Sozialismus und Gefühle (zum Traurigkeitsseminar)

  • Hallo zusammen,


    das Semester läuft seit geraumer Zeit und ich werde am 21. oder 27. Juni ein Referath in dem beschriebenen Seminar halten (vgl. Thread zu "Textkenntnisklausur zu Emilia Galotti, Werther, Effie Briest" ).
    Ich habe mich für Milan Kunderas "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" eingetragen und sollte eigentlih zu dem Thema "Thematisierung und Repräsentation von Gefühlen auf verschiedenen Ebenen des Romans" referieren. Da die Dozentin allerdings gesagt hat, dass sie für andere Referatsthemen offen ist und dies sogar begrüßt und vor allem, weil ich das Thema doch nicht soooooo spannend finde, würde ich gerne über ein anderes Thema zu Kundera referieren. Da hab ich mir gedacht, dass eines der Motive, die in dem Buch ja immer wieder auftreteten das von dem Gegensatz zwischen Öffentlichkeit und Privatheit im besetzten Tschechien ist.


    Daher wäre es doch sicher interessant, etwas über Gefühle im Sozialismus und/oder dem aus ihm resultierenden Überwachungsstaat zu machen. Wie das Thema genau aussehen sollte, weiß ich noch nicht so genau, aber in die Richtung könnte es gehen. Ich habe mich jetzt schonmal ein wenig in unserer Uni-Bibliothek umgesehen und nicht allzuviel bis gar keine Literatur dazu gefunden...


    Daher wollte ich einfach mal hören, was ihr


    1. von der Idee eines solchen Themas haltet,


    2. für Ideen habt, wie das Thema konkret lauten könnte


    und ob ihr


    3. vielleicht irgendwelche interessante Literatur zu diesem Thema empfehlen könnt.


    Danke im Voraus und schöne Grüße,


    G.F.

    [size=9px]"Das Gegenteil von gut ist gut gemeint!"[/size]
    <br />kettcar

  • Das individuelle Gewissen gegen die Staatsnorm -


    Jan Neruda


    – von dem der große, sozialistische Chilene Pablo, eigentl. Neftali R.R.Basualto, seinen neuen Nachnamen „Neruda“ übernahm, ist der wichtigste böhmische Dichter (1834 – 1891); er war großes Vorbild für das neue Tschechien nach dem 1. Weltkrieg, nach der Staatsgründung der Tschechen mit eigenem Territorium und eigener Sprache, die nur ienge Dienstbotensprache war. - Eine Geschichte habe ich von J.N., deren Übersetzer ich nicht kenne.
    *
    Für die jungen revolutionären Dichter - vor und nach 68 – kenne ich diesen Sammelband mit Autoren, Texten und Erklärungen:
    Jiri Grusa [späterer Minister der CSR bzw. Tschechien; als Hrsg.]: Verfemte Dichter. Eine Anthologie aus der CSSR. Köln 1983.


    - Darin z.B. die Kurztexte von Ivan Klima, Vaclav Havel, Eva Kanturkova – Literatur, die in der kommunistischen Gesellschaft verboten, weil „staatsgefährdend“ war. Und der „Staat“ ist ja daran zugrunde gegangen, weil er nicht die Grundrechte des Individuums und seine sozialen und kreativen Potenzen akzeptieren konnte oder wollte.
    Dort wird das Thema Entfremdung gegenüber der privaten und sozialen von den staatlichen Normen stärker entfaltet als in dem klassischen Text von Jan Neruda, der an die Mitleidfähigkeit appelliert.


    *


    Hier also eine Kurzgeschichte, die die psychisch elende Situation einer jungen Frau zeigt, die der Erzähler-Mann bedenkenlos ausbeutet.


    *


    Jan Neruda:
    Zu den drei Lilien


    Ich glaube, ich war damals von Sinnen. Die Pulse flogen, das Blut wallte.
    Es war eine warme, aber dunkle Sommernacht. Die schweflige, tote Luft der letzten Tage hatte sich endlich zu schwarzen Wolken geballt. Ein stürmischer Wind peitschte sie vor sich her, dann brauste ein mächtiger Sturm los, Regengüsse prasselten nieder, und Sturm und Regen dauerten bis spät in die Nacht. Ich saß unter den hölzernen Arkaden des Gasthauses Zu den drei Lilien, unweit des Strahover Tores. Es war ein kleines Gasthaus, das sich nur sonntags regen Besuches erfreute, wenn sich im Salon zu den Klängen eines Klaviers Kadetten und Korporäle im Tanze drehten. Auch heute war Sonntag. Ich saß allein unter den Arkaden in der Nähe eines Fensters. Gewaltige Donnerschläge folgten einander fast ohne Unterlaß, der Regen schlug aufs Schindeldach über mir, das Wasser rann in stiebenden Bächlein zu Boden, das Klavier im Salon gönnte sich nur kurze Ruhepausen und klimperte dann weiter. Wenn ich nicht gerade durchs offene Fenster die sich drehenden, lachenden Paare beobachtete, schaute ich hinaus in den dunklen Garten. Manchmal, wenn ein greller Blitz aufzuckte, sah ich an der Gartenwand am Ende der Arkaden weiße Häufchen menschlicher Knochen. Denn hier war einst ein kleiner Friedhof gewesen, und eben diese Woche hatte man die Gebeine ausgegraben, um sie andernorts beizusetzen. Das Erdreich war noch zerwühlt, die Gräber waren offen. Ich hielt es immer nur kurze Zeit an meinem Tisch aus.
    Des öfteren stand ich auf und trat für eine Weile an die sperrangelweit geöffnete Tür des Salons, angelockt von einem schönen, etwa achtzehnjährigen Mädchen. Schlanker Wuchs, volle, warme Formen, im Nacken gestutztes, lockeres, schwarzes Haar, ovales, glattes Gesicht, helle Augen ein schönes Mädchen! Ihre Augen hatten es mir vor allem angetan. Klar wie Wasser, geheimnisvoll wie ein Weiher begehrliche Augen.
    Sie tanzte fast unaufhörlich. Aber sie merkte sehr wohl, dass sie meine Blicke anzog. Wenn sie an der Tür vorbeitanzte, an der ich stand, schaute sie mich immer fest an. Wenn sie wieder in den Salon hineintanzte, sah und spürte ich, dass sie mich bei jeder Drehung mit einem Blick streifte. Sprechen sah ich sie mit niemandem.
    Schon wieder stand ich da. Unsere Blicke trafen sofort aufeinander, obwohl sie in der letzten Reihe stand. Die Quadrille neigte sich dem Ende zu, die fünfte Tour klang aus. Da kam noch ein Mädchen hereingelaufen, atemlos und durchnässt, und drängte sich durch. Die Musik zur sechsten Tour setzte ein. Über die erste Kette hinweg flüsterte die Neuangekommene der anderen etwas zu, und diese nickte stumm. Die sechste Tour dauerte etwas länger, sie wurde von einem flotten Kadetten kommandiert. Als Schluss war, blickte das Mädchen mit den schönen Augen noch einmal zum Garten her, dann ging sie zur Vordertür des Salons. Ich sah, wie sie draussen das Oberkleid über den Kopf zog und verschwand.
    Ich ging und nahm wieder meinen Platz ein. Abermals brach das Gewitter los, als habe es noch nicht genug gewütet; der Sturm toste mit neuer Kraft, Blitze fuhren nieder. Ich lauschte erregt, aber meine Gedanken galten nur dem Mädchen, diesen wunderbaren Augen.
    Erst nach einer Viertelstunde schaute ich erneut zur Tür des Salons. Und da stand sie wieder. Sie ordnete ihr durchnässtes Kleid, trocknete sich das feuchte Haar; eine ältere Freundin half ihr dabei.
    „Und warum bist du bei dem Unwetter heimgegangen?“ „Die Schwester hat mich geholt“, vernahm ich jetzt zum erstenmal ihre Stimme. Sie klang seidenweich und voll.
    „Ist etwas geschehen?“
    „Die Mutter ist gestorben.“
    Mich überrieselte es.
    Sie drehte sich um und trat heraus. Sie stand neben mir, den Blick auf mich gerichtet, ich spürte ihre Hand neben meiner. Ich griff danach, sie fühlte sich weich an.
    Stumm zog ich das Mädchen tiefer und tiefer in die Arkaden. Sie folgte willig.
    Das Gewitter hatte nun seinen Höhepunkt erreicht. Der Sturm brauste daher wie eine Sturzflut, Himmel und Erde kreischten, über unseren Häuptern rollte der Donner; es war, als schrien ringsum die Toten aus den Gräbern.
    Sie schmiegte sich an mich. Ich spürte, wie ihr feuchtes Kleid an meiner Brust klebte, spürte den weichen Körper, den warmen Hauch ihres Atems mir war, als müsste ich ihr die verrottete Seele aus dem Leib saugen.
    Sie tanzte fast unaufhörlich. Aber sie merkte sehr wohl, dass sie meine Blicke anzog. Wenn sie an der Tür vorbeitanzte, an der ich stand, schaute sie mich immer fest an. Wenn sie wieder in den Salon hineintanzte, sah und spürte ich, dass sie mich bei jeder Drehung mit einem Blick streifte. Sprechen sah ich sie mit niemandem.
    Schon wieder stand ich da. Unsere Blicke trafen sofort aufeinander, obwohl sie in der letzten Reihe stand. Die Quadrille neigte sich dem Ende zu, die fünfte Tour klang aus. Da kam noch ein Mädchen hereingelaufen, atemlos und durchnässt, und drängte sich durch. Die Musik zur sechsten Tour setzte ein. Über die erste Kette hinweg flüsterte die Neuangekommene der anderen etwas zu, und diese nickte stumm. Die sechste Tour dauerte etwas länger, sie wurde von einem flotten Kadetten kommandiert. Als Schluss war, blickte das Mädchen mit den schönen Augen noch einmal zum Garten her, dann ging sie zur Vordertür des Salons. Ich sah, wie sie draussen das Oberkleid über den Kopf zog und verschwand.
    Ich ging und nahm wieder meinen Platz ein. Abermals brach das Gewitter los, als habe es noch nicht genug gewütet; der Sturm toste mit neuer Kraft, Blitze fuhren nieder. Ich lauschte erregt, aber meine Gedanken galten nur dem Mädchen, diesen wunderbaren Augen.
    Erst nach einer Viertelstunde schaute ich erneut zur Tür des Salons. Und da stand sie wieder. Sie ordnete ihr durchnässtes Kleid, trocknete sich das feuchte Haar; eine ältere Freundin half ihr dabei.
    „Und warum bist du bei dem Unwetter heimgegangen?“
    „Die Schwester hat mich geholt“, vernahm ich jetzt zum ersten Mal ihre Stimme. Sie klang seidenweich und voll.
    „Ist etwas geschehen?“
    „Die Mutter ist gestorben.“
    Mich überrieselte es.
    Sie drehte sich um und trat heraus. Sie stand neben mir, den Blick auf mich gerichtet, ich spürte ihre Hand neben meiner. Ich griff danach, sie fühlte sich weich an.
    Stumm zog ich das Mädchen tiefer und tiefer in die Arkaden. Sie folgte willig.
    Das Gewitter hatte nun seinen Höhepunkt erreicht. Der Sturm brauste daher wie eine Sturzflut, Himmel und Erde kreischten, über unseren Häuptern rollte der Donner; es war, als schrien ringsum die Toten aus den Gräbern.
    Sie schmiegte sich an mich. Ich spürte, wie ihr feuchtes Kleid an meiner Brust klebte, spürte den weichen Körper, den warmen Hauch ihres Atems.
    Mir war, als müsste ich ihr die verrottete Seele aus dem Leib saugen.
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    (J.N: Geschichen von der Prager Kleinseite. (1878; dt. 1885)

    Goethe: „...wodurch wir uns abermals überzeugen, daß es eine allgemeine Weltpoesie gebe und sich nach Umständen hervortue; weder Gehalt noch Form braucht überliefert zu werden, überall, wo die Sonne hinscheint, ist ihre Entwicklung gewiß.“