Beiträge von Zefira

    Es geht noch einmal länger ums Essen, ich glaube im neunten Kapitel. Da schlägt Sancho vor, für den Ritter ein paar Trockenpflaumen in seinen Sack zu tun, da sich ein Ritter ja von solchen Sachen nähre, und für sich selbst ordentlich Essen: Brot und Hähnchen.

    Aber Don Quijote stellt gleich richtig, dass für den Ritter kein Zwang bestehe, nichts anderes zu essen als Trockenobst und Kräuter. Er darf also auch ordentlich essen. :)

    Meines wiegt 880 Gramm. Aber da es klein im Format ist, macht mir das nichts aus, ich stütze es mit beiden Händen hoch. Schwere Bücher nerven mich nur, wenn sie auch noch großformatig sind, so dass das Halten die Handmuskulatur anstrengt. Was ich als etwas mühsam empfinde, ist das ständige Blättern nach hinten zu den erklärenden Anmerkungen. Aber schenken will ich es mir auch nicht, weil ich fürchte, dass mir ein wichtiger Witz entgeht.

    Ich stecke im 9. Kapitel und habe mich zwischendurch gefragt, ob Don Q. eigentlich überhaupt nie isst oder trinkt. Sein Knappe hat ja die Verpflegung in seinem "Zwerchsack", aber unser Ritter selbst braucht angeblich nie was, sondern lebt von der Liebe und seinem ritterlichen Ruhm.

    Der "erzähltechnisch interessante Cliffhanger" hat mich schallend auflachen lassen.

    Ich erinnere mich dunkel daran, dass ich als Schülerin mal in einem englischsprachigen Theaterstück war. Auf dem absoluten Höhepunkt, wo Leben und Tod auf Spitz und Knopf stand, erstarrten alle Mimen auf einen Schlag, ein Sprecher kam herein und kündigte an: "Before we go on, let's look to the problem."

    :D:D

    Mein Buch ist übrigens genauso schwer, aber ich lege es mir auf die Knie.

    Also ich warne schon mal vor, dass ich mit dem ersten anfange.

    Habe heute abend schon ein wenig hineingespitzt und mich sehr amüsiert. Es ist nämlich so, dass ich oft in Spanien bin, leider gar kein Spanisch verstehe (ich kann Geschriebenes so halbwegs entziffern von meiner Kenntnis anderer romanischer Sprachen her, aber nix Gesprochenes verstehen): aber an Stränden, in Restaurants etc. freue ich mich jedes Mal als Mithörende über die Lust der Spanier am Monolog. Es ist erstaunlich, wie lange und trocken so ein Spanier daherreden kann und die anderen brav zuhören. In Deutschland hört man das weit seltener in dieser Form, da rufen immer alle: "Komm endlich zum Punkt!" Das Verrückte ist, dass mir meine Tochter (die Spanisch kann und Spanisch auf Lehramt studiert hat, sich also auch in der Literatur etwas auskennt) unlängst erklärte, diese ausufernde Art des Redens sei in Spanien üblich und entspringe aus der Erzähltradition; es gäbe also auch eine Entsprechung in der Literatur.

    Das liebe ich auch! Sehr sogar!


    Und, vo Safranski habe ich noch nie was gelesen. Wollte halt nur wissen, ob es sich lohnt und wenn ja, warum nicht :/

    Vielleicht leihe ich das Buch erstmal vom Nachbarn, ehe ich dafür Geld und Regalplatz opfere. Danke für die Antwort!

    @ Vult: Was gerade an Safranski so problematisch ist, wüsste ich gern ... mein Nachbar hat mir nämlich von Safranskis Goethe-Biographie vorgeschwärmt, wie toll er die fände. Ich hatte seitdem immer im Hinterkopf, mir das Buch mal zu besorgen, wenn ich dazu komme ...


    Was stimmt mit der Schiller-Biographie nicht?

    Ich habe eine Frage zu den "Konversationen". Ich nehme an, es handelt sich dabei um die früheren Privatnachrichten.

    Wenn ich die Seite "Konversation starten" aufrufe und meine Nachricht absetzen möchte, kommt die Rückmeldung, ich solle das Feld für "Teilnehmer" ausfüllen. Ich habe in dieses Feld den Namen des Empfängers der Nachricht geschrieben; bin auch sicher, dass ich mich nicht vertippt habe (es war Volker). Warum geht die Nachricht nicht raus?

    Ich habe auf einem Bücherflohmarkt in Frankfurt zugeschlagen. Jedes Buch 1 Euro, der Stapel reichte mir schon bis unters Kinn, mit 13 Büchern bin ich rausgegangen.
    Besonders gefreut hat mich der Erwerb des Krimis "Was am See geschah" von Martha Grimes. Ich habe dieses Buch vor ungefähr dreißig Jahren mal von einer Freundin geliehen gehabt und alles, was darin vorkam, vergessen; in Erinnerung war mir nur geblieben, dass die Heldin sich unausgesetzt mit einem Gedicht von Wallace Stevens beschäftigt. Die beiden letzten Strophen des Gedichts sind dem Roman vorangestellt. Wie gesagt hatte ich den Roman vergessen, aber die Zeile "Ramon Fernandez, sag, wenn du es weißt" hing mir noch in den Ganglien fest ...
    Das Buch selbst erwies sich nun als nicht so besonders bemerkenswert, aber über das Wiedersehen mit dem Gedicht habe ich mich sehr gefreut. Es ist in vollständiger Fassung auch online zu finden: Key West. Als ich das Buch vor dreißig Jahren vor hatte, verstand ich diese beiden letzten Strophen nicht, aber irgendwas müssen sie in mir ausgelöst haben, da ich mich so deutlich daran erinnerte. Jetzt kann ich für mich zumindest in diesen Zeilen den Grund ausmachen, warum Dichter überhaupt dichten und die Dinge nicht einfach nur so betrachten, wie sie sind, ohne darüber schreiben zu müssen.
    Wie gesagt, das Buch ist nicht so dolle, aber ich habe mir einen Gedichtband von Wallace Stevens bestellt und freue mich sehr darauf.

    Habe grade nochmal einen Blick ins Buch geworfen: Voß heißt mit Vornamen Amadeus, nicht Anselm.
    Warum dieser Name? Eine weniger liebenswerte Gestalt kann man in dem Buch suchen gehen ... abgesehen von einigen Mitgliedern der Familie Engelschall (auch so ein Name) ...
    Hm.
    Später mehr, das Wetter ist zu schön zum Lesen.

    :klatschen:


    Ich habe eine Ausgabe von Artemis & Winkler von 1993 (Erstauflage 1956), Übersetzung von Ludwig Braunfels, mit Illustrationen, Anmerkungen und einem Nachwort von Fritz Martini.
    Wahrscheinlich werde ich im Lauf des Wochenendes schon ein, zwei Kapitel lesen, da ich meine derzeitige Lektüre wohl heute abschließen kann und nichts mehr dazwischenschieben möchte.

    Noch einmal zu meiner oben genannten Meinung, dass Wasseermanns Frauengestalten oft keine eigenständige Rolle haben.
    Ich meinte das nicht in dem Sinne, dass sie mir zu wenig emanzipiert seien oder etwas in der Art, sondern ausschließlich im Sinne ihrer Funktion innerhalb der Erzählung. Der Wahnschaffe ist dafür kein gutes Beispiel, da die Frauengestalten, allen voran Ruth, Eva, auch Evas "Impresario" Susanne Rappard und Anselm Voß' Freundin Johanna Schöntag, ein berichtenswertes Eigenleben haben. Es gibt ganze Kapitel, die nur von ihnen, ihren Gefühlen und ihrem Erleben handeln. Andere Frauengestalten Wassermanns, vor allem die im "Gänsemännchen", existieren nur in ihrer Beziehung zur mänlichen Hauptperson. Das meine ich nicht wegen der Dinge, die sie tun oder nicht tun, sondern wegen der Art und Weise, wie über sie erzählt wird.
    Natürlich ist Daniel Nothafft, der Protagonist im Gänsemännchen, ein klassisches Beispiel für diese Art des Erzählens; vielleicht ist das überhaupt eher ein Problem des "Künstlerromans" als ein Wassermannsches Problem. Ein ähnliches Beispiel wäre etwa auch Zolas Künstlerroman "Das Werk". Der Protagonist, natürlich immer ein Mann (ein weibliches Gegenstück würde mich interessieren!), unterwirft alles, was in seinem Umfeld lebt und wirkt, seinem künstlerischen Ziel. Alle Mitmenschen haben nur die Funktion von Trabanten, die ihm entweder nützen oder ihn behindern. Ganz übel wird das natürlich, wenn so ein Mensch etwa Vater wird.


    Wie gesagt ärgert es mich immer furchtbar, so etwas zu lesen, aber ich weiß jetzt nicht, ob das mit Wassermanns Stil zusammenhängt oder einfach mit der Wahl seines Themas. Von der "Geschichte der jungen Renate Fuchs", die ich im letzten Jahr gelesen habe, war ich sehr enttäuscht; die Hauptfigur bleibt blass und ihr Handeln nicht nachvollziehbar. "Laudin und die Seinen" und "Ein Mann von vierzig Jahren" habe ich vor längerer Zeit gelesen, und wenn ich mich richtig erinnere, geht es in beiden Büchern um Männer, die ihre Familie verlassen; allerdings war das Porträt der verlassenen Frau im "Mann von vierzig Jahren" sehr differenziert und einfühlsam.


    Später (morgen oder übermorgen) mehr zu Deinen anderen Bemerkungen - auch zu Karen Engelschall, über die ich gern noch etwas schreiben würde.

    Zu den Frauen: Mit der Argentinierin meinst Du wahrscheinlich Lätizia. Sie ist eine außereheliche Tochter Crammons und erscheint imi "Teenageralter" zunächst auf reizende Weise unbedarft; mit zunehmendem Alter wird ihre geistige Anspruchslosigkeit aber manchmal recht peinlich. Als sie und Christian einander das erste Mal begegnen, lebt er noch als sehr junger Mensch glücklich in vollem Weltgenuss. (Es gibt da eine sehr sprechende Szene, als er mit seiner Hundemeute rauft - im Grunde unterscheidet er sich kaum von den Hunden.)
    Kurze Zeit später heiratet Lätizia einen jungen, sehr reichen Argentinier, dessen Familie ursprünglich aus Deutschland - oder Österreich? - stammt; er macht ihr auf sehr ungestüme und schmeichelhafte Weise den Hof. Als er sie erst einmal in Argentinien unter Dach und Fach hat, entpuppt er sich als Halbwilder. Das war eine Passage des Romans, die mir sehr unangenehm war. Die ganze Familie des Argentiniers könnte direkt aus "Game of Thrones" oder einer italienischen Oper entsprungen sein. Als er zum Beispiel einmal Lätizia mit wildem Augenrollen droht, er werde sie erstechen, wenn sie ihn betrügt, antwortet sie ganz naiv, er möge ihr doch den Dolch zeigen, sie sei neugierig.
    Lätizias Haupteigenschaft als vollkommener Dummbatz gibt sich auch später nicht, nachdem sie den Argentiniern entkommen und wieder in Deutschland angekommen ist. Nach meiner Erinnerung begegnet sie Christian übrigens nicht mehr, da er sich inzwischen von seiner Familie und dem ganzen gesellschaftlichen Dunstkreis losgesagt hat.


    Erheblich wichtiger im Rahmen des Romans ist die Tänzerin Eva, nach der der erste Band benannt ist (der zweite heißt "Ruth"). Als Christian und Eva einander kennen lernen, ist sie ihm geistig weit überlegen: Sie ist bereits eine ausgeformte Persönlichkeit, hat eine riesige Fangemeinde, empfängt und hält Hof; er ist zunächst nur einer ihrer Trabanten - sie gibt ihm den Spitznamen Eidolon*, übrigens ist er zu dieser Zeit mit einer anderen Frau liiert. Trotzdem macht sich (wenn ich mir das nicht nur eingebildet habe) von Anfang an eine starke erotische Spannung zwischen den beiden bemerkbar. Alles deutet in Richtung einer Liebesbeziehung, die auch zustande kommt und die ich, wie schon oben erwähnt, als beglückend und passend empfunden habe, als es endlich so weit war. Leider ist es nur eine ganz kurze Episode in beider Leben. Interessant ist, dass Christian ihr einen gigantischen, überaus kostbaren Diamanten schenkt - und das zu einer Zeit, als er bereits anfängt, solche Insignien des Reichtums wie Schmuck, Schlösser**, Kunstsammlungen und dergleichen zu verachten. Ich hatte den Eindruck, dass der Erwerb dieses Diamanten, der selbst für seine Begriffe extrem viel Geld kostet, so etwas wie eine symbolische Gabe ist, um sich von der Welt, die Eva repräsentiert - dem Glamour, Prominenz, Reichtum - loszukaufen.


    Wassermann hat - nach meiner persönlichen Meinung - nicht immer die glücklichste Hand mit seinen Frauengestalten. Sie sind oft ausschließlich als Gegenstück zu seinen männlichen Hauptpersonen konzipiert, mehr Symbole als Persönlichkeiten. Zum Glück zeigt sich das bei den wichtigsten Frauen im "Wahnschaffe", nämlich Eva, Ruth und Karen (zu der ich hoffentlich noch kommen werde) nicht allzu deutlich. Eva ist eine wirklich lebendige, überaus interessante, differenziert geschilderte Frau.


    Später gerne mehr.


    *) Gegen Ende des Romans kommt noch einmal der alte Crammon zu Wort: "Wenn er in seinen Erinnerungen wühlte, einem Sammler vergleichbar, der seine eifersüchtig behüteten Schätze mustert, war es stets Christians Gestalt, die vor allen anderen verklärt emporstieg. Der Christian des Anfangs, nur der; unter den Hunden im Park; in der Mondnacht unter der Platane, im erlesen geschmückten Saal der Tänzerin ... Christian lachend, Christian verführend, Christian verschwendend, Christian der Herr; Eidolon."
    Eidolon, ich habe es nachgeschlagen, bedeutet soviel wie Trugbild; nach Platon der erste Abdruck im Bewusstsein, der Wiedererkennen gewährleistet - also auch Symbol oder Abbild, wie eine Fotografie. Im nachhinein erscheint es selbstverständlich, dass Christian sich nicht damit zufriedengeben wird, ein Eidolon zu sein; er will sich entfalten. Ich hatte bei meinen Wassermann-Lektüren mehrmals das Gefühl, dass er (Wassermann) seinen Frauenspersonen eben jene Entfaltung verweigert - zum Beispiel den Schwestern im "Gänsemännchen". Die Tänzerin Eva jedoch, die mehr als alle anderen Frauen im Wahnschaffe zur Entfaltung gelangt, ist interessanterweise eine uneheliche Tochter des "Gänsemännchens" Daniel Nothafft. Vielleicht ist das so eine Art Abbitte des Autors ...


    **) Christian besitzt von seinen Eltern einen schlossartigen Landsitz mit Namen "Christiansruh"! Ich bin schon recht dankbar, dass ich mir hier den Raum nehmen darf, über den Roman zu erzählen ... Der Name war mir immer unbehaglich; mir wird jetzt erst klar warum. Er klingt, als sei Christian schon tot. Christiansruh gehört zu den Besitztümern, die er als erstes verkauft.

    Ruth, die eine großartige Gefährtin für Christian hätte werden können (und umgekehrt er für sie), darf leider nicht am Leben bleiben. Sie wird auf grässliche Weise ermordet; ein alsbald festgenommener halb schwachsinniger junger Mann gesteht die Tat. Christian, der tief um das Mädchen trauert, hält das Geständnis für falsch und sucht selbst nach dem Täter - nicht, um ihn der irdischen Gerechtigkeit zu überantworten, diese ist ihm ziemlich egal, sondern um den Mörder kennen zu lernen und seine Motive zu erfahren.
    Der Leser ahnt weit früher als Christian, wer der wahre Täter ist. Die letzten Kapitel ächzen unter der Wucht der Symbolik - wie wohl immer bei Wassermann -, aber sein dramatisches Gespür ist großartig, es hätte in phantastischer Film daraus werden können. (Es gibt eine Verfilmung aus dem Jahr 1921, aber der Inhaltsangabe nach zu schließen, wurde der Inhalt stark verändert; insbesondere die Rolle der Perlenkette, die eigentlich Christians Mutter gehört und die er nur ausgeliehen hat.)


    Interessant ist, dass auch Christians früheres Umfeld, die Welt der Schönen und Reichen, im Lauf des Romans eine wahre Talfahrt durchmacht. Wenn man sieht, wie sich dieser Kreis entwickelt, kann man Christian nur dazu gratulieren, dass er sich rechtzeitig daraus gelöst hat. Viele seiner alten Bekannten verspielen und verjubeln ihr Vermögen und nehmen kein gutes Ende. Christians Schwester, der gealterte Crammon und dessen Verwandte zeigen sogar Züge beginnender Verblödung.

    Ich habe jetzt bewusst über den Inhalt des zweiten Bandes nur sehr wenig gesagt; er enthält ein intensives Spannungsmoment. Ich kann gern noch mehr dazu erzählen, möchte aber auch nicht, dass es hinterher heißt, ich hätte zu viel verraten.
    Christian Wahnschaffe ist m.E. Wassermanns bester Roman - ich habe viel von ihm gelesen, auch einiges, was mir große Freude gemacht hat, aber der Wahnschaffe fasziniert mich am meisten. Auch wegen dieses eigenartig schillernden Helden, von dem man nie so recht weiß, was man von ihm halten soll - ob er schlicht naiv ist, vielleicht auch ein wenig autistisch; oder einfach zu klug für die Welt (im Sinne von Thomas Manns Helden Hans Castorp, der sinngemäß einmal sagt, die Gescheitheit sei auch nur eine Form der Dummheit).


    Ich würde mir wirklich wünschen, mal jemanden zu finden, mit dem ich mich über dieses Buch austauschen kann ... :redface:

    Da es zur Leserunde leider nicht gekommen ist, möchte ich das Buch hier gern vorstellen, in der Hoffnung, dass sich vielleicht noch jemand dazu meldet.


    Ich habe es soeben zum zweiten Mal gelesen und es gefällt mir immer besser; mit Sicherheit werde ich es mir mindestens noch ein drittes Mal vornehmen. (Beim Lesen des zweiten Bandes, für den ich nur drei Tage gebraucht habe, hatte ich diesmal immer wieder minutenlang ein Gefühl von Klarheit und Durchsichtigkeit, als hätte ich eine Detox-Kur für die Seele gemacht.)


    „Ein Mann will nach unten“, so lautet die Beschreibung des Titelhelden bei Mobile Read Wiki.
    Bis es aber soweit kommt, wird uns in aller Ausführlichkeit Christian Wahnschaffe als verwöhntes Bürschchen mit schier unerschöpflichem Portemonnaie vorgestellt: Für den Fabrikantensohn aus gutem Hause ist das Leben eine Abfolge von Vergnügungsreisen und Festivitäten. Er ist umgeben von reichen Freunden und Verwandten, erfolgreichen Künstlern und eleganten Nichtstuern. Wassermann schildert eingehend das gute Aussehen und das Charisma seines Helden, der eine heftige Abneigung gegen alles Armselige, Hässliche und Verletzte hat. An seiner Seite geht als väterlicher Freund der bornierte Feudalist Crammon, dem etwa beim Anblick demonstrierender Arbeiter nur einfällt, dass er gern die Folter wieder eingeführt sähe.


    Bei Googlebooks steht, dass Wassermann die „soziale Schere“ in der Gesellschaft vor 1914 als Thema vorgesehen habe. Das trifft weitgehend zu für den ersten Band des Romans. Die gesellschaftliche Oberschicht, in der sich Christian bewegt, hat zum „wahren Leben“ der Zeit keine Verbindung. Christian empfindet das zunehmend als Mangel. Er sucht, anfangs in ziemlich unbeholfener und naiver Weise, die Bekanntschaft mit Menschen der Unterschicht. Es kommt zu mehreren grotesken Vorfällen: So besucht er eine verelendete Arbeiterfamilie, geht vor den Leuten auf die Knie und leert sein Portemonnaie aus – über 4000 Mark lässt er da, eine spontane Handlung, die mich in ihrer Folgerichtigkeit an Dostojewski erinnert hat (Crammon regt sich am nächsten Tag entsetzlich auf, weil die Arbeiterfrau von dem Geld unter anderem eine Kuckucksuhr gekauft habe – dieses Detail ist nun wiederum echt Wassermann!). Nach und nach schneidet Christian die Verbindungen zu seinen Freunden ab, nimmt an ihren Vergnügungen nicht mehr teil, verkauft Stück für Stück seine geerbten Liegenschaften, Schmuck, Antiquitäten und was er sonst besitzt; ein Zerwürfnis mit seiner Familie ist die Folge. Sogar eine - eigentlich - sehr schöne Liebesgeschichte mit einer Tänzerin, die ich als Leserin wohltuend und passgenau fand, beunruhigt ihn nur, weil sie in einer Welt spielt, die er als künstlich und lebensfremd empfindet.
    Beim ersten Lesen dachte ich (natürlich), es ginge Christian darum, Gutes zu tun, weil er bedenkenlos Geld verschenkt. Im zweiten Band schreibt er an seinen Vater, der ihm Vorhaltungen macht, der Vater möge Christians Erbteil doch dazu verwenden, Kranken- und Waisenhäuser oder Invalidenheime zu unterstützen, "es gibt so viele Notleidende, und man kann ihr Elend lindern - ich bin dazu nicht imstande, es ist mir sogar ein unangenehmer Gedanke". Ein Heiliger will er also nicht werden. Kurz danach begegnet er der jungen Ruth, einer Siebzehnjährigen, die genau jene Eigenschaften zu haben scheint, die er an sich selbst vermisst und durch seine selbst herbeigeführte Armut auszubilden sucht: eine vorbehaltlose Annäherung an andere Menschen, wie folgende Szene beschreibt.


    "Eines Abends kam sie von einer Ausspeisehalle, wo sie zweimal wöchentlich eine halbe Stunde Hilfsdienst leistete, und erzählte Christian von den Menschen, die sie dort zu sehen gewohnt war, den Vernichteten der Großstadt. Sie ahmte Gesten nach, ahmte Mienen nach, gab Bruchstücke erlauschter Gespräche wieder, malte die Gier, den Ekel, die Verachtung, die Scham; es war unerhört beobachtet. Christian begleitete sie das nächste Mal. Er sah wenig, fast nichts. Er sah Leute in defekten Kleidern, die eine karg bemessene Mahlzeit freudlos hinunterschlangen, Brotrinden in die Suppen tunkten und verstohlen den letzten leergegessenen Löffel noch einmal ableckten; hagere Gesichter, trübe Augen, Stirnen, wie mit der hydraulischen Presse eingedrückt, und über dem Ganzen nüchterne Ruhe wie über stillstehenden Maschinen. Er war gequält, als hätte man ihm einen Brief in einer unbekannten Sprache gegeben, und er fing an zu begreifen, daß er nicht sehen und fühlen konnte."