Nietzsche

  • Ich komme zu diesem Vergleich, da die Schrift an der Wand ein Todesurteil war, wie aus dem letzten Vers des Kapitels ersehen werden kann, welcher besagt, dass Belsazar den nächsten Tag nicht mehr erlebte. Gott straft nicht, hat noch niemals gestraft und wird auch niemals strafen. Die Bibelschreiber glaubten irrtümlicherweise, dass der Allerhöchste strafen würde, und allen Lesern, die das Geschriebene ernst nahmen, erging es nicht besser.


    Man darf den Bibelschreibern zugute halten, dass sie es nicht besser wussten. Der Engel, der die Menschen aus dem Garten Eden verjagt hatte, war ebenfalls der Widersacher Gottes. Gott verjagt nicht.


    Ernsthaft: Das solltest Du behandeln lassen. Das kann auf die Dauer böse enden!


    Es wurde im Eröffnungsposting des hiesigen Themas von Rezk die Frage gestellt:




    Ich bin dieser freundlichen Aufforderung gefolgt, und habe meine Meinung bekundet. Ferner wurde die Frage gestellt:


    [quote author=Kant]


    Es ist schon ein großer und nötiger Beweis der Klugheit oder Einsicht, zu wissen, was man vernünftiger Weise fragen solle. Denn, wenn die Frage an sich ungereimt ist, und unnötige Antworten verlangt, so hat sie, außer der Beschämung dessen, der sie aufwirft, bisweilen noch den Nachteil, den unbehutsamen Anhörer derselben zu ungereimten Antworten zu verleiten, und den belachenswerten Anblick zu geben, daß einer (wie die Alten sagten) den Bock melkt, der andre ein Sieb unterhält.


    [/quote]

  • Eine Kritik ist nur dann eine, wenn sie eine Form und einen Gehalt hat. Kritik strebt allein nach der Wahrheit.
    .......


    Es ist mir grundsätzlich recht, in Diskussionen hart angefasst zu werden. Ob es dabei sachlich zugeht oder nicht, spielt für mich keine Rolle,


    Ist da nicht irgendwo ein Widerspruch drin?


    Zu Nietzsche:


    Ich denke, es kann nur über Nietzsche diskutiert werden, wenn man seine Texte kennt, bzw. anhand eines Textes eine Diskussion führt. Über Nietzsche ist allgemein schon so viel Unsinn geschrieben worden, dass mich auch deine Äußerungen, lieber Suminoto, teilweise verwirren, weil ich nicht beurteilen kann, wieviel davon Hand und Fuß hat, und wieviel nicht. Nietzsche scheint auf viele Menschen eine große Fazination auszuüben, ja, ja, lese man ihn in der kritischen Studienausgabe von Giogio Colli und Mazzino Montinari, wie schon einer meiner Vorgänger darauf verwiesen hat. Ich bin danach bestrebt, dieses Jahr "Also, sprach Zarathustra" zu lesen. Ich bin gespannt, ob ich diesen Text bewältigen kann, bzw. wie er auf mich wirkt.


    Euch allen ein frohes neues Jahr (mit oder ohne Nietzsche :breitgrins: )


    Liebe Grüße
    mombour

  • Ich bin danach bestrebt, dieses Jahr "Also, sprach Zarathustra" zu lesen. Ich bin gespannt, ob ich diesen Text bewältigen kann, bzw. wie er auf mich wirkt.


    Soweit ich Dich in der Zwischenzeit einschätzen kann - wir kennen uns virtuell ja nun auch schon ein paar Wochen oder so - wirst Du diesen Text sicher bewältigen. Und auf der andern Seite wird der Text aber nicht Dich überwältigen. Das ist die Crux mit Nietzsche: Der Shooting Star der Altphilologie, der sich von dieser abgewendet und der - sagen wir mal - Kulturphilosophie zugewendet hat (seine Unterscheidung von apollinischer und dionysischer Kunst halte ich noch heute für interessant und wichtig), auch die Kulturphilosophie verlassen hat, um sich als Prophet einer schwer zu identifizierenden Idee zu profilieren, kann einen unkritischen Geist mit seinem faszinierenden Stil, seinen wuchtigen Sätzen und gerade der Verschwommenheit seiner Gedanken vereinnahmen. Anders ausgedrückt: Wer nicht aufpasst, wird vom Sattelschlepper Nietzsche schlicht geistig übern Haufen gefahren.


    Um es mit Lichtenberg zu sagen: Eine seltsamere Ware als Bücher gibt es wohl schwerlich in der Welt. Von Leuten gedruckt, die sie nicht verstehen; von Leuten verkauft, die sie nicht verstehen; gebunden, rezensiert und gelesen von Leuten, die sie nicht verstehen; und nun gar geschrieben von Leuten, die sie nicht verstehen.

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • So - ich habe mal abgetrennt, was nicht Nietzsche sondern bestenfalls Metaphysik ausgehend von Nietzsche war, und in den Marktplatz verschoben. Da waren unter den letzten Beiträgen so einige, die mit Nietzsche nur noch am Rande zu tun hatten. :winken:

    Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? - Karl Kraus

  • Hallo Sandhofer,



    diese Zeile brauchst Du sicher nicht, aber ich möchte schreiben, dass Du sehr gut durch diese Trennung gemacht hast! Danke.


    Liebe Grüße und alles Gute im neuen Jahr!
    wanderer

  • Kann man über Nietzsche etwas schreiben, ohne den thread in Brand zu setzen? Ich wage es mal, nach absolviertem Walkürenritt durch die "Geburt der Tragödie". Eigentlich hätte ich wissen müssen, worauf ich mich da einlasse, schließlich hatte uns das ein Oberstudienrat damals, vor fast 40 Jahren, als Oberstufenlektüre vorgelegt. Aus dieser Distanz nochmals gelesen bin ich mir aber ziemlich sicher: keiner von uns hatte auch nur annähernd überblickt, was er damals las.


    Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (GT) war die erste größere Arbeit, die Friedrich Nietzsche als Professor der Altphilologie vorlegte – und die letzte. Verständlich, denn das, was darin konstruiert wird, war, soweit es annehmbar ist, nicht neu; und soweit es neu war, ist es nicht annehmbar. Keineswegs neu, entgegen landläufiger Ansicht, war die Unterscheidung dionysischer (amorph-vitaler) und apollinischer (formgebender) Elemente in der Betrachtung der Kunst der Epochen. Interessant wirken auch – da will ich gelernten Altphilologen nicht in Handwerk pfuschen – auch die Betrachtungen zur Entstehung des Chors, zu dessen mythischem Hintergrund und zu dessen Bedeutung für die klassische Tragödienform. Aber – und damit kommen wir zu den Neuigkeiten.


    Abseits von dem durch den Titel vorgegebenen Thema hat Friedrich Nietzsche hier ein flammendes Manifest der deutschen Romantik vorgelegt, wenn auch gut 70 Jahre verspätet. Die ins unglaubhafte gesteigerte, ja übersteigerte Subjektivität, die Neigung zur Idealisierung und Mythos, der Kult des personifizierten Genius und des Künstlers als dessen Sprachrohr, die mutwillige Schöpfung einer "Wahrheit" jenseits von Realität und Empirie, die Flamboyanz der Sprache mit ihren grundsätzlich in die Superlative wuchernden Wortschöpfungen - die Romantiker hatten es genau so vorgemacht. Das in der vorangestellten, historisch aber erst erheblich später erstellten Vorrede enthaltene Dementi Nietzsches, die Romantik habe sich schließlich nicht auf antike, sondern auf christliche Kultustraditionen bezogen, überzeugt dann auch nicht so recht; sie belegt allenfalls etwas ganz anderes, nämlich die durchaus vor- und unchristlichen Bestandteile der christlichen Kultustradition und der auf sie zurückblickenden Romantik.


    Wer sich auf dieses Buch einlässt, muss sich darüber klar sein, dass es Kunst nicht nur zum Thema hat, sondern selbst als eine Art orchestrales Kunstwerk verstanden werden sollte. Hier wird nicht raisoniert, hier wird zu beträchtlichen Teilen phantasiert, und zwar in geradezu trotziger Ablehnung vernunftorientierten Argumentierens. Für die Altertumswissenschaft war die GT ohnehin wertlos, weil sie deren Erkenntnisweg auf den Kopf stellt. In der Altphilologie ist der Mythos Gegenstand der Forschung – in der GT wird der naturgegebene Mythos vorausgesetzt und als Grundlage einer überschäumenden Kulturbetrachtung herangezogen. Für den jungen Professor Nietzsche führte die GT damit folgerichtig geradewegs in die fachliche Disqualifikation.


    Über vielen durchaus interessanten Gedanken schlagen immer wieder die Wogen des Überschwangs, der Übertreibung, des Mutwillens zusammen. Der Gedanke, ausgerechnet das Deutschtum sei der auserwählte Stamm, die große tragisch-mystische Epoche neu erstehen zu lassen – und da auch nur genau die vorsokratische Phase des 5. vorchristlichen Jahrhunderts – und den alten Griechen damit nebenbei eine Lektion in wahrem Hellenentum zu verpassen, darf den Leser mit Recht staunen machen. Die conclusio schließlich, es sei möglich, mittels der Musik von Richard Wagner den Geist der großen griechischen Tragödie - und dazu gerade in der Ausprägung bei Sophokles und Aischylos - neu erstehen zu lassen und mit ihr den großen, als pessimistisch gedachten Mythos dieser Epoche, ist eine kuriose, bis in die Antike verlängerte Form reiner Romantik, die in souveräner Manier einige - nebensächliche - Fragen offenlässt: geht das nach über 2500 Jahren Kulturgeschichte überhaupt noch? Kann das eine bestimmte Musik eines bestimmten Komponisten aus einer bestimmten deutschen Provinz? Und wenn beides ja: kann man das ernsthaft wollen?


    Alldem entspricht auch die sprachliche Darstellung. Der kluge Mark Twain sagte einmal als "Anmerkung zu den Adjektiven": Wenn Du Dir nicht sicher bist, lasse sie weg. In diesem Sinne muss sich Nietzsche seiner Sache schon sehr sicher gewesen sein. An phantastischen Adjektiven und Adverbien mangelt es jedenfalls nicht; meist haben sie das Streben nach dem Superlativ gemeinsam, und wo der nicht reicht, sind Präfixe wie "Ur" und "Welt" stets wohlfeil. Gegensätze sind niemals nur Gegensätze, sondern größtmögliche, der Kern der Sache ist stets der innerste, Abgründe sind erschreckende, wenigstens aber tiefste. Hinzu kommen viele ungebärdige Wortneuschöpfungen, deren gemeinsame Eigenschaft ebenfalls wahlweise in Himmelsstreben oder Höllenfahrt besteht. Von Lesevergnügen kann da in der Tat nur wenig die Rede sein, der hochfahrende Tonfall dröhnt und poltert über die Seiten. In einigen Augenblicken des Erschreckens habe ich mich gefragt, wie es wohl klingen muss, wenn so ein Text in adäquater Manier vorgelesen wird.


    Wenn man das Buch dann nach 150 Seiten aus der Hand legt und sich denkt: beim Himmel, was für ein Haufen Unsinn! – dann ist das ein legitimes Urteil.


  • Kann man über Nietzsche etwas schreiben, ohne den thread in Brand zu setzen? Ich wage es mal, nach absolviertem Walkürenritt durch die "Geburt der Tragödie". [...] Wenn man das Buch dann nach 150 Seiten aus der Hand legt und sich denkt: beim Himmel, was für ein Haufen Unsinn! – dann ist das ein legitimes Urteil.


    Interessant, was Du aus diesem schmalen Band so alles ziehst. Ich habe von der "Geburt der Tragödie" etwa dies behalten: In der griechischen Antike, so Nietzsche, entdeckt der Mensch das Mittel, nicht nur Kunst zu produzieren, sondern selbst ein Kunstwerk zu sein und sein Leben als Kunstwerk zu gestalten. Kunst ist seitdem die einzige wahre metaphysische Tätigkeit des Menschen.


    Insofern ist die "Geburt ..." nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein "Manifest" des l'art pour l'art.


    Das ist ebenfalls ein legitimes Urteil. :zwinker:

  • Zitat

    Insofern ist die "Geburt ..." nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein "Manifest" des l'art pour l'art.


    Nicht ganz einverstanden. Die Kunst soll bei F.N. nicht nur der Kunst dienen, sondern universale Umwälzungen bewirken. Die Kunst um der Kunst gehört genau zu dem, was er ein Buch später, in den "Unzeitgemäßen Betrachtungen", als lebensfeindliche Bildungshuberei niedermacht. Noch ein paar Tage, dann mehr dazu.

  • Nicht ganz einverstanden. Die Kunst soll bei F.N. nicht nur der Kunst dienen, sondern universale Umwälzungen bewirken. Die Kunst um der Kunst gehört genau zu dem, was er ein Buch später, in den "Unzeitgemäßen Betrachtungen", als lebensfeindliche Bildungshuberei niedermacht. Noch ein paar Tage, dann mehr dazu.


    Ich bin gespannt!


    LG


    Tom

  • Unzeitgemäße Betrachtungen


    Die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ umfassen vier selbständige Abhandlungen, von denen zwei, nämlich die „ungeraden“ in einigen Werksammlungen mangels Relevanz gar nicht mehr auftauchen; in der „Insel“-TB-Edition sind sie allerdings drin.


    Die erste Abhandlung enthält eine Auseinandersetzung mit einem gewissen David Strauß, einem „Linkshegelianer“, den heute kaum noch jemand kennt. Hegelianer aller Couleur waren wegen ihrer Debatten(un)kultur stets als Nervensägen bekannt, aber das war nicht der Anlass für diesen Teil der UB. Strauß hatte nämlich unter anderem auch in einem Frühwerk die Evangelien als eine Art unbewusste Mythenbildung gedeutet und damit die Abkehr des jungen Nietzsche vom christlichen Glauben maßgeblich beeinflusst. Dummerweise nahm Strauß in einer altersmilden Überarbeitung wesentliche Teile davon zurück, was Nietzsche zu dem ersten Teil der UB provozierte – eine wütende Abrechnung mit dem „Philisterhäuptling“ Strauß, die Züge persönlichen Beleidigtseins trägt.


    Der zweite – interessanteste - Teil, wendet sich gegen eine bestimmte Form bürgerlicher Bildung, insbesondere soweit sie auf wissenschaftlich betriebener Historik beruht. In größtmöglicher Verkürzung ausgedrückt geht es um die These, dass eine Anhäufung historischen Wissens die vitalen Instinkte eines Volkes – und zwar besonders des deutschen Volkes – verkümmern lasse. Nietzsche formuliert die berühmten drei Arten der Historie (monumentalische, antiquarische und kritische Historie), deren fünffache Wirkungsweise (man wartet gespannt auf die nächste Steigerung, wie auf Buddhas edlen achtfachen Pfad zur Erleuchtung), führt das ganze dann auf den eigentlichen Kulminationspunkt dieser Abhandlung, nämlich auf einen Antagonismus von Wissen und Leben, und schließlich landet er bei dem hoffnungsfrohen Ausblick auf die vitalen Kräfte der Jugend, die es vermöchte, „unhistorisch“ und „überhistorisch“ zu leben – gleichbedeutend mit einem Leben, das sich einerseits von dem erlernbaren, aber lähmenden Ballast historischer Wissenschaft abschotten und andererseits mit einem sinnstiftenden gemeinsamen Lebensmythos zu neuer kraftvoller Existenz hocharbeiten könne. Der Gedanke reicht allerdings weit über die Geschichtswissenschaft hinaus, sie umfasst erkennbar alle Bereiche des Geisteslebens, einschließlich der Kunst.


    Das Getöse aus der GT hat sich hier etwas gelegt, einen ruhigen Satz wir man trotzdem vergeblich suchen. Wiederum finden sich viele bedenkenswerte Ideen, die Nietzsche aber sogleich mit vollen Segeln im rhetorischen Sturmwind davonschießen lässt. Lässt man sich von dieser Gischt nicht überrollen, schaut nur zu oft eine Art Reziprokitätsregel heraus: je kühner die These, desto mutwilliger und windiger die Belege - Gleichnisse, Bilder und Analogieschlüsse. Die Kernthese, Wissen schade am Ende dem Leben, müsse also zu Gunsten eines so amorphen wie beängstigenden Vitalitätsgedankens überwunden werden, um damit das zu erzeugen, was Nietzsche „wahre Kultur“ nennt, die mag man teilen oder nicht – mich widert sie an.


    Teil 3 heißt „Schopenhauer als Erzieher“. Es ist der inhaltlich und formal ruhigste Teil der UB, und meinem Eindruck nach der am wenigsten interessante. Nietzsche zählte noch in der GT zu den Bewunderern Schopenhauers, hatte sich zur Zeit der UB aber bereits von dessen Philosophie entfernt. Immerhin - immerhin! – litt darunter die Anerkennung der Person Schopenhauer nicht. Die Betrachtung erfolgt mit Respekt, ohne den etwa im „Fall Wagner“ später zu bestaunenden jähzornigen Umschwung. Trotzdem kann er es auch hier nicht lassen: in der persönlichen Würdigung Schopenhauers schwingt die Grundtendenz der UB, der Lobgesang auf eine bindungslose, geistig autarke geniale Schöpferexistenz stets mit: „freie Männlichkeit des Charakters, frühzeitige Menschenkenntnis, keine gelehrte Erziehung, keine patriotische Einklemmung, kein Zwang zum Brot-Erwerben, keine Beziehung zum Staate – kurz, Freiheit und immer wieder Freiheit: dasselbe wunderbare und gefährliche Element, in welchem die griechischen Philosophen aufwachsen durften.“ Ob Jutta Ditfurth („Lebe wild und gefährlich“) da an diesen unangenehmen Nachbarn dachte?


    Teil 4, „Wagner in Bayreuth“ hat eine sichtbar gebrochene Geschichte. Dieser Teil besteht aus insgesamt elf Kapiteln, von denen die ersten acht um 1870, die letzten drei erst sechs Jahre später verfasst wurden , dazwischen lag die Errichtung des Festspielhauses auf dem Grünen Hügel. Die ersten acht Kapitel enthalten eine in die Peinlichkeit hineinreichende Eloge auf Richard Wagner, vorgestellt in einem idealisierten Lebenslauf als prophetische bis messianische Gestalt des neuen Lebensmythos, der aus der GT bereits in wesentlichen Zügen bekannt ist. Wagner, seiner Musik und der Musik überhaupt wird hier eine übermenschliche Aufgabenlast aufgebürdet, die natürlich keiner der drei jemals hätte einlösen können. Man muss es gelesen haben, wie in der Verachtung der zeitgenössischen Kultur und Kunst und in der Vorhersage einer umfassenden Umwälzung mittels der wahren – wagnerianischen –Musik nochmals eine Steigerung des Tonfalls der GT möglich ist – es geht tatsächlich, auch wenn darunter die Sprache ächzt. Eine Kostprobe?


    „…wo nur immer der moderne Geist Gefahren in sich birgt, da spürt er mit dem Auge des spähendsten Mißtrauens auch die Gefahr der Kunst“


    "Das Auge des spähendsten Mißtrauens"! Bei alledem stellt sich vermehrt die Frage, ob hier der Furor der Gedanken die Sprache vor sich her treibt, oder umgekehrt. Selten sonst hatte ich so sehr den Eindruck, dass sich ein Autor an seinen eigenen Ausführungen berauscht. Ganz am Ende der drei abschließenden Kapitel, die nach aufkommenden Irritationen im Verhältnis Nietzsche/Wagner entstanden, zeigen sich erste vorsichtige Absetzbewegungen von dem verblassenden Idol. Bis zur patzigen Konfrontation im „Fall Wagner“ ist es aber noch ein weiter Weg.

    Einmal editiert, zuletzt von Gronauer ()


  • Unzeitgemäße Betrachtungen


    Der zweite – interessanteste - Teil, wendet sich gegen eine bestimmte Form bürgerlicher Bildung, insbesondere soweit sie auf wissenschaftlich betriebener Historik beruht.


    Hallo Gronauer,


    ich habe aufgrund Deines Postings den zweiten Teil der "Unzeitgemäßen ..." (Vom Nutzen und Nachteil der Historie ...) noch einmal überflogen. N. plädiert dafür - und das ist für mich der interessanteste Aspekt dieser Schrift -, die Vergangenheit als interpretier- und wandelbar zu betrachten und sie sich zu Nutze zu machen für das tägliche Leben (was immer das auch konkret bedeuten mag). Die Interpretation der Vergangenheit ist für ihn eine Unterabteilung der Kunst - womit sich der Bogen zurückspannen lässt zu der vorherigen Schrift "Die Geburt der Tragödie ...", in der "die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers, die Kunst aber unter der des Lebens" gesehen wird (das Zitat stammt aus dem später von N. vorangestellten "Versuch einer Selbstkritik", Abschnitt 2).



    So weit scheinen unsere Positionen nicht auseinander zu liegen. "Lebensfeindliche Bildungshuberei" lehnt N. ab - und setzt an deren Stelle die kräftigen Wahnbilder eines heroischen Lebens. Was ist das aber anderes als l'art pour l'art?


    LG


    Tom

  • Hello Sir,


    deshalb sagte ich ja auch: nicht ganz einverstanden :zwinker:


    Es ist tatsächlich nur ein kleiner Schritt, und der geht so: Nietzsche interessiert in den UB (und schon vorher in der GT) das Verhältnis zwischen Wissen und Leben. Daher rührt in der GT auch die erregte Abwehrhaltung gegenüber der sokratischen, analytischen Wahrheitssuche: es geht in dieser "romantischen" Phase zentral um einen mythischen Vitalitätsgedanken. Das Verhältnis von Kunst und Leben oder gar eine Theorie der Kunst an sich stellen m.E. nur die Bühne hierfür auf.


  • Hello Sir,


    deshalb sagte ich ja auch: nicht ganz einverstanden :zwinker:


    Es ist tatsächlich nur ein kleiner Schritt, und der geht so: Nietzsche interessiert in den UB (und schon vorher in der GT) das Verhältnis zwischen Wissen und Leben. Daher rührt in der GT auch die erregte Abwehrhaltung gegenüber der sokratischen, analytischen Wahrheitssuche: es geht in dieser "romantischen" Phase zentral um einen mythischen Vitalitätsgedanken. Das Verhältnis von Kunst und Leben oder gar eine Theorie der Kunst an sich stellen m.E. nur die Bühne hierfür auf.


    Du hast es geschafft, dass ich nach dem zweiten Buch der "Unzeitgemäßen ..." auch "Die Geburt der Tragödie" entstaubt und zu lesen begonnen habe. Weit fortgeschritten bin ich noch nicht, aber dies habe ich mit Freude wieder gelesen: "Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein der Welt gerechtfertigt." (5. Abschnitt der einleitenden Selbstkritik, die N. der zweiten Auflage 1886 voranstellte).


    Auch wenn Nietzsche wenige Jahre später - im "Fall Wagner" [1888] und in der "Götzendämmerung" [1889] - die Kunst als Phänomen der Dekadenz kritisierte, ist und bleibt er selbst einer der widersprüchlichsten Repräsentanten des l'art pour l'art.

  • So, ich habe die "Geburt ..." nach langer Zeit mal wieder gelesen. Das Ergebnis ist zwiespältig.



    Keineswegs neu, entgegen landläufiger Ansicht, war die Unterscheidung dionysischer (amorph-vitaler) und apollinischer (formgebender) Elemente in der Betrachtung der Kunst der Epochen.


    Wer hat sich denn vorher darüber verbreitet? Mir ist nichts dergleichen bekannt.


    Diesen Teil der Nietzsche-Abhandlung finde ich nach wie vor interessant, ebenso die Analyse des sokratisch-theoretischen Menschenbilds.



    Die conclusio schließlich, es sei möglich, mittels der Musik von Richard Wagner den Geist der großen griechischen Tragödie ... neu erstehen zu lassen ..., ist eine kuriose, bis in die Antike verlängerte Form reiner Romantik ...


    Diesen zweiten Teil hatte ich verdrängt ... Zurecht, denn diesen Ansatz kann man nicht für voll nehmen.


    Zur Abrundung des Ganzen werde ich noch einmal "Wagner in Bayreuth" aus dem Jahr 1876 lesen. Den "Fall Wagner" und die von Nietzsche zurückgezogene Schrift "Nietzsche contra Wagner" schenke ich mir allerdings.


    LG


    Tom


    Nachtrag: Insbesondere Nietzsches Theorie und Kritik der Barockoper ("Kunstform zur Befriedigung eines gänzlich unästhetischen Bedürfnisses") trifft in keinster Weise den Kern dessen, was die Komponisten des 17. Jahrhunderts beabsichtigten: eine Renovierung der strengen Polyphonie, eine Neuordnung der Stimmführung. Ohne diese Tat wären Mozart, Beethoven und Co. nicht möglich gewesen.

  • Zitat

    Wer hat sich denn vorher darüber verbreitet? Mir ist nichts dergleichen bekannt.


    In der Naturphilosophie von Friedrich Wilhelm Joseph Ritter von Schelling gibt es ein ähnliches Konzept. Ich meine mich trübe zu erinnern, dass dort auch schon einmal ausdrücklich von "apollinisch" und "dionysisch" die Rede war, bekomme das aber nicht mehr auf die Schnelle zusammen. Ob Nietzsche da Anleihen machte, kann ich nicht sagen.

  • Lange Funkstille hier; inzwischen bin ich bei der Genealogie der Moral angelangt, und da haben wir ihn endlich, den Auftritt der „blonden Bestie“. Nein, von einem Nietzsche-Bashing mit wohlfeiler Entrüstung sehe ich mal ab. Nur ein Hinweis auf eine seltsame Brüderschaft im Geiste:


    In Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ war mir ein Kapitel unangenehm aufgestoßen, in dem Pessoa darlegt, weshalb Güte und Mildtätigkeit prinzipiell abzulehnen seien, nämlich aus ästhetischen Gründen des Zartgefühls. Nietzsche hat spätestens seit dem Zarathustra, in Ansätzen sogar schon in der Fröhlichen Wissenschaft, diese Dinge ebenfalls schroff verworfen, zu Gunsten seines Konzepts des macht- und selbstsüchtigen Übermenschen. Wie seltsam mutet dieser Konsens zwischen dem eingezogenen Melancholiker und dem Propheten der Tyrannis des abgehobenen Übermenschen an. Oder, ins bedeutend allgemeine: könnte es wohl sein, dass die zartesten und die gewalttätigsten Gemüter sich in der Indolenz ihres Autismus die Hand reichen?

  • Zitat von Gronauer« am: Heute um 09:14 »

    Wie seltsam mutet dieser Konsens zwischen dem eingezogenen Melancholiker und dem Propheten der Tyrannis des abgehobenen Übermenschen an. Oder, ins bedeutend allgemeine: könnte es wohl sein, dass die zartesten und die gewalttätigsten Gemüter sich in der Indolenz ihres Autismus die Hand reichen?


    Interessanter Gedanke! Nur dass Nietzsche eben auch zart und verletzlich sein kann (seine Kraftmeierei ist eigentlich nur Kompensierung seiner Verletzlichkeit) und der eingezogene Melancholiker Pessoa im Buch der Unruhe eben auch rassistische, gewalttätige Töne anschlägt …


  • Nur ein Hinweis auf eine seltsame Brüderschaft im Geiste:


    In Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ war mir ein Kapitel unangenehm aufgestoßen, in dem Pessoa darlegt, weshalb Güte und Mildtätigkeit prinzipiell abzulehnen seien, nämlich aus ästhetischen Gründen des Zartgefühls.


    Bei Pessoa kann man fundierte Nietzsche-Kenntnisse voraussetzen, wenn ich mich recht entsinne.



    ... könnte es wohl sein, dass die zartesten und die gewalttätigsten Gemüter sich in der Indolenz ihres Autismus die Hand reichen?


    Das ist ein feiner Gedanke! Literatur als elitäres Geistergespräch jenseits von Zeit und Raum - das habe ich schon einmal irgendwo gelesen ...



    Lange Funkstille hier; inzwischen bin ich bei der Genealogie der Moral angelangt, und da haben wir ihn endlich, den Auftritt der „blonden Bestie“


    Kannst Du die Stelle dieses "Auftritts" nennen?


    Schöne Pfingsten!


  • Ja, lass mich eine Weile suchen, es war irgendwo im ersten Teil.

  • Da ist es: Teil 1, Nr. 11:


    Zitat

    Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen...


    Um N. Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: man sollte das nicht mit einem Vorverständnis ex post nach Erfahrungen aus tausendjährigen Zeiten lesen, sondern ex ante nach der Konstruktion des "Übermenschen" im Zarathustra, so wackelig sie auch ist.