Sodele...
Ihr Herz wollte vielleicht eine Lovestory schreiben, ihr sehr gut geoelter Kopf hat sie dann dahingehend beraten, dass sie fuer die beiden etwas reales Unterfutter braucht, dazu gehoert dann auch die manchmal in den Vordergrund tretende Sozialkritik.
Ja. Und als Prinzip durchaus lobenswert. Die Eierschalen einer kapitelweisen Veröffentlichung in einer Zeitschrift bleiben leider haften. Schön brav werden verschiedene Verwicklungsstränge aufgebaut. Schön brav in verschiedenen Kapiteln, damit ich den Leser gleich mit mehreren Cliff-Hangern bei der Stange halten. Karl May hat ähnlich komponiert, vor allem in seinen ellenlangen Kolportageromanen, die bei Münchmeyer erschienen sind, und so ganz ist auch May diese schlechte Gewohnheit nicht losgeworden. Proust, ich habe es schon angedeutet, verflicht seine verschiedenen Stränge analog zur Art und Weise, wie ein Seil hergestellt wird. May und Gaskell verspleissen immer neue kurze Fasern hintereinander. So was trägt bedeutend schlechter. Ich kannte Gaskell bisher nur als Autorin von Kurzgeschichten; vielleicht lag ihr das mehr. Allerdings muss ich sagen, dass Gaskell, nachdem der Roman in der Mitte so ziemlich 'durchhing', einen fulminanten Endspurt hingelegt hat. Es liegen zwar etwelche Tote auf dem Weg unseres Liebespaars ins Glück, aber was soll's. Dafür ist die Schilderung der ziemlich hirn- und relativ herzlosen Verwandten in London gut gelungen.
Lovestory auf interessanter materieller Grundlage.
Was sie für mich tatsächlich auch interessanter macht als den frühen oder mittleren Dickens.
Aus meiner Sicht gibt es bei Gaskell zwei Sorten von Geschichten. Die einen verfolgen ausdrücklich den Zweck der Sozialkritik. In Ruth beispielsweise bricht sie eine Lanze für Frauen, die trotz bester Absichten "auf Abwege" geraten sind. Gaskell fand es unerträglich, dass diese Frauen gleich zweimal bestraft wurden: einmal durch den "missratenen" Lebensweg (Opfer der Umstände) und dann auch noch durch die Verachtung der Gesellschaft (Opfer der öffentlichen Meinung).
Ist geistig notiert, danke!
Da aber der christliche Glaube tief in Gaskells Leben verwurzelt war und nicht nur - um es einmal böse auszudrücken - für den sonntäglichen Kirchgang aus dem Schrank geholt wurde, lässt sie auch ihre religiösen Protagonisten Alltagsprobleme mit Hilfe des christlichen Glaubens lösen. Für uns mag es kitschig klingen, wenn Margaret, Mr. Hale und Higgins miteinander beten; aber ich kann mir vorstellen, dass es für Gaskell (wäre sie in einer solchen Situation gewesen) die natürliche und als ideal angestrebte Handlungsweise gewesen wäre, mit Higgins zu beten - aus der Überzeugung heraus, dass es allen geholfen hätte.
Letzteres ganz sicher, ja. Was aber nicht heisst, dass ich als Leser das goûtieren muss. Es klang sicher auch im 19. Jahrhundert weniger kitschig als heute, muss es aber auch damals gewesen sein. Wenn ich als Vergleich die Stelle gleich zu Beginn von Barchester Towers nehme, wo der Dean am Totenbett seines Vaters, des Bischofs kniet, und betet - wie anders, unsentimentaler und schon fast zynisch hat der nur 5 Jahre jüngere Trollope dieses Thema behandelt! Ich mag Gaskell, aber Trollope ziehe ich dennoch vor, auch wenn er ein starrköpfiger Konservativer war...