Um zu verdeutlichen, warum mich Merciers Roman doch eher enttäuscht hat:
Inzwischen ist meine Begeisterung für Pascal Merciers "Das Gewicht der Worte" etwas abgeklungen, gegen Ende wird das Buch doch etwas ermüdend und nicht nur weil ich es am Bildschirm gelesen habe.
Ich mag das Wort 'Gutmensch' nicht, aber trotzdem hat es sich mir nach der Lektüre aufgedrängt. Die zahlreichen menschlichen Beziehungen, die die Hauptfigur (Leyland) im Laufe der Handlung anknüpft, sind nämlich alle ausnahmslos geradezu unendlich verständnisvoll und harmonisch. Der neue Nachbar im geerbten Londoner Haus, scheint zunächst sehr distanziert, aber schon 24 Stunden später beginnen beide eine tiefe, verständnisvolle Freundschaft, die durch nichts getrübt wird. Einem englischen Verleger, bei dem seine Übersetzungen ercheinen, hilft er aus einer den Verlag bedrohenden Notlage. Mit einer halben Million Euro. Einfach so. Geschenkt. Damit einem Übersetzerkollegen nicht die Wohnung gekündigt wird, kauft er diese und überlässt sie ihm mietfrei auf Lebenszeit. Einem italienischen Verlag bietet er an, die Druckkosten für ein 1000-seitiges Werk zu übernehmen, da das wirtschaftliche Risiko zu hoch eingeschätzt wird. Mit Sohn und Tochter (die Frau ist schon länger verstorben) gibt es keinerlei Spannungen. Jeder fühlt sich durch jeden perfekt verstanden. In einer Erzählung, die gegen Ende in den Roman eingebaut ist, flüchtet ein ruhebedürftiger Grossstädter ins Luberon. Schon nach dem ersten Besuch in der Dorfkneipe wird er ein geschätzter Mitspieler bei den täglichen Petanque Partien und von der Schwester des Vermieters lässt er sich zigfach porträtieren, obwohl er ihretwegen schon die Koffer gepackt hatte, aber nach einer Tasse Kaffee den Kofferraum wieder leerte. Das ist nur eine kleine Auswahl. Und obwohl ich nichts gegen das Gute habe, ist dies doch des Guten zuviel.
Alle Übersetzer, denen man im Roman begegnet, die Hauptfigur Leyland gehört auch dazu, sind geradezu unglaubliche Perfektionisten, die ihre Zielsprachen bis in die kleinste Nuance beherrschen. Zeitdruck scheinen sie nicht zu kennen.
Und dann gibt es ein erzähltechnisches Problem. Leyland schreibt fiktive Briefe an deine verstorbene Frau, da er glaubt, dass dieser Rahmen ihm hilft, grössere Klarheit über sich selbst zu gewinnen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber sehr wohl dagegen, dass der Leser jetzt vieles gleich doppelt zu lesen bekommt. Er weiss was am Tage geschehen ist und was besprochen wurde, und jetzt liest er es in Briefform noch einmal. Gegen Ende des Buches wird das fast 'mechanisch'. Das wäre interessant, wenn die Briefversion des Erlebten auf eine interessante Weise von der romanhaft erzählten Geschichte abweichen würde, etwa weil die erste Fassung spontan ist, aber in der Briefversion das Erlebte nicht mehr erlebt, sondern beschrieben wird. Zunächst scheint das die Erzählstrategie Merciers zu sein. Die Briefe scheinen 'reflektierter' zu sein, aber im Laufe des Buchs geht dieser Eindruck verloren.
Schade, dass es Mercier nicht gelungen ist, ein Buch ohne solche Schönheitsfehler zu schreiben. Dass die ganze Geschichte sich fast gänzlich im Milieu von Figuren abspielt, die beruflich mit Sprache beschäftigt sind, Autoren, Verleger, Übersetzer, das muss man dem Autor nicht ankreiden.