1. Die Geschichten Jaakobs
2. Der junge Joseph
3. Joseph in Ägypten
4. Joseph der Ernährer
Joseph und seine Brüder
Kindlers neues Literaturlexikon
Vierteiliger Romanzyklus von Thomas Mann, entstanden in den Jahren 1926-1942, erschienen 1948 in einer dreibändigen Gesamtausgabe, der die Einzelbände Die Geschichten Jaakobs (1933), Der junge Joseph (1934), Joseph in Ägypten (1936) und Joseph, der Ernährer (1943) vorausgegangen waren. - Die lange Entstehungszeit des voluminösen Werks, das der Autor in einem späteren Vortrag (Joseph und seine Brüder; 17. 11. 1942) als »verschämte Menschheitsdichtung« bezeichnet hat, erklärt sich nicht allein aus den zeitraubenden Unterbrechungen, die sein Emigrantenschicksal - der größere Teil des dritten Bandes entstand 1933-1936 in der Schweiz, der vierte 1940-1942 in Amerika - ihm aufnötigte und die andere Arbeiten, wie etwa der zwischen den dritten und vierten Teil eingeschobene Goethe-Roman Lotte in Weimar (1939), noch vergrößerten, sondern auch aus der nach der Beendigung des Zauberbergs (1924) sich immer deutlicher herausbildenden umfassenden Intention, den Schritt vom »Bürgerlich-Individuellen zum Mythisch-Typischen« zu tun, jene »Brunnentiefe der Zeiten« auszuloten, »wo der Mythus zu Hause ist und die Urnormen, Urformen des Lebens gründet« (Freud und die Zukunft, 1936) - kurz, eine Psychologie des mythischen Bewußtseins zu liefern, in dem das principium individuationis noch durch kollektive, archaische Verhaltensmuster bestimmt und dirigiert wird. Dieser Absicht bot sich die biblische Josephslegende des ersten Buchs der Genesis (vor allem Kap. 27-50) nicht zuletzt deshalb an, weil der Autor eine von Goethe empfangene Anregung seit langem produktiv aufzugreifen gedachte: »Höchst liebenswürdig ist diese natürliche Geschichte i. e. die Josephslegende : nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich versucht, sie in allen Einzelheiten auszuführen« (Dichtung und Wahrheit). Thomas Manns Bemühungen um eine aktualisierende Vergegenwärtigung mythologischen Stoffs, nicht nur des biblisch-palästinensischen, sondern auch des ägyptischen, phönizischen, hellenischen und assyrisch-babylonischen Raums, stützten sich zunächst auf den reinen Bibeltext, bezogen aber im Fortgang des Werks zahllose weitere alttestamentliche Quellen wie das Buch der Jubiläen und ältere Midrasch- und Sagenliteratur ein. Die ersten beiden Bände beschreiben - nach einem essayartigen Einleitungskapitel (Höllenfahrt), das den »Brunnen der Vergangenheit« perspektivisch immer weiter vertieft, immer größere »Vergangenheitsstrecken« durchmißt bis zu jenem von gnostischen Schöpfungsmythen umwobenen »Paradies im Osten«, dem Garten Eden, demgegenüber Josephs Epoche bereits als Spätzeit erscheinen mußte - in einem großangelegten Rückgriff die Lebensgeschichte Jaakobs, seinen Segensbetrug an Esau, seine Flucht und Demütigung durch dessen Sohn Eliphas, seine »Haupterhebung« und die Zeit seiner Verbannung bei Laban im Land Aram Nahareim, dem er vierzehn Jahre um seine Tochter Rahel diente, die Brautvertauschung mit deren ungeliebter Schwester Lea, die ihm jedoch seinen Erstgeborenen - Ruben - schenkt, während Rahel lange unfruchtbar bleibt, bevor sie ihm Joseph, den »rechtmäßigen Sohn«, gebiert, seine Lösung aus den Diensten Labans, Rückkehr und Aussöhnung mit Esau, endlich die Jugend Josephs im Weidelager seines Vaters bei Hebron und seine Konflikte mit den älteren Brüdern, die ihn, aufgrund der ungerechtfertigten Bevorzugung durch den Vater, in einem Brunnenschacht aussetzen, aus dem ihn wandernde Ismaeliter befreien und nach Ägypten bringen. Die letzten beiden Bände stellen der patriarchalischen Hirtenwelt der »Erzväter« und ihrer »Gottessorge« und dem von Abraham »entdeckten« und »hervorgedachten« »Einen und Höchsten« das zivilisatorisch fortgeschrittene, kosmopolitisch-aufgeklärte Milieu des oberen Niltals mit seinem bunten Götterhimmel entgegen, wobei der Autor Josephs Auftreten in Ägypten - im Widerspruch zu einem Teil der Forschung, die einen früheren Zeitpunkt annimmt - auf das Ende der 18. Dynastie, in die Regentschaft Amenhoteps III. (1411-1375) und Amenhoteps IV. (1375-1352) verlegt und damit das »Irgendwann« und »Einst« der dem »Zeitenstrom« weitgehend entzogenen mittelmeerisch-semitischen Mythenwelt in klareren, historisch bereits umrißhaft greifbaren Bezügen aufhebt. Ihren - schematisch-verkürzten - Inhalt bilden zunächst Josephs Sklavendienst im Hause Peteprês (Potiphars), eines Groß-Eunuchen des Pharao, zu dessen Hausverwalter er aufsteigt, und seine Versuchung durch Peteprês Gattin Mut-em-enet - eine Episode, welcher der Autor den buhlerisch-bündigen Charakter des Genesis-Textes zwar nicht nimmt, die er aber in einer ungleich feinfühliger motivierten Dimension ansiedelt: Mut-em-enet, Vertreterin des ägyptischen Hochadels und jungfräuliche »Mondnonne« des Staatsgottes Amun-Rê, wird, in einer zeremoniell aufrechterhaltenen Ehe lebend, sich ihrer lange verdrängten Sexualität angesichts Josephs männlicher Schönheit schmerzhaft bewußt (Freuds Trieblehre, ebenso wie seine Theorie der Bewußtseinsschichtung in Das Ich und das Es (1923) und Totem und Tabu (1913), hat bedeutenden und nachhaltigen Einfluß gerade auf die Josephs-Tetralogie ausgeübt). Es folgen Josephs Bestrafung und erneute »Fahrt in die Grube« (d. h. das Inselgefängnis Zawi-Rê), seine Erhöhung zum Traumdeuter des Pharao, dessen Gunst er mit seiner Auslegung des Traums von den sieben festen und den sieben mageren Kühen als Zeiten des Überflusses und der Dürre in dem Maß gewinnt, daß ihm als »Wirtschaftsminister« die Getreideversorgung des gesamten Reichs übertragen wird und er den Beinamen des »Ernährers« erhält, schließlich die Wiederbegegnung mit seinen Brüdern und Jaakob, der Zug der gesamten Familie nach Ägypten und Jaakobs Tod. Dieses bekannte biblisch-legendäre Handlungsschema wird von Thomas Mann nicht nur im Sinn einer illusionistischen Fabulierlust romanhaft-fiktiv erweitert und aufgefüllt, sondern darüber hinaus mit textkritischen und essayistischen, religionshistorischen, mythenvergleichenden, soziologischen und kommentierend-analytischen Einschüben durchsetzt und verklammert, so daß die Geschichte »gleichsam Selbstbesinnung gewinnt und sich erinnert, wie es denn eigentlich im Genauen und Wirklichen mit ihr gewesen, also, daß sie zugleich quillt und sich erörtert«. Dabei bedingen gerade die versuchte Exaktheit und der wissenschaftlich-zünftige »Schein« die humoristisch-ironische Grundhaltung, »denn das Wissenschaftliche, angewandt auf das ganz Unwissenschaftliche und Märchenhafte, ist pure Ironie«. Die »Zusammenziehungen, Verwechselungen und Durchblickstäuschungen«, welche die Höllenfahrt des Einleitungskapitels als für das mythische Bewußtsein charakteristische Verhaltensweise angesichts eines »stilleren, stummeren, gleicheren Zeitgebreites« mit langsamerem Entwicklungsgefälle beschreibt - so hält Joseph in »träumerischer Ungenauigkeit« Abraham für seinen Urgroßvater, ohne zu bemerken, daß eine Zeitspanne von wenigstens zwanzig Generationen ihn von Abraham trennen muß -, lassen ein personales Bewußtsein sich entfalten, das gleichsam »nach hinten, ins Frühere« offensteht, weniger fest umrissen ist als das der »Individualität«, der »Persönlichkeit« späterer Jahrhunderte und unmerklich archaisch-urtümliche, vorgeprägte Handlungskonstellationen wiederaufnimmt und sich imitierend mit ihnen identifiziert. Die chronologische Zeit hebt sich auf »im Geheimnis der Vertauschung von Überlieferung und Prophezeiung, welche dem Worte ›Einst‹ seinen Doppelsinn von Vergangenheit und Zukunft und seine Ladung potentieller Gegenwart verleiht«. So waltet etwa in der Austeilung des Abrahamssegens ein mythischer Wiederholungszwang, der, bei zwei Brüdern oder Gruppen von Brüdern, den Segen immer auf die »Sanften und Klugen«, die Hirten (wie Isaak und Jaakob), im Gegensatz zu den Streifenden und Jägern (wie Esau) lenkte. Dieser Wiederholungszwang bildet eine »zeitlose und über-individuelle Zusammenfassung des Typus« heraus und war schon ebenso bei Kain und Abel wirksam, wie er auch Parallelen in ägyptischen und sumerisch-akkadischen Mythen (zu Seth und Osiris, vgl. Horus und Seth; zu Tammuz: Inannas (Istars) Gang zur Unterwelt) findet: Seth ermordet seinen Bruder und zerstückelt die Leiche des Osiris, der darauf König des Totenreichs wird; Tammuz wird - stellvertretend - von dem Eber Ninib zerrissen, stirbt und steigt als Bringer einer neuen Zeit und Religion aus der Erde empor (auch hier hat Thomas Mann die Überlieferung frei gestaltet). Den mythischen Konstellationen gesellt sich das Motiv des Kreislaufs, der Vertauschbarkeit »irdischer« und »himmlischer« Geschicke zu: »Die Sphäre rollt: das liegt in der Natur der Sphäre. Oben ist bald Unten und Unten Oben, wenn man bei solcher Sachlage von Unten und Oben überall sprechen mag. Nicht allein, daß Himmlisches und Irdisches sich ineinander wiedererkennen, sondern es wandelt sich auch, kraft der sphärischen Drehung, das Himmlische ins Irdische, das Irdische ins Himmlische, und daraus erhellt, daraus ergibt sich die Wahrheit, daß Götter Menschen, Menschen dagegen wieder Götter werden können.« - Josephs Geschichte scheint zunächst ebenso unter mythischen Wiederholungszwang zu stehen: Der schöne Knabe, um den bereits der Vater ein »Scheinen von Klarheit, Lieblichkeit, Ebenmaß, Sympathie und Gottesannehmlichkeit« zu bemerken glaubt, lenkt in narzißtischer Selbstverliebtheit den Zorn seiner Brüder auf sich, als er sich dem »Erwähltheitstypus« der Sanften und Klugen halb schauspielerisch-bewußt, halb instinktiv anähnelt: »Das ist aber der Vorteil der späten Tage, daß wir die Kreisläufe schon kennen, in denen die Welt abläuft, und die Geschichten, in denen sie sich zuträgt und die die Väter begründeten.« So empfindet er seinen Sturz in die Brunnengrube (das Unterweltsmotiv des zerrissenen und zerstückelten Gottes) als direkte Analogie zum osirischen Göttermythus, so bemüht er sich in Ägypten, seinem »Totenreich«, zunächst, der »erste der Unteren« zu werden, in der Hoffnung auf eine Auferstehungszukunft, die ihm erlaubt, seine versöhnte Familie nachkommen zu lassen. »Das zitathafte Leben, das Leben im Mythus, ist eine Art von Zelebration: insofern es Vergegenwärtigung ist, wird es zur feierlichen Handlung, zum Vollzuge eines Vorgeschriebenen durch einen Zelebranten, zum Begängnis, zum Feste« (Freud und die Zukunft, 1936). Indem sich jedoch Joseph seiner »zitierenden« Identifikationen bewußt wird und den Sinn seiner »Geschichte« erkennt und damit überschreitet, ereignet sich das, was Thomas Mann die »Geburt des Ich aus dem mythischen Kollektiv« nennt, die den langen Prozeß menschlicher »Selbstverständigung« und Emanzipation einleitet. Auf diesen Prozeß der Bewußtwerdung bezieht sich auch eine Formulierung des Autors in seinem über zwanzig Jahre sich erstreckenden Briefwechsel mit dem Altphilologen und Mythenforscher Karl Kerenyi, der - seit 1934 - mehr als die Häfte der Entstehungszeit der Josephstetralogie kritisch begleitet: »Man muß dem intellectuellen Fascismus den Mythos wegnehmen und ihn ins Humane umfunktionieren. Ich tue längst nichts anderes mehr« (14. 11. 1941). Josephs Bewußtwerdung, in deren Verlauf er sich von der mythischen Rollenidentifikation löst, setzt ein mit seinem zweiten »Fall«: Seine Geschichte »kommt auf die Erde«, wird konkrete Menschengeschichte, in der sich die Gegensätze von Oben und Unten so durchdringen, daß Joseph, der »Herr über Ägyptenland«, und sein vorausschauendes, quasi bürgerlich-rationalistisches Wirtschaftssystem der Vorratsanhäufung und der Landbesitzverteilung durchaus »als schelmisch und als Manifestation einer verschlagenen Mittlergottheit« empfunden wird. Sein Weg zur männlichen Reife entläßt ihn nicht als »Gotteshelden«, als »Boten geistlichen Heils«, sondern als »Volkswirt«, als Verfechter einer »einfachen, praktischen Sache« - symbolischer Ausdruck eines Menschentums, das den das Frühwerk Thomas Manns beherrschenden Antagonismus von Natur (Leben) und Geist - wie die Goethe-Gestalt des Autors in Lotte in Weimar - aufhebt und gesegnet ist mit »Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt«. Und mit Josephs Lösung aus der mythischen Imitatio, an der das virtuos geknüpfte Motivgeflecht des gesamten Werks mit seiner weitausgreifenden Einbeziehung alttestamentarisch-orientalischer Mythologie suggestiv mitwirkt, wird auch das Schema der Segensausteilung an die Sanften zugunsten des schweifenden »Edom«-Typus durchbrochen: Juda wird zum Segenserben erwählt und Joseph sogar gänzlich übergangen, weil er - Jaakobs später Einsicht entsprechend -, das eigenwillig sich absondernde »verpflanzte Reis« des Stammes Israel, den Gehorsam gegen Gott vergaß und wohl »weltlichen Segen«, nicht aber geistlichen sich erwarb. Hans-Horst Henschen