Nach mehr als der Hälfte, gefällt mir Pascal Merciers neuer Roman noch immer. Gewiss, er lässt sich Zeit. Warum auch nicht.
"Das Gewicht der Worte", das weckt vielleicht die Assoziation "gewichtig", es erinnert an den Ausdruck, dass jemandes Worte Gewicht haben, etwa weil er ein Experte, eine Autorität auf einem bestimmten Gebiet ist. Nein, das ist nicht gemeint. Auch nicht, dass Worte auf einem lasten können, dass sie einem das Leben schwer machen können. Es geht in diesem Buch sehr viel, häufig sogar explizit, um das Abwägen, welches Wort am besten geeignet ist, um das zu treffen, was man sagen möchte. Wobei das, was man sagen möchte, ja gar nicht von Anfang an feststeht, sondern eigentlich erst im Prozess des Abwägens sich formt. Es gibt ja diesen schönen und richtigen kleinen Aufsatz von Heinrich von Kleist: "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden". Undenkbar, dass Mercier ihn nicht kennt. Aber auch beim Schreiben werden die Gedanken allmählich verfertigt. Sobald der Gedanke ausgesprochen oder aufgeschrieben ist, gewinnt er eine Unabhängigkeit, eine feste Form, die der spontane Gedankenfluss nicht hat. Und danach können wir ihn schmieden.
Lesen wir es in den Worten Merciers:
"Das eine ist, dass die Gedanken, wenn sie aufgeschrieben werden, auf andere Weise zu existieren beginnen: Ich kann ihnen, statt sie nur zu vollziehen, nun mit einer erwägenden und prüfenden Distanz gegenübertreten, sie erlöschen nicht gleich wieder, sondern haben Bestand und sind etwas, auf das ich stets von neuem zurückkommen kann. Indem sie in geschriebenen Worten zum Ausdruck kommen, erlangen sie eine Bestimmtheit, die sie vorher, als stille und flüchtige Episoden des Geistes, nicht besaßen. Und durch diese Bestimmtheit lerne ich erst richtig kennen und verstehen, was ich denke und wer ich in diesen Gedanken bin."
Ist das die Prosa eines Brauereipferdes, wie ein Rezensent meinte? Nein, es sind nachdenkliche, abgewogene Sätze. Und gerade sie machen den Reiz des Buches aus, in dem das erzählerische Element immer wieder ins philosophische umschlägt und umgekehrt. Der Abstand zwischen dem Romancier Pascal Mercier und dem philosophierenden alter ego Peter Bieri ist mit diesem Roman noch kleiner geworden, als er ohnehin schon war. So wie es in den grossen philosophischen Werken Bieris (Das Handwerk der Freiheit und Eine Art zu leben) auch erzählerische Passagen gibt, so gibt es im Roman 'Das Gewicht der Worte' auch philosophische Passagen, wie etwa die oben zitierte.
Es ist kein Zufall, dass die Hauptfigur im Roman Übersetzer ist. Denn das 'Wiegen der Worte', das Abwägen, welches Wort das im Original Gemeinte trifft, ist die Aufgabe des Übersetzers. Und das dies im Roman mit liebevoller Häufigkeit illustriert wird, hat ja manchen Rezensenten gestört. Warum?
Aber es geht nicht nur um das treffende Wort beim Übersetzen. Es geht noch viel mehr um das treffende Wort, wenn wir unsere Erfahrungen artikulieren. Auch hier finden wir unseren Übersetzer immer wieder beim Abwägen der Worte, eigentlich durch das ganze Buch hindurch, das den Leser immer wieder auf eine Suche nach der sprachlichen Artikulation von Erlebtem mitnimmt. Wenn der Erzähler etwa auf die verheerende Fehldiagnose seines Arztes zurückblickt, der die gebotene nötige Sorgfalt vermissen lies, so spricht er zunächst von einem Fehler. Und dann zögert er. Nein, es ging nicht um einen Fehler, es ging um eine Verfehlung. Dieses Wort hat das nötige Gewicht, um den Sachverhalt auszudrücken.
Und so kann der Leser Mercier 600 Seiten lang beim Abwägen der Worte begleiten. Und dabei lernen wir, dass dieses Abwägen der Worte auch sehr viel mit dem zu tun hat, was man emotionale Intelligenz nennen könnte. Wir sollten dem Autor dafür dankbar sein.