Über Espresso, Antisemitismus und die Sündenbocktheorie
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Café, trinken einen Espresso und denken ein wenig über Gott und die Welt nach. So ungefähr erging es Max Frisch, als ihm die Prosaskizze zu seinem Drama Andorra einfiel.
Es ist Geschichte eines vermeidlichen Juden, der sich, unter ständigem Einfluss anti-jüdischer Vorurteilen, diese langsam aneignet. Für das Drama benötigte Max Frisch zwar „nur“ 127 Seiten - im Vergleich zu anderen Büchern eigentlich nur so kurz wie ein Espresso im Vergleich zu einem Milchkaffee- zum schnellen Überfliegen bei einem Espresso ist Andorra dennoch nicht die richtige Wahl, denn es ist - nicht nur wegen des etwas veralteten Sprachstils - schwere Kost, oder um in der Kaffeesprache zu bleiben, ein doppelter Espresso, der so stark ist, dass der Löffel darin stehen bleiben würde: Max Frisch thematisiert in dieser Geschichte nicht nur die Sündenbocktheorie, sondern auch Antisemitismus, Vergewaltigungen und noch viele andere Themen. Das Drama hat eine Schwere, die durch keinen Espresso dieser Welt verdaulicher werden würde.
Nimmt man sich jedoch ein wenig mehr Zeit für das Drama und bestellt dazu einen Milchkaffee, dann ist dieses es empfehlenswert, denn diese komplexe Geschichte beinhaltet eine Vielzahl Schwerpunkte und Problematiken, welche auch in der heutigen Gesellschaft noch eine große Rolle spielen. Um dies zu erkennen, muss man jedoch – trotz der Kürze – viel Muße haben und den Inhalt auf sich wirken lassen und sich damit auseinandersetzen. Aber es lohnt sich. Nach diesem Drama haben Sie eine Menge Themen, über die Sie bei Ihrem nächsten Café Besuch nachdenken können. Vielleicht hat Ihr Tischnachbar das Buch auch schon gelesen und hat Interesse mit Ihnen darüber zu sprechen. Unwahrscheinlich ist dies nicht, auch wenn Max Frisch es schon vor Jahrzehnten geschrieben hat, es gehört nach wie vor zur Bibliothek der Weltliteratur.