfung und die Anfangstellung des Subjekts absichtlich einsetzt.
    Vielleicht ist es, da er sich ja wohl an Goethe als Klassiker orientiert, seine Vorstellung von "edler Einfalt und stiller Größe" in der sprachlichen Gestaltung :breitgrins: .


    Ich bin immer noch hin- und hergerissen von diesem Buch. Auf der einen Seite gehen mir die Pedanterie und dieser Übermensch Risach gewaltig auf den Wecker. es fällt mir auch schwer, ein Buch zu genießen, das sich durch fast völlige Humorfreiheit auszeichnet.


    Andererseits gibt es sehr schöne und sehr liebevolle Passagen, z.B. die Liebe des Ich-Erzählers zu seinem Vater und dessen Freude über den Instrumententisch, den er seinem Sohn dauernd unter irgendeinem Vorwand zeigen will. Hier ist auch die einzige Stelle, wo ich ein bisschen zärtliche Ironie erahnen kann.

    Wunderbar sind auch die Naturschilderungen: die letzten schönen Tage im Hochland, das Gewitter im Spiegel der Statue und des Marmorsaals.


    Langsam kommen sich auch der Ich-Erzähler und Nathalie näher. Wäre das Tempo ihrer Beziehungsentwicklung Durchschnitt, könnten allerdings währenddessen ganze Völker aussterben.


    Entschuldigt, ich bin heute ein wenig spöttisch aufgelegt.


    Ein schönes Wochenende


    finsbury

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "finsbury"

    Entschuldigt, ich bin heute ein wenig spöttisch aufgelegt.


    Ist, glaube ich, eine natürliche, gesunde und notwendige Reaktion auf Stifter.


    Ich bin unterdessen dort, wo der alte Risbach seine Geschichte erzählt. Zum ersten Mal kommt so etwas wie Spannung in den Roman - und Tragik. Man beginnt zu erahnen, warum der alte Mann einen Schutzwall an Rosen und genau abgezirkelten Handlungen um sich herum aufgebaut hat.


    Warum allerdings der junge Ich-Erzähler desgleichen tut .... :rollen:


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo,


    nun bin ich im Kapitel "Das Fest". Im vorhergehenden Kapitel waren wieder sehr schöne Passagen über die Arbeit des Ich-Erzählers im Hochgebirge. Ich kann es nur goutieren, dass er zwischendrin auch zur praktischen Arbeit zurückkehrt: Wenn mein Wissen über antike Gemmen auch etwas angestiegen ist, fesselt mich dieses Thema nicht gerade an meinen Lesesessel.


    Dagegen gefallen mir seine Ausführungen über die Gestaltung alter Gesichter durch das Leben: Vielleicht findet ihr auch, dass viele Menschen jenseits der sechzig ein besonders interessantes Aussehen gewinnen, weil die Lebenskämpfe und Erfahrungen dem Gesicht Individualtität und oft auch Liebenswürdigkeit verleihen.


    Die Liebesgeschichte mit Natalie geht rasant voran. Nun sind sie das erste Mal eine Strecke allein miteinander gegangen und haben sogar einen Umweg gemacht, damit es länger dauert, wenn das auch nur angedeutet wird.
    Ob wohl auf dem Fest Entscheidendes passiert? Ein Konkurrent, z.B. Roland, der der Dame ja auch schöne Augen macht, könnte die Sache beschleunigen...


    In gespannter Erwartung


    finsbury


    sandhofer
    Ich lese gern, dass auch Risach vielleicht nicht nur ein blutleerer Edelpedant ist: Das lässt mich hoffen!

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "sandhofer"


    Ist, glaube ich, eine natürliche, gesunde und notwendige Reaktion auf Stifter.


    Danke, das tröstet mich, mir geht es regelmässig so!


    Zitat von "Sandhofer"

    Warum allerdings der junge Ich-Erzähler desgleichen tut ....


    Warum wird die Sache eigentlich von einem Ich-Erzähler erzählt? Was wäre anders, wenn es ein allwissender Erzähler wäre? Vermutlich müsste man mehr über die Form sagen können, um mehr über den Sinn zu erfahren.
    Ich persönlich habe das Gefühl, dass das Ganze (noch) langweiliger würde ohne Ich-Erzähler, obwohl dieser ja eigentlich auch ein langweiliger Typ ist.


    Die Rosen und abgezirkelten Handlungen als Schutzwall - das leuchtet ein. Und das Schreiben darüber als Schutzwall für den Autor? Mich beschäftigt immer noch die Frage, warum man den Nachsommer (immer wieder) gerne liest.



    Zitat

    Wäre das Tempo ihrer Beziehungsentwicklung Durchschnitt, könnten allerdings währenddessen ganze Völker aussterben.

    Vielleicht gäb's auch einfach weniger Scheidungen :zwinker:


    Herzliche Grüsse,
    Maja

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "Maja"

    Warum wird die Sache eigentlich von einem Ich-Erzähler erzählt? Was wäre anders, wenn es ein allwissender Erzähler wäre? Vermutlich müsste man mehr über die Form sagen können, um mehr über den Sinn zu erfahren.


    Eine gute Frage ...


    Ich bin gestern abend noch fertig geworden. Zum Thema "Erzählzeit - erzählte Zeit" habe ich im letzten Kapitel etwas Schönes gefunden:


    Zitat von "Adalbert Stifter"

    Ich ging zuerst über die Schweiz nach Italien; nach Venedig Florenz Rom Neapel Syrakus Palermo Malta. Von Malta schiffte ich mich nach Spanien ein, das ich von Süden nach Norden mit vielfachen Abweichungen durchzog. Ich war in Gibraltar Granada Sevilla Cordoba Toledo Madrid und vielen anderen minderen Städten. Von Spanien ging ich nach Frankreich, von dort nach England Irland und Schottland und von dort über die Niederlande und Deutschland in meine Heimat zurück. Ich war um einen und einen halben Monat weniger als zwei Jahre abwesend gewesen. Wieder war es Frühling, als ich zurückkehrte, die mächtige Welt der Alpen der Feuerberge Neapels und Siciliens der Schneeberge des südlichen Spaniens der Pyrenäen und der Nebelberge Schottlands hatten auf mich gewirkt.


    (Ich habe die Stifter'sche Kommasetzung, wie sie meine Ausgabe wiedergibt, aus dem Gedächtnis rekonstruiert; der e-Text bei Gutenberg ist da offenbar nicht origninalgetreu ...)


    Man stelle sich vor: Da wird ein Besuch in der östereichischen Provinz von ein paar Tagen kapitellang abgehandelt, und dann eine Europareise von fast zwei Jahren in diesem halben Abschnitt erledigt!


    Übrigens: Diese zweijährige Reise findet statt in der Zeit zwischen Verlobung und Hochzeit. Der Ich-Erzähler müsste nun wohl an die 30 Jahre alt sein ...


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo,


    nun komme ich mit großen Schritten, ähnlich wie der Erzähler durch Europa :zwinker: , im Buch weiter und verweile im vorletzten Kapitel fünfzig Seiten vor dem Ende.


    Die zweite Hälfte des Romans gefällt mir entschieden besser, auch wenn die Liebesszenen ein wenig kitschig geraten sind. Aber die Naturbeschreibungen des Gebirges im Spätherbst und Winter sind schon grandios. Es menschelt auch mehr. Du hast Recht, sandhofer, Risach wird einem etwas sympathischer, wenn man die Lebenshintergründe erfährt.


    Interessant finde ich übrigens, dass der Ich-Erzähler Heinrich in Liebesdingen fast in Außensicht schreibt, weshalb vielleicht bei dir, Maja, auch der Eindruck entsteht, dass ebenso gut eine andere Perspektive möglich wäre. Wir erfahren von Heinrichs Gefühlen gegenüber Natalie immer nur durch Handlung und Gespräche, aber nicht durch Bericht über seine Gefühle. Ganz anders der Ich-Erzähler Risach, der den Schmerz über die verlorene Mathilde wesentlich deutlicher kundtut.
    Nun endlich hat er - in meiner Ausgabe auf Seite 583 - auch seinem jugendlichen Freund seinen Namen offenbart, dessen Namen ist mir immer noch nicht aus dem Roman bekannt. Ich hab aber mal ans Ende gespinxt: Da wird er genannt. Nun bin ich beruhigt.


    Noch ein wenig zurück: Im Kapitel "Das Fest" erwähnt Risach das beginnende Industreizeitalter und durch ihn begründet Stifter auch, warum seine Edelmenschen in dieser zeitlosen Edelumgebung leben:


    [...] wir stehen noch zu sehr im Brausen dieses Anfangs, um die Ergebnisse beurteilen zu können,ja wir stehen erst ganz am Anfang des Anfanges.


    Diese Übergangszeit will er wohl nicht zum Hintergrund seines exemplarischen Bidungsromans machen.


    Euch ein weiterhin schönes Wochenende


    finsbury

  • Hallo zusammen!


    Einen Grund für die Wahl des Ich-Erzählers bei der Erzählperspektive im Nachsommmer ist wohl die Entwicklung der Story selber. Man mag die Haltung des Ich-Erzählers ein wenig seltsam finden, einem allwissenden, ausserhalb der Story stehenden Erzähler könnte man es aber ganz und gar nicht abnehmen, ebensowenig einem Ich-Erzähler Risach: das Spiel der Namen - d.h., die Tatsache, dass der junge Erzähler weder von seinem väterlichen Freund noch von seiner Geliebten den Nachnamen kennt. Nur so ist es möglich, dass Risachs Rückblende Sinn macht und die Story so etwas wie einen Höhepunkt hat. Aus jeder andern Perspektive erzählt, hätte so etwas schon lange bekannt gegeben werden müssen, scheint mir.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo.


    Hab noch nichtmal ein Achtel des Buches durch. Bin (theoretisch) fleißig am Lernen und abends macht der Nachsommer dann recht schnell recht schläfrig.


    In einem Zeitungsartikel hab ich gelesen Stifter sei innerlich wohl zerrissen gewesen, da liegt es für mich nahe, dass er sich mit dem Nachsommer sein Ruhe- und Ordnungsrefugium erdichtet haben könnte. Ist für mich - bis jetzt - eine Art Instant-Waldspaziergang in schöner, einfacher Sprache.


    Aber zum toten Hirsch aus 'Der Wanderer', das ist gleichsam eine Kulturkritik im Nebensatz. "Nur die Menschen, welche das Tier geschossen hatten, waren mir widerwärtig, da sie daraus gleichsam ein Fest gemacht hatten."
    Gut, kann auch sein, dass das typisch Jugendlicher ist, der hier dargestellt wird und er das als Erwachsener dann eher praktisch sieht, glaub ich aber nicht.


    Die Dialoge scheinen mir oft weltfremd und arg konstruiert, z.B. in der 'Beherbergung': "Ich sehe, dass du mit einem fremden Mann beschäftigt bist, ich werde dich also nicht stören und wieder in den Garten hinunter gehen."
    Einfach und simple, der Junge hat die Situation sofort erfaßt und beschreibt sie auch gleich.



    Bei Thomas Bernhard ('Alte Meister') las ich Stifter hätte grammatikalisch viele Fehler gemacht. Hab's aber nicht so mit Grammatik. [Dass Bernhard in Stifter nur eine "tragische Figur" sah (Heidegger nennt er dann gleich drauf "nur komisch") glaub ich nicht. Vor allem scheint B. mir von Stifter ein wenig inspiriert, den er ja als junger Mann genau wie sein Grossvater gelesen hat ('Der Atem').]

  • Hallo,


    geschafft! Und insgesamt - doch ein positives Urteil. Ich lege das Buch bereichert und mit Bedauern zur Seite, denn es birgt auch so manche Herrlichkeiten in sich. (Das ist schon fast stiftersch formuliert :redface: ).
    Leider habe ich im Moment keine Zeit, morgen kommt eine längere Stellungnahme.
    Euch eine schöne Arbeitswoche!


    HG
    finsbury

  • Hallo,


    nun mein Schlusscommuniqué:


    Nachdem ich das Buch vor 17 Jahren in Ostberlin (damals war das noch ein Unterschied) erwarb, habe ich es nun dank der hier stattfindenden Leserunde gut abgelagert zu mir genommen.
    Leseschwierigkeiten hatte ich - wie einige von euch - viele zu überwinden. Diese lagen nicht im unmittelbaren Textverständnis - wie z.B. bei Schillers 'Ästhetischer Erziehung', sondern in der ungeheuren Anhäufung von zumindest mich oft nicht sehr interessierenden Einzelheiten. Auch die wohl bewusst äußerst schlicht gehaltene Sprache verdarb mir hin und wieder den Lesegenuss. Menschen wie aus Fleisch und Blut konnte ich in diesem Buch nur bisweilen erkennen, wobei mir z.B. der Gärtner Simon mit seiner peniblen weißen Kleidung (man möge sich das bei seinem Beruf mal vorstellen!) und seinem geliebten Cereus-Ungetüm besonders ans Herz gewachsen ist. Über die Pedanterie haben wir uns ja schon früher verständigt.
    Dennoch: Es ist ein Buch, das einen erhebt und weiterführt. Erst durch den Schluss mit dem Lebensrückblick Risachs erhält es seinen eigentlichen Sinn und seine Tiefe, wie auch du, sandhofer, schon andeutetest. Der nach möglichst vielen entsprechenden Richtungen ausgebildete, geistig- ästhetische Mensch wird dem praktisch-politischen Tagesmenschen gegenübergestellt. So lange hier kein Schlechter und Besser impliziert wird, kann ich mit dem ersteren Menschentyp als einem Idealmodell durchaus etwas anfangen.
    Aber wirklich angerührt haben mich die Naturbeschreibungen, darin ist Stifter ein ganz großer. Zum ersten Mal in meinem Leseleben hat ein österreichischer Schriftsteller die großartige Natur seines Landes und den Drang, diese auch in ihrer Entstehung zu erkennen und zu schätzen, so eindrucksvoll artikuliert. Dafür werde ich dieses Buch noch manches Mal in die Hand nehmen.
    Angerührt hat mich auch der Hintergrund, dass Stifter mit diesem Werk wohl auch gegen seine eigenen Ängste und Obsessionen angeschrieben hat. Das gibt dem Roman eine tiefere Dimension, die untergründig mitläuft und nur manchmal angedeutet wird, wie z.B., wenn Risach auf die möglichen Lebenswege Rolands anspielt. Ich kann gut verstehen, warum z.B. gerade Nietzsche diesen Roman als ungeheuer wichtig empfand. Da wird wohl eine ähnliche Gemütslage wie bei Stifter eine Rolle gespielt haben.
    Nun lese ich die Stifter-Biografie von Wolfgang Matz: Adalbert Stifter oder diese fürchterliche Wendung der Dinge, um mir mehr Aufschlüsse über diesen Autor zu verschaffen. Eine spätere Leserunde zu den Bunten Steinen oder Witiko würde ich wohl auch mitmachen.
    Ich bin gespannt auf eure weiteren Leseeindrücke.


    HG
    finsbury

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "finsbury"

    Leseschwierigkeiten hatte ich - wie einige von euch - viele zu überwinden. Diese lagen nicht im unmittelbaren Textverständnis - wie z.B. bei Schillers 'Ästhetischer Erziehung', sondern in der ungeheuren Anhäufung von zumindest mich oft nicht sehr interessierenden Einzelheiten. [...]
    Aber wirklich angerührt haben mich die Naturbeschreibungen, darin ist Stifter ein ganz großer.


    Ja, Stifters Sprache ...


    Die Aufzählungen - laut Arno Schmidt unabdingbar für jeden Realisten - sind mir zum ersten Mal so richtig aufgefallen. Persönlich mag ich ja so etwas. Es gehören halt viele, viele Kleinigkeiten zu einer Welt, wie anders soll der Realist der Welt Herr werden als durch Aufzählen ihres Inhalts? Dass Stifter dann jeweils die Kommata weglässt, gibt dem Schauen des Erzählers / Lesers dann jedesmal eine gewisse Hast, finde ich.


    Stifters Naturbeschreibungen - eine Mischung aus wissenschaftlichem Realismus und romantischer Naturbegeisterung - sind in der deutschen Sprache schon etwas einmaliges, etwas vom Besten, das in der Richtung überhaupt je geschrieben wurde. Wie schon mal gesagt, gehört Der Nachsommer zu meinen Leib- und Magenbüchern, die ich in Abständen von 1-2 Jahren immer mal wieder lese. Nicht der Figuren, sondern der Landschaften wegen. Und des ruhigen, getragenen Sprachrhythmus'.


    Grüsse


    Sandhofer

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus