Marcel Reich-Ranickis Kanon

  • Vielen Dank an Dyke!


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    Artikel der FAZ:


    Diese Woche ist im deutschen Buchhandel der erste Teil einer Buchreihe erschienen, die nichts weniger sein will, als ein Kanon der deutschsprachigen Literatur. Ihre Herausgeber: der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Sechs deutsche Verlage haben sich unter Federführung von Suhrkamp zu diesem Projekt zusammengeschlossen.


    Die Bücher sind in einem Karton mit Tragegriff unter dem Titel „Der Kanon“ gepackt. Versammelt sind in dem Pappschuber unter anderen Romane von Goethe, Fontane, Thomas Mann, Hesse und Grass.


    Ziel der Edition ist es, Studenten der Germanistik und anderen Lesern in der Flut von Lektüre Orientierung zu verschaffen. „Ich wollte einen Kanon machen, den an Literatur interessierte Menschen lesen können - nicht nur, weil sie darüber geprüft werden“, sagte Reich-Ranicki.


    Viele Schriftsteller, wie beispielsweise Martin Walser und Friedrich Dürrenmatt, fehlen in der Sammlung. Das haben in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ jüngere Autoren kritisch angemerkt. Mit seiner „verstockten Perspektive“ habe er keinen Roman ausgewählt, der nach Thomas Bernhards „Holzfällen“ (1984) erschien, schrieb etwa der Schriftsteller Thomas Hettche aufgebracht.


    Marcel Reich-Ranicki weiß das durchaus und gibt zu, dass die Zusammenstellung kritikwürdig sei. „Der Zugang zu Literatur ist immer subjektiv, sehr von Persönlichem geleitet, und natürlich trägt die Liste meine Handschrift.“ Der Kanon sei daher auch nicht als „Gesetzbuch“ oder Vorschrift gedacht, sondern als Vorschlag oder Angebot.


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    Marcel Reich-Ranicki stellt seinen Kanon vor


    Heute diktiert Marcel Reich-Ranicki den Deutschen seinen literarischen Kanon: Erste Reaktionen der jungen deutschen Literatur
    Am heutigen Mittwoch wird in Frankfurt ein Buchprojekt vorgestellt, das von einigem Ehrgeiz zeugt. Es handelt sich um den Versuch, die wichtigsten Romane der deutschsprachigen Literatur in einem Pappschuber zu versammeln und mit einem Tragegriff zu versehen. Die portative Nationalliteratur also: zwanzig deutschsprachige Romane vom späten achtzehnten bis zum späten zwanzigsten Jahrhundert, zusammengefaßt unter dem Titel: "Der Kanon. Die deutsche Literatur. Romane." Ihr Herausgeber: Marcel Reich-Ranicki.


    Sechs Verlage haben sich für dieses Projekt zusammengetan, die Federführung liegt beim Suhrkamp Verlag. Weitere Kassetten werden folgen, vorgesehen sind die Gattungen Drama, Lyrik, Essay. Wer alle vier Kassetten erwirbt und die darin enthaltenen Werke liest, darf sich rühmen, all jene Werke der deutschen Literatur zu kennen, die Marcel Reich-Ranicki für die wichtigsten hält. Das ist zuwenig, um damit glücklich zu werden, aber mehr als genug, um herrlich darüber zu streiten.
    Wir haben einige der wichtigsten jüngeren deutschen Autoren gebeten, Reich-Ranickis Auswahl anhand von jeweils einem der zwanzig Romane zu prüfen. Das Ergebnis: Liebeserklärungen, rüde Abfuhren und heftige Attacken. Thomas Hettche liebt zwar Goethes "Wahlverwandtschaften", lehnt jedoch Reich-Ranickis Unternehmen empört und vehement ab. Dies ist nicht zuletzt der Protest der jüngeren Generation, die sich übergangen sieht und deren Bedeutung die Auswahl bestreitet. Daß kein Buch Aufnahme in den Kanon gefunden hat, das nach Thomas Bernhards "Holzfällen" von 1984 erschien, gilt Hettche als Beleg für die "verstockte Perspektive einer bestimmten Generation". Die Kanon-Debatte ist immer auch eine Generations-Debatte.


    Daß am Anfang dieses Streits ein Text stand, von dem wir heute nur noch den Titel wissen, wird im Kanon-Streit meistens übersehen. "Kanon", so lautete der Titel, mit dem der antike Bildhauer Polyklet eine Schrift überschrieb, in der er die idealen Proportionen des menschlichen Körpers festlegte. Der Text ist verloren, aber geblieben ist das Wort, das im Griechischen das Schilfrohr und den Meßstab bezeichnet und im übertragenen Sinn auch Richtlinie, Richtschnur bedeutete. Geblieben ist auch die Frage, ob wir einen Kanon brauchen.


    Als die emanzipatorische Pädagogik den Kanon bekämpfte, wollte sie den Leser von normativen Zwängen befreien. Wo Freiräume geschaffen werden sollten, sind jedoch karge Steppen entstanden. Es ist kein Wunder, daß im Zusammenhang der für deutsche Schulen ungünstig ausgefallenen Pisa-Studie auch die Frage laut wurde, ob der Unterricht noch auf den Kanon verzichten dürfe. Zahlreich sind die Versuche der letzten Jahre, Schneisen in den Dschungel der Kulturgeschichte zu schlagen. Kein Jahr, in dem nicht irgendein Gremium seine Auswahl der besten Bücher aller Zeiten verkündete. Das Bedürfnis nach Orientierungshilfen wächst, nicht nur in den Schulen.


    Aber nicht zuletzt an die Schüler wird Reich-Ranicki gedacht haben. Für ihn steht die Notwendigkeit eines Kanons außer Frage. Eine zivilisierte Gesellschaft ohne Kanon ist ihm unvorstellbar, ihr drohte der Rückfall in Willkür und Beliebigkeit, ja sogar in die "Barbarei". Vielleicht nicht gerade Barbarei, aber gewiß Willkür und Beliebigkeit bei der Auswahl der zwanzig Romane wird Reich-Ranicki nun vorgeworfen werden. Ein Blick auf die Liste am Fuß dieser Seite reicht, um zu erkennen, daß der Vorwurf berechtigt ist: Wo ist Uwe Johnson, wo Martin Walser? Aber kein Kanon ist perfekt, jeder gleicht einer Krücke. Er ist ein Hilfsmittel, ein Instrument; es gibt ihn, damit man als Leser über ihn hinauswachsen kann.


    HUBERT SPIEGEL
    Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.2002, Nr. 116 / Seite 45


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    Alle Bücher im ersten Teil der Edition, die insgesamt fünf Teile umfasst. Weitere Teile mit Dramen, Gedichten, Erzählungen und Essays sollen - jeweils im Abstand von einem halben Jahr - folgen.


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    Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis 1832): Die Leiden des jungen Werthers,
    erschienen 1774


    Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis 1832): Die Wahlverwandtschaften, 1809


    E.T.A. Hoffmann (1776 bis 1822): Elixiere des Teufels, 1815/16


    Gottfried Keller (1819 bis 1890): Der grüne Heinrich, Erstfassung 1854/55


    Theodor Fontane (1819 bis 1898): Frau Jenny Treibel, 1892


    Theodor Fontane (1819 bis 1898): Effi Briest, 1894/95


    Thomas Mann (1875 bis 1955): Buddenbrooks, 1901


    Thomas Mann (1875 bis 1955): Der Zauberberg, 1924


    Heinrich Mann (1871 bis 1950):Professor Unrat, 1905


    Hermann Hesse (1877 bis 1962): Unterm Rad, 1906


    Robert Musil (1880 bis 1942): Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, 1906


    Franz Kafka (1883 bis 1924): Der Proceß, 1925


    Alfred Döblin (1878 bis 1957): Berlin Alexanderplatz, 1929


    Joseph Roth (1894 bis 1939): Radetzkymarsch, 1932


    Anna Seghers (1900 bis 1983): Das siebte Kreuz, 1942


    Heimito von Doderer (1896 bis 1966): Strudlhofstiege, 1951


    Wolfgang Koeppen (1906 bis 1996): Tauben im Gras, 1951


    Günter Grass (geboren 1927): Die Blechtrommel, 1959


    Max Frisch (1911 bis 1991): Montauk, 1975


    Thomas Bernhard (1931 bis 1989): Holzfällen, 1984[/img]

  • Liebste Lotte,


    wie ich jünger war, liebte ich nichts so sehr als Romane. Und Goethe weiß, wie wohl mirs war, wenn ich mich sonntags so in ein Eckchen setzen und mit ganzem Herzen an dem Glück und Unstern einer Miß Jenny teilnehmen konnte. Aber jetzt, da Sie mich fragen, ob Sie mir seine Bücher schicken sollen, antworte ich: Ich bin mit Lesen schon fertig. Was soll Dichtung, Szene und Idylle? Muß es denn immer gebosselt sein, wenn wir teil an einer Naturerscheinung nehmen sollen? Wie froh bin ich, daß ich weg bin! Eine wunderbare Heiterkeit hat meine Seele eingenommen, ich bin allein und freue mich meines Lebens.


    Denn ich will, liebe Freundin, mich bessern, will nicht mehr ein bißchen Übel, das das Schicksal uns vorlegt, wiederkäuen, wie ichs immer getan habe, ich will das Gegenwärtige genießen, und das Vergangene soll mir vergangen sein. Aber es hat schwer gehalten, bis ich mich entschloß, meinen blauen einfachen Frack, in dem ich mit Ihnen zum ersten Mal tanzte, abzulegen. Und ein Kanarienvogel flog von dem Spiegel auf Ihre Schulter. Er soll Sie auch küssen, sagten Sie und reichten den Vogel herüber, und das Schnäbelchen machte den Weg von Ihrem Munde zu dem meinigen, eine Ahnung liebevollen Genusses. Danach waren Sie einige Tage verreist. Ach, diese Lücke! Diese entsetzliche Lücke, die ich hier in meinem Busen fühle!


    Aber was mich am meisten neckt, sind die fatalen bürgerlichen Verhältnisse. Diese Rangsucht unter Ihnen, wie Sie nur wachen und aufpassen, einander das richtige Buch zuzureichen. Ich knirsche mit den Zähnen, doch was für Zähne, liebste Lotte, sind das? Sehn Sie, ich trag es nicht länger, mit mir ist es aus! Was ist der Mensch, der gepriesene Halbgott? Was Goethe, was Klopstock? Tot, Lotte! eingescharrt der kalten Erde, so eng! So finster. Und kein Geistlicher hat sie begleitet, nur ein Nachbar, ich erinnere mich ganz genau, sah den Blitz vom Pulver und hörte den Schuß fallen.


    Da aber alles stille blieb, achtete ich nicht weiter drauf.


    Von Felicitas Hoppe, Jahrgang 1960, erschien zuletzt der Roman "Pigafetta".


    Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.2002, Nr. 116 / Seite 47

  • Kanonisation bedeutet Heiligsprechung. Wie aber macht man Romane zu Heiligen? Nun, wie im richtigen Leben: Man enthauptet und häutet sie, schneidet ihnen die Extremitäten ab und röstet sie, reißt ihnen das Herz aus der Brust und die Augen aus dem Kopf. Insofern geht Marcel Reich-Ranicki auch bei seinem neuesten Projekt nur seinem Handwerk nach. Sein Kanon will die Vision einer Literatur sein und ist doch nur eine Totenliste. Und beim Lesen dieser Liste merkt man und wird von Namen zu Namen trauriger darüber, daß sie keine Vielfalt kennen, nichts Spielerisches und keine Fülle der Literaturen, sondern tatsächlich nur Kanonisation im bleiernsten, repressivsten Sinne betreiben will. Doch - eine Liste von Buchtiteln kann sehr wohl Lebendigkeit und Witz atmen, indem sie ein Nebeneinander schafft, das neugierig macht. Das gelingt dieser Liste nicht, und es tut einem leid um jedes Buch in ihr.


    Und wie sehr erst um den modernsten Roman deutscher Sprache, der an zweiter Stelle darin erscheint. "Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter -", beginnt Goethes "Wahlverwandtschaften" gleich mit dem Eingeständnis, daß hier eine Geschichte erfunden wird, "Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittags zugebracht, um frisch erhaltene Pfropfreiser auf junge Stämme zu bringen." Doch die Idylle hält nicht lange vor. Zu Eduard kommt Charlotte, zu dieser ein Hauptmann und schließlich noch Ottilie. Man liebt sich so, und man liebt sich so, man leidet daran und versucht, vernünftig zu sein, man zieht in den Krieg, spielt Theater, ein Kind wird geboren, dessen Augenfarbe unerklärlich ist, eine ebenso unheimliche Naturkatastrophe bricht herein, und schließlich hungert sich jemand zu Tode. Und der Leser fragt sich, indem er mit höchster Spannung dieser seltsamen Geschichte folgt, die eine Logik zu besitzen scheint, die er nicht begreift, wo der Schlüssel zum Verständnis all der Ereignisse liegen mag, die mit ebender Unabänderlichkeit ablaufen wie jene chemischen Reaktionen, bei denen sich daher der Titel - wahlverwandte Stoffe aus ihren alten Verbindungen lösen und neue eingehen.


    Die Art und Weise nun, wie dieser Roman den Leser hineinzieht in die Irrwege der Deutungen, ist ganz modern. "Die Wahlverwandtschaften" sind 1809 bei Cotta in Tübingen erschienen, also fast zeitgleich mit Hegels "Phänomenologie des Geistes". Und ebenso, wie dieser beim Schreiben den Kanonendonner der Schlacht gehört haben will, mit der Napoleon bei Jena Preußen vernichtete, ist auch Goethes Roman bestimmt von der Erschütterung aller Ordnung in seiner Zeit. Für ihn ergibt sich daraus die ernste Frage, was etwas bedeutet. Deren Ernsthaftigkeit macht die Gegenwärtigkeit dieses Romans aus. So ließe sich beispielsweise im Geiste der "Wahlverwandtschaften" fragen: Was kann man eigentlich lesen, wenn man die Sequenzierung des menschlichen Genoms entschlüsselt hat? Was bedeutet sein Text? Goethes Antwort: "Es ist die Sache, ohne die Sache zu sein." Unser Denken nutzt Modelle, zieht Schlüsse aus Analogien. Wir können nicht anders. Oftmals ist dieses Verfahren fruchtbar, doch Vorsicht: "Folgt man der Analogie zu sehr, fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles ins Unendliche."


    Charlotte und Eduard auf ihrem Landgut im Zeitalter der napoleonischen Kriege wissen so wenig wie wir, ob sie den Interpretationen von der Welt und von sich trauen dürfen. Der Roman konfrontiert die Leser ebenso wie seine Figuren mit ganzen Deutungssystemen und knüpft in die Handlung alchemistische, religiöse, naturwissenschaftliche Motive ein, deren Erklärungsspuren sich jedoch jeweils wieder zu verlieren oder zu widersprechen scheinen. Unsicher beginnt man als Leser schließlich allen Maskierungen des Sinns zu mißtrauen. Gewiß, es könnte ganz einfach sein: Der Ausweg beim Umgang mit allen Deutungen wäre es, wie Goethe fordert, sie in der Schwebe zu halten und der Analogie zwischen Theorie und Wirklichkeit nur so weit zu folgen, daß sie etwas erhellt, aber nicht zu weit, denn sonst "fällt alles identisch zusammen", und wir haben uns wieder mal im Spiegelkabinett unserer Vorstellungen verfangen.
    Das ganz und gar Großartige der "Wahlverwandtschaften" besteht darin, daß der Roman uns dies nicht in Reflexionen vermittelt, sondern uns einbezieht. Ebenso, wie die Figuren zu verstehen versuchen, was ihnen geschieht, sind wir als Leser durch unser Mitleid mit Charlotte und dem Hauptmann, Ottilie und Eduard in dieselbe unauflösliche Logik eingebunden. Es ist so viel Wagemut und Lebendigkeit in diesem Roman, der ein ganz goethesches Plädoyer für die Unbestimmheit und Menschlichkeit ist, daß es mir geradezu obszön anmutet, seinen Titel in dieser Liste zu lesen, die in ihrem Anspruch, festzuschreiben, was unverrückbar bleiben wird, gänzlich todesverfallen ist.


    Noch einmal manifestiert sich in diesem Versuch der Kanonisation der ganze miefig-offiziöse Literaturbetrieb der sechziger Jahre mit seinen gramvollen Heroen. Was sonst als Alterssentimentalität kann es sein, daß Hesses "Unterm Rad" in dieser Liste steht und der "Törleß", während der "Mann ohne Eigenschaften" verschmäht wird? Was ist es anderes als die verstockte Perspektive einer Generation, die von sich nicht mehr abzusehen gedenkt, kein einziges Buch auszuwählen, das nach Bernhards "Holzfällen" erschienen ist? Schon in wenigen Jahren wird man kopfschüttelnd vor den Buchrücken dieser Edition stehen - nicht, weil man etwa die darin versammelten Romane nicht mehr läse, sondern weil man endgültig nicht mehr wird begreifen können, wie man sich hierzulande noch einmal auf einen so jämmerlich eindimensionalen Begriff von Literatur hatte festlegen wollen. Daß Johnson nicht dabei ist, ist ein Skandal, daß der "Hyperion" und Robert Walser fehlen, ist einfach lächerlich, daß man Arno Schmidt, Ernst Jünger, Hans Henny Jahnn verschweigt, ist Konsequenz einer altbackenen Ästhetik, wenn da überhaupt Reflexion im Spiel ist und nicht nur Reflex.


    Diese ganze Reihe ist eine Idee, geboren aus dem Geist der eisernen Rationen. Doch die Literatur hat noch niemals in die blechernen Stullendosen ihrer Verwalter gepaßt und wird sich auch jetzt nicht noch einmal zu solcher Biederheit zurechtreden lassen. Dieser Kanon ist ein leckes Kanu - auf dem Weg zur Toteninsel.


    Thomas Hettche, geboren 1964, veröffentlichte zuletzt den Roman "Der Fall Arbogast".


    Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.2002, Nr. 116 / Seite 45

  • Vielleicht darf keiner, der es mit dem Schreiben ernst meint, nur gut von den Lesenden denken. Gleich mehrfach ruft E.T.A. Hoffmann im Vorwort zu den "Elixieren des Teufels" den "günstigen Leser" an, und ich vermute, daß diese Anrede, daß das zutrauliche "Du", das sie begleitet, auch eine Schattenseite einschließt. Der Schriftsteller, der da so heiß um die Gunst seines Publikums wirbt, hat wohl auch einen kalten Begriff davon gehabt, wie die Mißgunst mit einem Buch verfahren kann.


    Mißgünstig zu lesen war mir noch fremd, als mir im Vorfeld der Pubertät die Prosa E.T.A. Hoffmanns in die Hände fiel. Allerdings war die junge Sonne meiner Wahrnehmung so stark, daß ich vernichtend zu lesen vermochte. Das meiste, was mir vor Augen kam, verbrannte meine Lesegier zu einer Asche, deren einziger Restsinn darin bestand, den Acker neuer Lektüren zu düngen. Die seltenen Momente jedoch, in denen sich ein Text zum zweiten Mal als lesbar erwies, waren beglückend. Und ohne einen Gedanken auf die Mittäterschaft meiner Phantasie, auf das komplexe Wunder erneuter Teilhabe, zu verschwenden, glaubte ich in einem primitiv-magischen Sinne, daß solche Bücher paradiesische Früchte seien, die man stets aufs neue ausquetschen könne, weil irgendwann einmal unendlich viel Saft in sie hineingepreßt worden sei.


    Inzwischen denke ich anders vom Lesen und von Büchern. Erneut haben mich die "Elixiere des Teufels" hingerissen, aber nicht zuletzt deshalb, weil ich erstmals bemerkte, wie in ihnen der Dämon der Geltungssucht umgeht. Wie kein zweiter Text Hoffmanns ist dieser Schauerroman auf Wirkung angelegt. Mit ihm will der Autor endlich den ersehnten Coup beim schon damals überwiegend weiblichen Lesepublikum landen. Dafür zieht er alle Register des Genres, läßt kein Klischee und keinen Effekt aus. Ja, er verfällt sogar auf die kuriose Idee, jenen Bestseller, nach dessen Erfolg er schielt, M. G. Lewis' "Der Mönch", als Buch im Buch auftauchen zu lassen.


    Hoffmanns Held und Erzähler, der sündige Kapuzinermönch Medardus, ist ein erfolgslüsterner Wortkünstler, schon als Knabe weiß er mit seinem Erzählen zu bezaubern, als junger Prediger entlockt er den Kirchgängerinnen wollüstige Seufzer, und seine Schandtaten bringt er mit verführerischer Sprachmacht auf den Weg. Am Ende noch, scheinbar schuldgebeugt, steht er als der Verfasser seines Lebensberichts vor den becircten Lesern im eitlen Licht siegreicher Autorschaft. So raffiniert werden die Geltungssucht eines hochbegabten Wortmenschen und die allerbanalste Geilheit eines x-beliebigen Mannes in der Erzählung des Medardus ineinander verflochten, daß es einen genialen Friseur braucht, um diesen monströsen Zopf zu bändigen. Und E.T.A. Hoffmann ist Meister genug, uns diesen Haarkünstler, den ironischen Herrn maskuliner Lüsternheit, als Figur zu liefern. Bei meiner letzten Lektüre schien mir der kleinwüchsige Friseur Pietro Belcampo alias Peter Schönfeld, der Medardus zweimal das Leben rettet und dessen Rede mit abgründiger Humanität und radikaler Geistigkeit zu bezaubern weiß, die größte Gestalt des Buchs und ein bei aller Exaltiertheit wunderbar diskreter Wiedergänger seines Verfassers.


    Am Schluß des Romans läßt Hoffmann über ihn sagen, "des Peters Licht sei im Dampf der Narrheit verlöscht, in die sich in seinem Innern die Ironie des Lebens umgestaltet". Dies ist nur eine von vielen Stellen, an denen das heute zuschanden gekommene Wort "Ironie" noch im schönsten Ehrenkleide auftreten darf. Ach, wie maßlos mißgünstig müßte derjenige Leser sein, der dem Autor nicht allein hierfür alles - selbst das geilste Schielen nach Geltung! - mit dem Wenden der letzten Seite verziehe.


    Von Georg Klein, Jahrgang 1953, erschien zuletzt der Roman "Barbar Rosa".


    Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.2002, Nr. 116 / Seite 45

  • Das einzige, was gegen eine Aufnahme des "Zauberbergs" in diesen Kanon spricht, ist dessen Vorläufigkeit. Wenn die Menschheit überleben wird, wird sie ins All aufbrechen, und so kann hinter jedem Kanon nur die Idee der gepflegten Bibliothek an Bord eines Sternenkreuzers des fünften Jahrtausends stehen. Welche Sprache man dort sprechen wird, weiß ich nicht, wohl eher nicht Deutsch. In der Abteilung für "irdische Literatur der Frühzeit" werden Bücher aus vielen Dialekten, die uns heute noch als verschiedene Sprachen erscheinen, nebeneinander stehen. Diese Bücher werden sich alle durch etwas Universales auszeichnen - durch die Darstellung des Umstands, daß auf Erden "nicht jedem jede Geschichte passiert" ist. Das ist das Geheimnis jener gestaltenden Empathie, jenes Tons grundlegenden, im "Zauberberg" sich ausfaltenden Mitgefühls, den Thomas Mann der Welt geschenkt hat.


    Man schreibt selbst. Eine sehr schöne Sache, aber vernünftigerweise rechnet man nicht damit, daß jemals auch nur ein einziger Satz aus den archäologisch gesicherten Datenmeeren in den Speichern des Raumschiffs geborgen werden wird. Aber wenn doch, dann würde es mir genügen, daß mein ferner Enkel von den Sternen darin erfährt, daß sein irdischer Vorfahr den "Zauberberg" geliebt hat.


    Steffen Kopetzky, Jahrgang 1971, veröffentlichte zuletzt den Roman "Grand Tour oder die Nacht der großen Complication".


    Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.2002, Nr. 116 / Seite 47

  • Gerade habe ich es noch einmal gekauft, "Unterm Rad", um es zwanzig Jahre nach der ersten Lektüre wieder zu lesen, damit ich ein kompetentes Urteil fällen kann, ob das Buch meiner Ansicht nach in den Kanon gehört. Gleichzeitig liegt ein wegen der Pfingstfeiertage verfrüht erschienenes Nachrichtenmagazin vor mir, daß "die 100 besten Bücher aller Zeiten" kennt, ausgewählt von hundert lebenden Schriftstellern.


    Vor zwanzig Jahren befand ich mich in einem katholischen Jungeninternat am Niederrhein, war fünfzehn und so unglücklich, daß ich am liebsten gestorben wäre. Das Internatsgelände durfte nur zweimal pro Woche verlassen werden; wer eins der zahllosen Verbote übertrat, verbrachte den nächsten Tag, je nach Jahreszeit, Staub, Blätter oder Schnee fegend; es gab nirgends ein Mädchen, das mich hätte lieben können. Ein älterer Mitschüler drückte mir damals "Unterm Rad" in die Hand und sagte: "Lies das, es erzählt, wie es hier ist." Er hatte recht. Obwohl "Unterm Rad" bereits 1903 erschienen war und in einem schwäbisch-protestantischen Internat spielte, sprach es von uns. Es beschrieb denselben Terror seitens der Kleriker, Erzieher, Lehrer, dieselben Verzweiflungen von Schülern, die sich trotzdem untereinander brutal quälten, statt eine Revolution zu wagen. Ich habe es verschlungen, danach einen Hesse-Roman nach dem anderen gelesen, als ich alle kannte, wieder von vorn angefangen und den Jüngeren, die zerbrechen wollten, seine Bücher ans Herz gelegt, damit auch sie schwarz auf weiß sehen konnten, daß wir nicht die ersten waren, die diese Art Vorhölle durchlebten.


    Bei den hundert Büchern des Nachrichtenmagazins wird "Unterm Rad" nicht genannt. Überhaupt nichts von Hesse. Wahrscheinlich ist das unter rein literarischen Rücksichten richtig, zumal es sich dort ja auch um eine Liste der gesamten Weltliteratur und nicht um die wichtigsten deutschen Texte handeln soll.


    Achselzuckend überfliege ich die ersten zwei Seiten meines neuen "Unterm Rad"-Bändchens, und merke, daß es mich gegenwärtig überhaupt nicht interessiert. Ich werde die Geschichte ruhen lassen und in guter Erinnerung behalten.


    Dann schaue ich noch einmal die Liste der hier besprochenen, von Marcel Reich-Ranicki kanonisierten Bücher an, danach die der "100 besten". Das Buch, das mich in meinem Leben am meisten bewegt hat, das, von dem ich irgendwann mindestens drei Sätze pro Seite auswendig können möchte - die "Jahrestage" von Uwe Johnson -, kommt hier wie dort nicht vor. Vier meiner fünf Lieblingsbücher sind in keiner der zur Zeit so beliebten Listen aufgetaucht. Ich kann mir das nicht erklären, ärgere mich maßlos und denke: Diese Kanones sind nichts anderes als Einrichtungsvorschläge für Bücherschränke von Leuten, die keine Zeit haben, ihre eigene Abenteuerreise des Lesens zu machen. - Hoffentlich ist die neue Ausgabe schön gebunden.


    Von Christoph Peters, Jahrgang 1966, erschien zuletzt der Erzählungsband "Kommen und gehen, manchmal bleiben".


    Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.2002, Nr. 116 / Seite 47

  • "Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten" hat Musil die "Verwirrungen des Zöglings Törleß" einmal genannt. Und man denkt tatsächlich, man hat da eine ganz einfache Geschichte vor sich. Musil behauptete sogar, er habe das Buch nur aus Langeweile geschrieben, nachmittags während seiner Zeit als Ingenieur in Stuttgart. Aber vielleicht hat er es nicht wahrhaben wollen, wie leicht Schreiben sein kann, vor allem, wenn man zweiundzwanzig ist und gerade damit anfängt. Trotz der erzählerischen Stringenz fällt einem das eigentümliche Raunen, der vage, nebulöse Ton auf, in dem Musil seine Figur umkreist. Nicht nur die Nähe zum autobiographischen Material mußte vertuscht werden, es ging auch um den kraftraubenden Akt der fortwährend mit dem Erzählen verbundenen Selbstanalyse.


    Da sind die starken, militanten und hochbegabten, sadistischen k.u.k. Kadetten, die das Realitätsprinzip verkörpern, und ihnen gegenüber die deformierten und erstarrten Instanzen des Ich. Der masochistische Basini, devot, handlungsunfähig, und Törleß, der überwache und gleichzeitig von dunklen Ahnungen heimgesuchte Beobachter, der zwischen Innen- und Außenwelt ständig hin- und herschwankt. Das Sexuelle und Organische spielt sich draußen ab. In der Anstalt ist es funktionalisiert, Teil der verhaßten sozialen Wirklichkeit, die Musil nicht erträgt. Rückzug und Verweigerung sind nicht erlaubt. So gesehen ist die militärische Erziehungsanstalt, die durchorganisierte Welt männlichen Technokratentums für Musil auch die Vorbereitung einer Flucht gewesen. Aber auch in der Kunst werden Gehorsam und totale Unterwerfung verlangt. Ohne die Naivität und Unbekümmertheit des "Törleß" steuert der "Mann ohne Eigenschaften" geradewegs in einen Zustand der Verdichtung hinein, in der es kein Vor und Zurück mehr gibt.


    In seinem ersten Buch hat Musil seinen Perfektionismus noch im Griff. Noch verhindert die Wucht und Unmittelbarkeit des Erlebten, daß er allzuviel konstruiert und plant. Es überwiegt der Eindruck der Leerstelle, des Unklaren, Mysteriösen und Offenen. Und die ganzen Verrätselungen und scheuen Blicke nach innen, die hektischen Blicke auf die Homosexualität, das Verzweifeln an der Freundschaft als bloßer Zwangsgemeinschaft und all die Verzierungen und Schlenker des Bewußtseins, das ganze dröhnende hilflose unartikulierte Gefühl der Hauptfigur ziehen den Leser an, holen ihn in diese Anstalt hinein, zu der "kleinen Station an der Strecke, welche nach Rußland führt". Und vielleicht liegt es daran, daß aus Musil kein Thomas Mann geworden ist. Sein Anspruch und seine Skrupel als Erzähler waren zu groß, und er hätte tatsächlich ein Bürokrat sein müssen, ein Anstaltsleiter seiner selbst, der mit tausend Wörtern am Tag auf seine eigenen Verweigerungsphantasien einschlägt.


    Von Rainer Merkel, geboren 1964, erschien im vergangenen Jahr der Roman "Das Jahr der Wunder".


    Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.2002, Nr. 116 / Seite 47

  • Daß einer wie Josef K. immer wieder um den möglichen Ort seiner Verurteilung kreist, ihn betritt und inwendig bis ins äußerste Detail erforscht, ohne die Zuständigkeit dieses Gerichts an seiner Person zu bezweifeln, ja, eine solche Zuständigkeit zu verneinen, sie mindestens zu entziehen, das alles ließ schon so manchen vermuten, Kafka mache in diesem Labyrinth des Gesetzes sich selbst und wenigstens seiner Sprache, vielleicht gar metaphysischen Glaubens- und Denkmodellen den Prozeß.


    Doch so hoch ich den vermeintlichen Anspruch Kafkas auch hänge, das entstandene Werk überschattet ihn leicht, weil es ihn um Welten überragt. Welten nämlich entstehen ganz sicher nicht in Denkmodellen, auch nicht in Theorien, an denen ein Leser die eigene Schläue überprüfen will, sondern einzig in einer solchen Geschichte und in den Zwischenräumen ihrer durch und durch porösen Struktur. Besonders geliebt hat Kafka den Zwischenraum in Form des Telefons. Stimme. Das Telefon war 1914 ein noch moderner und kostbarer Gegenstand, der keineswegs zum Plaudern verwendet wurde. So konnte sich das Wort telefonieren erst im zwanzigsten Jahrhundert etablieren, und Kafkas Texte gehören zu den ersten, die das Telefon und das Telefonieren in der Literatur erscheinen lassen. Als Josef K. von seiner Verhaftung erfährt, bittet er darum, telefonieren zu dürfen. Er möchte den Staatsanwalt Hasterer, einen guten Freund, anrufen. Doch schon mit der Frage um Erlaubnis erkennt er seine Verhaftung an und gesteht seinen Wächtern Franz und Willem zu, nach dem Sinn eines solchen Unterfangens zu fragen. "Welchen Sinn?" rief K. mehr bestürzt als verärgert.


    Noch ereifert er sich über die Sinnfrage der Wächter, verzichtet aber, halb beleidigt, halb von der Sinnlosigkeit überzeugt. Und allein diese Hörigkeit, denn um eine solche handelt es sich wohl eher als um bloße Ohnmacht, verhindert dem Leser einen Einblick in die Beschaffenheit der angeblichen Freundschaft zwischen dem Verhafteten Josef K. und dem Staatsanwalt Hasterer. Zweifelhaft bleibt diese Verbindung bis zuletzt, als der Bankdirektor und Arbeitgeber Josef K. mit einer gewissen Sorge mitteilt, er habe ihn am Vorabend Arm in Arm mit dem Staatsanwalt Hasterer die Straße entlanglaufen sehen.


    Und für diese Augenblicke der Sorge um K.s Wohl liebt K. seinen Direktor. Die Dreh- und Wendbarkeit von Zuständigkeit und Sorge, unmittelbar und über Bande, eine Zuständigkeit, die ganz sicher nicht nur die genannten Figuren, sondern auch die durch sie vorgestellten gesellschaftlichen Zusammenhänge zwischen Gesetz, Repräsentant und Subjekt meint - gehört für mich zur unbestrittenen Meisterschaft Franz K.s, der K. zum Wächter einen Franz bestellt und sich selbst einen Prozeß macht, dem er zugleich Herr und Opfer wird. Schrift, Schreiber und Beschriebener. Er vollendete einen Roman, ohne ihn jemals beendet zu haben.


    Von Julia Franck, Jahrgang 1970, erschien zuletzt der Erzählband "Bauchlandung".


    Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.2002, Nr. 116 / Seite 47

  • Es gibt Bücher wie Häuser, die kann man abschreiten und bestaunen, auch wenn man nicht in ihnen wohnen wollte, weil sie zu groß sind: zu viele Etagen, Kellerräume, verborgene Kammern, zu viele Untermieter, die ich mir nicht alle merken möchte.


    Aber ihre Größe ist unbestreitbar. "Berlin Alexanderplatz" ist so ein Buch. Es ist grenzenlos, es saugt Berlin und die Welt in sich auf, öffnet ständig neue Türen und jagt den Franz Biberkopf hindurch. Mal ist er obenauf, mal kriecht er am Boden, ein Hiob, einer, dem alles durch die Finger rinnt und der doch vom Leben mehr verlangt als das "Butterbrot". Also rennt er ihm hinterher, wird gestraft, gestoßen, rappelt sich hoch, gerät unter Gesindel, verliert seinen Arm und seine Geliebte. Um ihn her dröhnt das hemmungslose, zerfasernde, pulsierende Berlin, das auf ihn eindrischt mit seinem Lärm, seinen Schildern und Reklamen, seinen Liedern, seinen Sprüchen, Zeichen, Gesprächsfetzen. Das ist sein Haus, aber es ist zu groß, er hat keinen Schlüssel, weil es wohl keinen gibt oder zu viele. Und dennoch steht ein Architekt dahinter, der uns den Franz B. vorführt als einen Jedermann in einem moralischen Gleichnis, das auf uns alle zutrifft. Diese barocke Gewißheit über die rechte Lebensführung, die allwissende Zuversicht, mit der Überschriften gesetzt, Chaos gebündelt und Lebensläufe bilanziert werden, mutet eigentümlich unumstößlich an in einem Buch, das doch der Auflösung des einzelnen hinterherschreibt. Unersättliches Lehrstück, futuristischer Bänkelsang, Montage und Moritat - so lebt unser ganz dicker, ganz lieber einarmiger Franz Biberkopf, Biberköpfchen.


    Von Annette Pehnt, Jahrgang 1967, erschien der Roman "Ich muß los".


    Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.2002, Nr. 116 / Seite 45

  • "Tauben im Gras" ist das Buch, das lange vor der Verhübschung spielt. Was uns, den Nachgeborenen, immer wieder als das westdeutsche "Wunder", das Nachkriegs- und Wiederaufbauwunder, als "Neuanfang" erzählt wurde, steht hier ein bißchen weniger geschönt.
    Koeppen montiert uns einen großen pandämonischen Tag, läßt uns über Ruinen und durch die Köpfe der Menschen gleiten. In einem zornigen, trauernden Rausch hat er all das aufgehoben, wovon uns, später, nur noch alte Tanten erzählen konnten. Daß sie - und das galt dann als Familientragödie - das Familiensilber, das Fischbesteck versetzen mußten. Und nach und nach alle anderen Familienschätze. Unsere alten Tanten und ihre Männer sind hier junge Frauen und eben aus der Gefangenschaft heimgekehrte Soldaten. In auf Trümmergrundstücken errichteten Holzhütten jagen "der Ostfrontmann", "der Rommelsoldat" und "der Gebirgsschütze" ihren Kriegsgeschichten hinterher. Noch steht nicht alles auf Anfang. Der Krieg ist aus, aber noch nicht vorbei; eine Mutter muß für "den Jungen sorgen, sein Vater lag an der Wolga, vielleicht ertrunken, vielleicht begraben, verschollen in der Steppe, kein Gruß mehr nach Stalingrad". Und Zuhause in Trümmern. Die zerstörte Stadt, obwohl wir wissen, daß es München ist, wirkt seltsam eigenschaftslos, könnte auch eine andere sein. Zerstörte Städte ähneln sich. "Die Ruinen", heißt es, "waren wie ein Totenfeld, außerhalb jeder Wirklichkeit des Abends, waren Pompeji, Herkulaneum, Troja, versunkene Welt."


    Dann aber wird "aufgeräumt, geordnet, verpflastert, schon wieder hergestellt und grade daher so schrecklich, so hinfällig: es war nie wieder gut zu machen" - darf ein durchfahrender Amerikaner denken.
    Uns haben geordnet gealterte Neubaufassaden diesen gespürten Schrecken aufgehoben, die wie aus traurigen Augen blickenden Aufbau-Häuser. Ansonsten konnten uns, den Nachgeborenen, nur noch ältere Tanten und letzte Trümmergrundstücke von der versunkenen Welt, dem Troja, der Schicht unter uns, erzählen. Wenn bald, es kann nicht mehr lange dauern, die letzte alte Tante tot ist und wenn auch das letzte Trümmergrundstück zugebaut ist - mit einem Haus, einer Replik, die so tun möchte, als hätte es nie einen Krieg gegeben -, dann bleiben doch die auf so sonderbare und ehrliche Weise wütend traurigen "Tauben im Gras".


    David Wagner, Jahrgang 1970, veröffentlichte zuletzt den Roman "Meine nachtblaue Hose".


    Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.2002, Nr. 116 / Seite 47

  • Natürlich kann ich unterschreiben, daß "Montauk" ein gutes und wichtiges Buch ist, ein Buch, das zu lesen sich lohnt, das ich selbst mehr als einmal gelesen habe. "Frisch fährt nach Amerika und läßt die Hosen runter", so oder ähnlich soll Dürrenmatt "Montauk" beschrieben haben und hatte damit wohl gar nicht unrecht. Aber vielleicht ist das Buch gerade deshalb Frischs bestes. Weil es viel unverkrampfter ist als seine anderen, viel weniger gewollt und - nicht zuletzt - viel dünner. Und doch: Wie könnte ich, wie kann irgend jemand behaupten, "Montauk" gehöre zu den zwanzig wichtigsten Romanen deutscher Sprache, gehöre auf eine Liste auf der - um nur drei zu nennen - Jeremias Gotthelf, Jean Paul, Adalbert Stifter fehlen? Eine Liste der zwanzig wichtigsten deutschsprachigen Romane ist so sinnvoll, wie eine Liste der fünfzig schönsten Deutschen oder der zehn besten Pizzerias in Rom.


    Wir müssen uns damit abfinden, daß fast alle von uns fast alle Bücher nicht gelesen haben, daß es niemanden gibt, der wirklich einen Überblick hat über die deutsche Literatur. Und daß, welche Bücher wichtig sind, sich ohnehin immer nur für einen Menschen sagen läßt. Von diesem Menschen selbst.


    Was soll ein Kanon? Wirkliche Leser finden ihre Bücher auch ohne Listen. Wer, der mehr als hundert Bücher gelesen hat, wäre nicht irgendwann auf Thomas Mann gestoßen? Und wer, der den "Grünen Heinrich" geliebt hat, interessiert sich dafür, ob irgendein Gremium ihn für bedeutend hält? Aber vielleicht wird der Kanon ja für Nichtleser erstellt. Nicht um sie zum Lesen zu bringen, sondern um ihnen das beruhigende Gefühl zu geben, die deutsche Literatur lasse sich unter einem Arm nach Hause tragen. So wie Nichtreisende sich einbilden können, Paris lasse sich in drei Tagen Pauschalurlaub erobern. Die Welt - auch die Welt der Bücher - ist zu groß, zu schön, zu bunt für pauschale Urteile. Gute Kritiker, wahre Leser interessieren sich nicht für Listen. Sie zählen keine Bücher. Sie lesen. Und warum nicht wieder einmal "Montauk" von Max Frisch.


    Von Peter Stamm, Jahrgang 1963, erschien zuletzt der Roman "Ungefähre Landschaft".


    Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.2002, Nr. 116 / Seite 45

  • Marcel Reich–Ranicki und der deutsche Literaturkanon


    Am heutigen Mittwoch stellt Marcel Reich-Ranicki in Frankfurt seine Edition „Der Kanon. Die deutsche Literatur“ vor. Eingeladen wird zu der Veranstaltung ins Suhrkamp Haus mit diesem einen Satz des berühmtesten deutschen Literaturkritikers aller Zeiten: „Der Verzicht auf einen Literaturkanon ist in einer zivilisierten Gesellschaft unvorstellbar, er wäre ein Rückfall in Beliebigkeit und Willkür und schließlich in Barbarei.“ Unter diesem Satz stehen die Namen von sechs Verlagen, die Werke aus ihren Programmen für diese Edition zur Verfügung gestellt haben, vom Aufbau Verlag über Fischer bis zu Rowohlt. Und auf der Rückseite sind die Namen von achtzehn Dichtern und die Titel von zwanzig Büchern aufgelistet, aus denen diese Edition bestehen soll: Sie reicht von Johann Wolfgang Goethe, der für diese Edition die „Leiden des jungen Werthers“ und die „Wahlverwandschaften“ geschrieben haben soll, bis zu Thomas Bernhards „Holzfällen“. Zusammen bilden diese Bücher die kürzeste Geschichte der deutschen Literatur, von der man je gehört hat.


    Angst vor dem ungelesenen Buch


    Wir wollen hier nicht darüber richten, dass der große Satz des berühmtesten deutschen Literaturkritikers einen schlichten Widerspruch in sich selbst darstellt: Zuerst heißt es, der Verzicht auf den Kanon sei „unvorstellbar“, und dann hat man sich vorzustellen, wie dieser Verzicht aussähe. Wir wollen uns ferner nicht damit aufhalten, dass jede der Behauptungen, die in diesem Satz aufgestellt werden, historisch falsch ist: Seit der Erfindung der Schrift hat noch keine Gesellschaft auf einen literarischen Kanon „verzichtet“, wie immer er ausgesehen haben mag. Einen „Rückfall“ in einen Zustand ohne Kanon kann es also nicht geben. Umgekehrt aber war offenbar bisher noch kein literarischer Kanon, nicht einmal der stabilste, also der über zweitausend Jahre geltende Kanon der griechischen und römischen Klassik, in der Lage, irgendeine „Barbarei“ aufzuhalten. Und wir wollen uns schließlich nicht über den möglicherweise geschäftstüchtigen, ansonsten aber von sehr viel „Beliebigkeit“ und „Willkür“ getragenen Einfall mokieren, einen Kanon der Literatur deutscher Sprache zu präsentieren, der aus genau einem Roman des achtzehnten Jahrhunderts, fünf Romanen des neunzehnten und vierzehn Romanen des zwanzigsten bestehen soll – und weder Lyrik noch Dramatik sind irgendwo in Sicht.


    Nein, wir wollen uns mit der von Marcel Reich-Ranicki geschürten Angst vor dem ungelesenen Buch beschäftigen. „Kanon oder Verwahrlosung“ lautet seine Drohung, und zu diesem Zweck inszeniert er uns den Untergang des Abendlandes auf der ganz großen Bühne. Von dort oben wirft Marcel Reich-Ranicki, die gigantische Gestalt, seinen Schatten über die ganze Republik – und während die deutsche Familie noch verschreckt unter dem Küchentisch hervorlugt, stößt er seine wilde Drohung aus: „... ein Rückfall in Beliebigkeit und Willkür und schließlich in Barbarei“. Wie man aber weiß – und wie man an dem vielen Unfug, der in diesem einen Satz steckt, erkennt –, können solche Bühnengestalten furchterregend aussehen und entsetzlichen Radau machen. Sie müssen deswegen aber nicht zu den Leuchten des dramatischen Faches gehören. Und manchmal verwechseln sie die große Bühne, auf der die letzten Tage der Menschheit dargeboten werden sollen, mit einer Jahrmarktsbude, vor der ein Hallodri seine Haarwässerchen anbietet.


    Mein Liebling, der Weltgeist


    Manchmal aber verbirgt sich in einem Schreckensboten ein liebes, treues, harmloses Herz. Vielleicht ist das auch in diesem Fall so, und Marcel Reich-Ranicki ist aus lauter Zuneigung zur Literatur ins falsche Genre gerutscht – immerhin hat derselbe Mann die „Frankfurter Anthologie“ der deutschsprachigen Lyrik geschaffen und nun schon über fünfundzwanzig Jahre betreut, immerhin wird derselbe Kritiker in diesem Jahr den Goethe-Preis erhalten. Vielleicht hat er aus lauter Leidenschaft seine Lieblingsbücher mit einem Urteil des Weltgeists verwechselt und seinen privaten Geschmack für große Geschichtsphilosophie gehalten.


    Und vielleicht hat er sich nur deshalb an ein paar alte, einst sehr populäre Gegensatzpaare wie „Sozialismus oder Barbarei“ (Rosa Luxemburg während der Novemberrevolution im Jahr 1918) oder „Freiheit oder Sozialismus“ (Helmut Kohl gegen Helmut Schmidt im Wahlkampf 1976) erinnert, weil er eigentlich etwas anderes sagen wollte. Irgend etwas Schlichtes, Kaufmännisches, Marketingmäßiges, aber mit großem Nachdruck Vorzutragendes wie „alle Mann mir nach“ oder „Nimm zwei“ oder „Wir machen den Weg frei“. Mag sein, mag sein. Aber auch in einem solchen Fall hat der Satz diesen unangenehm drohenden Ton, und auch in diesem Fall klingt er so, als wolle da einer den Gehorsam des deutschen Lesevolkes auf die Probe stellen. Deshalb erscheint uns die Idee, den Kanon der deutschsprachigen Literatur auf zwanzig Romane zu reduzieren und das so geschnürte und mit dem Aufdruck „Marcel Reich-Ranicki“ bedruckte Paket mit der Drohung verscherbeln zu wollen, ohne ihre Lektüre erwarte uns der Absturz in die intellektuelle Bedeutungslosigkeit, als reichlich unseriös. Dass die Edition „Der Kanon. Die deutsche Literatur“ und die Barbarei eine Alternative sein sollen – das will uns partout nicht einleuchten.


    THOMAS STEINFELD, Süddeutsche Zeitung am 22.05.2002

  • Gesehen in: Berliner Morgenpost, 27. Mai 2002


    «Literatur ist vor allem ein Spiel»


    Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki über seinen Kanon, Romanautorinnen und DDR-Schriftsteller


    Der «Papst» unter Deutschlands Literaturkritikern, Marcel Reich-Ranicki, hat einen Kanon der deutschen Literatur zusammengestellt, der kassettenweise im Buchhandel erhältlich sein wird. Bereits die in der vergangenen Woche vorgestellte Liste der 20 Romane hat heftige Diskussionen ausgelöst. Über den Kanon und die Reaktionen sprach Uwe Wittstock mit Reich-Ranicki.


    Was berechtigt Sie, den Kanon der deutschen Literatur zu formulieren?


    Marcel Reich-Ranicki: Ich habe diesen Kanon gemacht, weil ich den Auftrag der Verlage dazu erhalten habe. Das ist eine Auftragsarbeit, aber eine, die mir, ich gebe es zu, viel Freude bereitet hat. Natürlich ist der Kanon, dessen ersten Teil ich jetzt vorgestellt habe, das Ergebnis einer lebenslangen Beschäftigung mit der deutschen Literatur. Für den Entwurf des Romanteils habe ich aber nur knapp zwei Stunden gebraucht. Ich habe später über einzelne Titel länger nachgedacht und den einen oder anderen ausgetauscht. Doch ich war selbst verblüfft, dass ich aus dem Stand über alle wesentlichen deutschen Romane verfüge.


    Schadet ein Kanon nicht mehr als er hilft?


    Nein, ich bin überzeugt, dass ein Kanon hilft und überhaupt nicht schadet. Der Kanon ist nicht als Anweisung oder Dekret gedacht, sondern lediglich als Vorschlag und Empfehlung. Niemandem wird nahegelegt, sich nach dem Kanon zu richten, allen wird die Möglichkeit gegeben, von ihm zu profitieren. Ich hoffe sehr, dass Lehrer und Studenten von ihm Gebrauch machen. Aber es ist nicht ein Kanon für Fachleute, sondern für Leser. Diejenigen, denen ein Kanon überflüssig oder gar schädlich vorkommt, werden das Selbstverständliche tun: Sie werden ihn ignorieren.


    Die Romane sind nicht die stärkste Disziplin der deutschen Literatur. Warum zuerst der Roman-Kanon?


    Zunächst einmal: Das Originellste, was die deutsche Literatur zu bieten hat, ist nach meiner Überzeugung die Lyrik. Die Reihenfolge der fünf Gruppen meines Kanons, erst Romane, dann Dramen, Essays, Gedichte und schließlich Erzählungen, ist nicht zufällig, hat aber auch nichts mit der Bedeutung der Gattungen zu tun. Wir wollten noch in diesem Herbst beginnen, und der Romankanon ließ sich am schnellsten machen. Deshalb haben wir mit ihm begonnen.


    Warum haben sie keine Romane der Romantik aufgenommen? Von Friedrich Schlegel zum Beispiel, den Sie sonst so oft zitieren?


    Schlegels «Lucinde» ist, darüber waren sich alle denkenden Menschen gleich einig, ein völlig misslungenes Buch. Es gibt Autoren und Werke, die im Germanistikstudium unbedingt berücksichtigt werden sollten, die aber in einem Kanon für Leser nicht nötig sind. Gar kein Zweifel, dass Wieland, Ludwig Tieck und erst recht Jean Paul hochbeachtliche Romane geschrieben haben. Die Beschäftigung mit ihnen aber sollte man doch eher den Germanisten überlassen.


    Sie sagen häufig, Romane sollten auch spannend sein. Warum haben sie dann den «Grünen Heinrich» aufgenommen statt gleich Stifters «Nachsommer»?


    Ich glaube, dass unter den 20 Romanen meines Kanons sehr spannende sind. Zugegeben, dies ist nicht der hervorstechende Zug des «Grünen Heinrich». Aber das Buch ist lebendiger und interessanter als Stifters «Nachsommer».


    Die auffälligste Leerstelle ihres Kanons betrifft Robert Musil. Warum empfehlen Sie seinen «Törleß», nicht aber seinen ungleich berühmteren Roman «Mann ohne Eigenschaften»?


    Recht haben Sie, der «Mann ohne Eigenschaften» ist sehr berühmt, aber - davon habe ich mich im vergangenen Jahr überzeugt - nahezu unbekannt.


    Dem könnten Sie abhelfen, indem Sie ihn in den Kanon aufnehmen?


    Es ist nicht mein Wunsch, dem abzuhelfen. Ich glaube, dass es ein gänzlich missratener Roman ist, der im Kanon nichts zu suchen hat.


    Sind Sie tatsächlich der Meinung, nur ein einziger Roman einer deutschen Autorin sei lesenswert - Anna Seghers «Siebtes Kreuz»?


    Ja.


    Ist das Ihr Ernst?


    Von Annette von Droste-Hülshoff, einer großen Dichterin, gibt es keine Romane. Von Else Lasker-Schüler auch nicht. Ich schätze sehr Ricarda Huch, aber ihre Romane sind verblasst. Christa Wolf ist in meinen Augen eine weit überbewertete Autorin, deren wichtigstes Buch, «Nachdenken über Christa T.», einst von mir nachdrücklich gelobt, sich ganz und gar überlebt hat.


    Ein Kanon im Suhrkamp-Verlag ohne die Suhrkamp-Starautoren Handke, Walser und Johnson?


    Ich habe nicht Bücher von Verlagsautoren für den Kanon ausgewählt, sondern von Schriftstellern. Glücklicherweise haben mir die Verlage unbegrenzte Vollmacht erteilt. Ein konkretes Beispiel: Selbstverständlich wird in diesem Kanon Martin Walser repräsentiert sein, in dem Band mit den Essays und wahrscheinlich auch in dem Band mit den Geschichten. Aber einen Roman von Walser mit der für den Kanon nötigen Qualität sehe ich nicht.


    Haben Sie die Literatur der DDR glatt vergessen?


    Ich habe überhaupt nichts vergessen. Man hat verschiedene Romane genannt, die von mir nicht berücksichtigt wurden, aber unter allen diesen Romanen gibt es keinen einzigen, den ich übersehen hätte.


    Auch nicht Jurek Beckers «Jakob der Lügner»?


    Es trifft zu, dass ich keinen einzigen in der DDR geschrieben Roman kenne, der sich für den Kanon geeignet hätte. Aber deshalb habe ich die Literatur der DDR keineswegs übersehen: Vergessen Sie nicht, dass beispielsweise Peter Huchel, Franz Fühmann, Sarah Kirsch, Wolf Biermann oder Heiner Müller keine Romane geschrieben haben. Bin ich schuld daran, dass die in der DDR entstandenen Romane von Anna Seghers allesamt sehr schwach sind? Beckers «Jakob der Lügner» ist ein Roman, über den ich mir sehr wohl Gedanken gemacht habe. Ein schönes Buch, wenn man dies bei seinem ernsten Thema sagen darf. Aber den literarischen Wert, den etwa die ausgewählten Romane von Koeppen, Max Frisch, Grass oder Thomas Bernhard haben, hat dieser Roman nun doch nicht.


    Warum keine neueren Romane?


    Es gibt eine Anzahl von Romanen, die in den letzten vierzig Jahren erschienen sind, die uns vor den Hintergrund ihrer Zeit sehr beeindruckt haben. Nur sind diese Romane meist rasch verblasst. Der Kanon gibt meine persönliche und darüber hinaus eine heutige Sicht wider. Es ist sehr gut möglich, dass eine spätere Generation auf andere Titel zurückgreift. In einem Dramenkanon aus dem Jahre 1890 wäre mit Sicherheit kein Stück von Georg Büchner zu finden, heute ist ein Dramenkanon ohne Büchner unvorstellbar. Thomas Mann hat einmal gesagt, die Literatur sei «ein Spiel tiefsten Ernstes». Diese Formulierung gefällt mir sehr. Ich bin tatsächlich überzeugt, dass die Literatur vor allem ein Spiel ist - und jeder Kanon ebenfalls ein Spiel.


    Werden Ihnen Ihre Erfolge der letzten Zeit nicht unheimlich?


    Sie haben recht, ich kann mich nicht beschweren und nicht beklagen. Wenn Sie aber befürchten, dass ich mich unentwegt in meinen Erfolgen sonne und mich dem absoluten Größenwahn nähere, dann kann ich Sie beruhigen. Es wird kontinuierlich dafür gesorgt, dass ich mit den Füßen auf der Erde bleibe. Die sich darum menschenfreundlich kümmern, sind meine leider sehr zahlreichen Feinde, zu denen vor allem jene Autoren gehören, die mir im Grunde nur vorwerfen, dass ich Ihre Bücher noch nie besprochen habe. Sie hören nicht auf, mich zu beschimpfen, zu verspotten und anzuklagen. Es geht mir dennoch ganz gut. Sie kennen ja das schöne Wort von Heine, der Hass seiner Feinde dürfe als Bürgschaft gelten, dass er sein Amt nicht ganz schlecht verwalte.

  • Martin Walser hat einen neuen Roman geschrieben, sein Gegenstand ist die Vision der Ermordung eines jüdischen Großkritikers. Es ist nicht schwer zu verstehen, wer gemeint ist. In einem Offenen Brief begründet F.A.Z.-Feuilletonherausgeber Frank Schirrmacher, warum diese Zeitung das Buch nicht vorabdrucken wird.


    "Lieber Martin Walser, Ihr Buch werden wir nicht drucken


    Der neue Roman von Martin Walser: Kein Vorabdruck in der F.A.Z.


    Lieber Herr Walser,


    Ihr neuer Roman wird behandelt wie ein Staatsgeheimnis. Nur ein kleiner Zirkel von Eingeweihten kannte bisher den Inhalt. Mittlerweile kenne auch ich ihn. Nicht weil Rechercheure die Panzerschränke im Suhrkamp-Haus geknackt hätten. Sie selbst haben uns, unspektakulär genug, die Fahnen gegeben. Sie wünschen, daß Ihr neuer Roman, "Tod eines Kritikers", in dieser Zeitung vorabgedruckt wird. Sie legen Wert darauf, daß er hier und gerade hier erscheint.


    Ich muß Ihnen mitteilen, daß Ihr Roman nicht in dieser Zeitung erscheinen wird. Die Kritiker mögen entscheiden, wie gut oder wie schlecht dieses Buch unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit ist. "Auch ein schlechter Walser ist ein Ereignis", sagte einmal ein bekannter Redakteur.


    Ihr Roman ist eine Exekution. Eine Abrechnung - lassen wir das Versteckspiel mit den fiktiven Namen gleich von Anfang an beiseite! - mit Marcel Reich-Ranicki. Es geht um die Ermordung des Starkritikers. Ein Schriftsteller wird als Täter verdächtigt. Ein anderer, der Erzähler, recherchiert. Später erfährt man, daß beide ein und diesselbe Person sind. Am Ende die Aufklärung: Der Kritiker ist nicht tot, er hat nur tot gespielt, um sich mit seiner Geliebten zu vergnügen. Dazwischen eine Art Gesamtanalyse des Starkritikers, des literarischen Lebens unter Aufbietung halbverschlüsselter Figuren wie Joachim Kaiser und Siegfried Unseld. In Wahrheit aber: die Beschreibung eines Verhängnisses, das sich in André Ehrl-König alias Marcel Reich-Ranicki über die Literatur in Deutschland legt.


    Ehe Sie, lieber Herr Walser, mit den Begriffen Fiktion, Rollenprosa, Perspektivwechsel antworten - ich bin durchaus im Bilde. Ich bin imstande, das literarische Reden vom nichtliterarischen zu unterscheiden. Man hat mich unterrichtet, wie oft und wo überall in der modernen Literatur Kritiker gemordet werden.


    Doch die Burgtore des Normativen, der literarischen Tradition und Technik stehen Ihnen als Zuflucht nicht offen. Denn das alles wären ja nur Kategorien für ein "schlechtes" oder "gutes" Buch. Ich aber halte Ihr Buch für ein Dokument des Hasses. Und ich weiß nicht, was ich befremdlicher finden soll: die Zwanghaftigkeit, mit der Sie Ihr Thema durchführen, oder den Versuch, den sogenannten Tabubruch als Travestie und Komödie zu tarnen. Nicht wahr, Sie haben das "Schlagt ihn tot, den Hund, er ist ein Rezensent" nur wörtlich genommen?


    Werden Sie mir glauben, daß ich umgekehrt nun beginne, Sie wörtlich zu nehmen? Ihr Buch ist nichts anderes als eine Mordphantasie. Daß der Mord keiner ist, macht die wonnevolle Spekulation unangreifbar. "Habe allerdings keinen, der für mich tötet", sagt der Erzähler beispielsweise einmal. Und mehr als einmal fällt der Satz: "Eine Figur, deren Tod man für vollkommen gerechtfertigt hält, das wäre Realismus." Sie haben sich eine Art mechanisches Theater aufgebaut, in dem es möglich ist, den Mord auszukosten, ohne ihn zu begehen. Doch es geht hier nicht um die Ermordung des Kritikers als Kritiker, wie es etwa bei Tom Stoppard geschieht. Es geht um den Mord an einem Juden.


    Die Signale sind unübersehbar, und sie sind unheimlich. "Das Thema war jetzt", heißt es, "daß Hans Lach einen Juden getötet hatte." Das kommt so nebenbei, aber es ist Ihr Thema, es ist das Thema dieses Buches. Sie denken sich die Sache so richtig durch. Was würde das große Nachrichtenmagazin schreiben? "Wolfgang Leder erklärte scharf und genau, daß es von nichts als Antisemitismus zeuge, wenn die Ermordung eines Juden, wenn er denn einer gewesen sei, moralisch schlimmer geahndet werde als die Ermordung eines Nichtjuden. Philosemiten seien eben, wie bekannt, Antisemiten, die die Juden liebten." Wie kamen Sie auf die Idee, Ihren Verdächtigen dadurch besonders verdächtig zu machen, daß der in höchster Wut dem Starkritiker in Hitler-Sprache droht, "ab 0.00 Uhr wird zurückgeschlagen", worauf der Kritiker tatsächlich wie vom Erdboden verschwindet. Welch ein Spaß, wenn man erfährt, daß diese Kriegserklärung an den Kritiker von einem Unschuldigen stammt! Natürlich kann Ihr Kritikerpapst nicht richtig Deutsch. Ihr Reich-Ranicki sagt nicht "deutsch" sondern "doitsch", nicht Literatur, sondern "Literatür", und er hat einen kapitalen Messiaskomplex: "Aber in einer Hinsicht sei jeder, der sich im keritischen Dienst verzehre, in der Nachfolge des Nazareners: der habe gelitten für die Sünden der Menschheit, der Keritiker leidet unter den Sünden der Schschscheriftstellerrr." Sie, lieber Martin Walser, wissen, was Sie hier tun. Und wer es literarhistorisch nicht weiß, lese die Parodien des Juden Karl Kraus auf den Juden Alfred Kerr.


    Die "Herabsetzungslust", die "Verneinungskraft", das Repertoire antisemitischer Klischees ist leider unübersehbar, und wenn "André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust", dann ist Ihr "darunter" besonders hervorhebenswert, als wäre die große Mehrheit der europäischen Juden eben nicht Opfer gewesen. Das sind so Kleinigkeiten, die mich stutzig machen und hinter denen ich schließlich zu meiner eigenen Überraschung Methode vermute. Gut, Ihr Kritiker hat einen Sprachfehler, und er trainiert sogar seine sprachliche Eigenheit. Und dann, weil Sie glauben, Sie seien nun salviert, schreiben Sie diesen Satz, den man im Schriftbild vor sich sehen muß, um die Verballhornung des Jiddischen heraushören zu können: "Denken Sie nur an den Ehrl-König-Sound, wenn er über doitsche Scheriftsteller spericht und über die Sperache, die sie schereiben und wie scherecklich es ist, sein Leben geweiht zu haben einer Literatür, die zu mehr als noinzig Perozent langeweilig ist" und so weiter und so weiter.


    Aber das alles ist nichts gegen den Clou dieses Buches. Mord, Mordkommission, das alles spielt hier immer mit der Erinnerung an den Massenmord der Nazis. Doch der Kritiker ist nicht tot. Seine Frau, die kettenrauchend, kaum deutsch, sondern französisch sprechend, unter ihm leidet, weiß es die ganze Zeit. Warum? Sie sagt es, ein Champagnerglas in der Hand: "Umgebracht zu werden paßt doch nicht zu André Ehrl-König."


    Es ist dieser Satz, der mich vollends sprachlos macht. Er ist Ihnen so wichtig, daß er zweimal in dem Roman vorkommt. Auf dem Hintergrund der Tatsache, daß Marcel Reich-Ranicki der einzige Überlebende seiner Familie ist, halte ich den Satz, der das Getötetwerden oder Überleben zu einer Charaktereigenschaft macht, für ungeheuerlich.


    Ich habe, lieber Herr Walser, in meiner Laudatio in der Paulskirche eine Summe ihres Werkes und Wirkens gezogen. Ebenso klar sage ich, daß ich fatal finde, was Sie jetzt zu tun im Begriff sind. Als Adolf Hitler seine Kriegserklärung gegen Polen formulierte, die Sie in Ihrem Roman so irrwitzig parodieren, war dies auch eine Kriegserklärung an den damals in Polen lebenden Marcel Reich und seine Familie. Nicht viele europäische Juden haben diesen Satz von Adolf Hitler überlebt. "Darunter", um Sie zu zitieren, noch weniger das Warschauer Ghetto. Und noch mal viel, viel weniger haben den Aufstand im Warschauer Ghetto überlebt. Und noch viel weniger konnten dann in einem Kellerloch in Polen überdauern. Und von all denen, die das überlebt haben, gibt es nur noch einen Bruchteil eines Bruchteils, der heute noch lebt. Zwei davon, lebend also wider jede Wahrscheinlichkeit, sind der heute zweiundachtzigjährige Marcel Reich-Ranicki und seine Frau Teofila. Verstehen Sie, daß wir keinen Roman drucken werden, der damit spielt, daß dieser Mord fiktiv nachgeholt wird? Verstehen Sie, daß wir der hier verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich, kein Forum bieten werden?


    Ich muß diese Absage öffentlich machen. Sie haben bereits vorauseilend die Vermutung geäußert, eine Absage wäre nur auf den undurchschaubaren Einfluß Marcel Reich-Ranickis zurückzuführen. Doch die reale Hauptfigur Ihres Romans weiß nichts von diesen Vorgängen. Es gibt keine Verschwörung.


    Sie, lieber Herr Walser, haben oft genug gesagt, Sie wollten sich befreit fühlen. Ich glaube heute: Ihre Freiheit ist unsere Niederlage. Mit bestem Gruß


    FRANK SCHIRRMACHER


    Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.05.2002, Nr. 122 / Seite 49

  • [url=http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,198288,00.html]SPIEGEL ONLINE - 28. Mai 2002, 18:31[/url]


    Martin Walsers Mordphantasie


    FAZ lehnt Walser-Vorabdruck ab


    Hauptfigur in einem neuen Roman von Martin Walser ist ein Literaturkritiker, offensichtlich Marcel Reich-Ranicki, der scheinbar einem gekränkten Autor zum Opfer fällt. Deshalb lehnte die "FAZ" einen Vorabdruck wegen "antisemitischer Klischees" ab.

    Frankfurt - Das Buch, bisher unter Verschluss gehalten, erscheint im Sommer beim Frankfurter Suhrkamp Verlag und soll den Titel "Tod eines Kritikers" tragen. Wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" am Mittwoch berichtete, soll es in dem "Schlüsselroman über den deutschen Literaturbetrieb" ganz offen um eine Abrechnung Martin Walsers mit dem "Literaturpapst" Marcel Reich-Ranicki gehen. Ein jüdischer Starkritiker namens André Ehrl-König falle vermeintlich einem Mord zum Opfer. Die Schuld werde einem von ihm verrissenen und gekränkten Schriftsteller zugeschoben.
    Die "FAZ" lehnte das Angebot Walsers, das Buch im Feuilleton des Blattes vorab zu veröffentlichen, in einem offenen Brief an den Autor ab: Der Roman sei "ein Dokument des Hasses" und eine "Mordphantasie", die mit dem "Repertoire antisemitischer Klischees" spiele, schreibt Herausgeber Frank Schirrmacher. Der populäre, wenn auch streitbare Kritiker Reich-Ranicki überlebte den Holocaust der Nationalsozialisten im Warschauer Ghetto zusammen mit seiner Frau Teofila. "Verstehen Sie, dass wir keinen Roman drucken werden, der damit spielt, dass dieser Mord fiktiv nachgeholt wird?", schreibt Schirrmacher: "Verstehen Sie, dass wir der hier verbrämt wiederkehrenden These, der ewige Jude sei unverletzlich, kein Forum bieten werden?"

    Über die bei Walser offensichtliche Herabwürdigung der von den Nazis verfolgten Juden erregt sich Schirrmacher besonders: "Und wenn 'André Ehrl-König zu seinen Vorfahren auch Juden zähle, darunter auch Opfer des Holocaust', dann ist Ihr 'darunter' besonders hervorhebenswert, als wäre die große Mehrheit der europäischen Juden eben nicht Opfer gewesen", schreibt er in seinem Brief. "Das sind so Kleinigkeiten, die mich stutzig machen und hinter denen ich schließlich zu meiner Überraschung Methode vermute", so Schirrmacher.


    Der Suhrkamp Verlag zeigte sich am Mittwoch überrascht von der harschen "FAZ"-Absage und kündigte ein offizielles Statement Martin Walsers für den Nachmittag an. Marcel Reich-Ranicki wollte zum Streit zwischen der "FAZ" und dem Schriftsteller zunächst keine Stellung nehmen. "Ich äußere mich zu dieser Sache nicht", sagte der Kritiker am Mittwoch.


    Antisemitismus-Vorwürfe gegen Martin Walser wurden erstmals 1998 laut: Anlässlich seiner Ehrung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (Laudatio: Frank Schirrmacher) hielt Walser in der Frankfurter Paulskirche eine Rede, in der er die "Instrumentalisierung von Auschwitz" kritisierte und die ständige öffentliche Thematisierung des Holocausts als "Moralkeule" monierte, die letztlich den gegenteiligen Effekt erziele. Der dadurch ausgelöste Proteststurm wurde angeführt vom damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis, der Walser unter anderem "geistige Brandstiftung" und "latenten Antisemitismus" vorwarf.


    Nach wochenlangen Debatten in den Feuilletons legten die Kontrahenten ihren Streit jedoch bei. Bubis nahm den Vorwurf des "geistigen Brandstifters" zurück, Walser verteidigte allerdings die Unmissverständlichkeit seiner Rede.

  • [url=http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,198412,00.html]SPIEGEL ONLINE - 29. Mai 2002[/url]


    STREIT UM ROMAN "TOD EINES KRITIKERS"


    Walser erwägt Klage gegen die "FAZ"


    Der Schriftsteller Martin Walser will die "FAZ" verklagen, weil sich die Zeitung vor Erscheinen seines neuen Romans ausführlich mit dessen Inhalt auseinander gesetzt hat. Von Antisemitismus gebe es in seinem Buch keine Spur, behauptet Walser. In "Tod eines Kritikers" gehe es nicht um Kritik an einem Juden, sondern einem Kritiker.


    Überlingen - Er wolle juristische Schritte gegen die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" unternehmen, sagte der 75-Jährige am Mittwoch. "Ich werde es zum ersten Mal nicht auf mir sitzen lassen, dass man Behauptungen in die Welt setzt, ich bediente mich eines "Repertoires antisemitischer Klischees", sagte der Autor der Deutschen Presse-Agentur.
    Deshalb habe er seinen Verlag in Frankfurt gebeten, juristische Schritte zu prüfen. Er bezeichnete es als skandalösen Vorgang, dass "FAZ"-Herausgeber Frank Schirrmacher ihm vorwerfe, einen verletzenden Schlüsselroman über den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki geschrieben zu haben.


    Die Zeitung habe aus seiner Sicht einen "Bruch der heiligsten Bedingungen" begangen, dass erst über ein Buch geurteilt werde, wenn es da sei. Außerdem warf er Schirrmacher vor, den Inhalt seines neuen Buchs verfälscht zu haben.


    Schirrmacher hatte zuvor in einem offenen Brief in der Mittwochausgabe der "FAZ" an Walser begründet, warum die Zeitung seinen Wunsch ablehne, "Tod eines Kritikers" vorab abzudrucken. "Ihr Roman ist eine Exekution", schrieb der "FAZ"-Herausgeber und bezeichnete den Roman als "eine Abrechnung - lassen wir das Versteckspiel mit den fiktiven Namen gleich von Anfang an beiseite! - mit Marcel Reich-Ranicki. Es geht um die Ermordung des Starkritikers." Schirrmacher bezeichnete das Buch als "ein Dokument des Hasses" und es gehe "um den Mord an einem Juden".


    Gegenerklärung von Walser


    "Das Buch erzählt die Erfahrungen eines Autors mit Machtausübung im Kulturbetrieb zur Zeit des Fernsehens", bezog Walser am Mittwochnachmittag Stellung. Es sei auch ein Buch "über das Schicksal der Poesie unter Bedingungen des immer rauer werdenden Kulturbetriebs", teilte der 75-jährige Schriftsteller mit. In dem Roman gehe es "nicht um einen Juden, sondern um einen Kritiker", argumentierte Walser.

    Warum Schirrmacher, der Walser ein Spiel mit dem "Repertoire antisemitischer Klischees" vorwirft, dieses Thema auf den Holocaust beziehe, wisse er nicht, heißt es in Walsers Stellungnahme weiter. "Ich hätte nie, nie, niemals gedacht, dass jetzt dieses Buch auf den Holocaust bezogen wird. Verstehen Sie, dann hätte ich das Buch nicht geschrieben", sagte Walser in einem Interview mit dem NDR.


    "Ich schreibe über die von Party zu Party taumelnde Kulturbetriebslandschaft und davon, dass es zu einem enormen Star und fröhlichen Menschen nicht passt, umgebracht zu werden. Es passt nicht, und daraus wird gemacht, ich hätte gesagt, getötet zu werden oder den Holocaust zu überleben sei eine Charaktereigenschaft. Wenn Sie alle Sätze, die irgendwo geschrieben werden, immer projizieren auf den Hintergrund Holocaust, dann werden ziemlich viele Sätze sehr komisch wirken, das kann ich Ihnen sagen", wehrte sich Walser.


    Verlag: "FAZ" lag unredigierte Fassung vor


    Auch der Frankfurter Suhrkamp-Verlag hielt der "FAZ" vor, den neuen Roman Martin Walsers zu früh öffentlich an den Pranger gestellt zu haben. Die der "FAZ" vorliegende Version des Romans sei eine unredigierte Fassung. Diese sei nach Verlagsangaben zum gegenwärtigen Zeitpunkt "nicht zitierfähig". Durch die jetzigen Zitate in der "FAZ" sei der Roman aber "in einem Zustand in der Welt, in dem wir es nie in der Welt haben wollten", sagte Suhrkamp-Verlagsleiter Günter Berg der Tageszeitung "Die Welt". Verlag und Autor bemühten sich nun, das Buch rasch in den Handel zu bringen - womit der Verlag zweifelsohne von dem Rummel profitiert.


    "Es wäre der "FAZ" angemessener gewesen, die gewiss notwendige Diskussion um diesen neuen Roman dann zu eröffnen, wenn alle ihn in Händen halten können", meinte Verlagsleiter Günter Berg. "Die Vorwürfe, die Herr Schirrmacher gegen Martin Walser erhoben hat, wiegen schwer. Sie zu beurteilen ist ohne Kenntnis des Buchs unmöglich."


    Auf Walsers mögliche Klage gegen die "FAZ" angesprochen, sagte die Verlagsleitung der Nachrichtenagentur dpa: "Der Verlag wird keine juristischen Schritte gegen die FAZ einleiten." Suhrkamp hatte auf Bitten Walsers am Dienstagabend das Erscheinen des FAZ-Artikels vom Mittwoch stoppen wollen. Der Suhrkamp Verlag hatte versucht, eine Einstweilige Verfügung zu erwirken, bei Gericht aber niemanden mehr erreicht. Walser sah in dem Artikel seine Persönlichkeitsrechte verletzt. Jetzt, wo der Text in der Welt sei, sehe der Verlag keinen Handlungsbedarf mehr. "Wenn Herr Walser klagen will, muss er das selbst machen", sagte eine Sprecherin.


    "Martin Walser ist nicht der Möllemann der deutschen Literatur"

    Der Verlag werde versuchen, das Erscheinen des Buches von August auf Juni vorzuziehen, wolle "aber dem Drängen des Autors, es jetzt sofort zu publizieren, einen Moment widerstehen", präzisierte Berg gegenüber der "Welt". Der Verlag müsse den Eindruck vermeiden, "dass das Ganze eine zynische Marketingaktion war".


    Mit den Worten "Martin Walser ist nicht der Möllemann der deutschen Literatur" wies Berg in dem Blatt die gegen Walser gerichteten Attacken zurück. In diese Rolle könne ihn auch nicht Schirrmacher drängen. Es habe im Suhrkamp Verlag wie bei jedem Manuskript auch in diesem Fall Diskussionen gegeben. "Den Generalbass Antisemitismus hat es aber dabei nicht gegeben", sagte Berg. Im Übrigen sei man ein Verlag und keine Zensurbehörde.


    Der 81-jährige Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki wollte auf Anfragen nichts zu der Auseinandersetzung sagen.

  • [url=http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,198412,00.html]SPIEGEL ONLINE - 29. Mai 2002[/url]


    WALSER IM WORTLAUT


    "Es passiert im ganzen Buch kein Mord"


    In einer Stellungnahme wehrt sich der 75-jährige Schriftsteller Martin Walser gegen Vorwürfe der FAZ, einen neuen antisemitischen Roman geschrieben zu haben. Der Wortlaut:

    "Frank Schirrmacher schreibt über meinen Roman: "Es geht um den Mord an einem Juden". Erstens passiert im ganzen Buch kein Mord. Zweitens geht es im ganzen Buch nicht um einen Juden, sondern um einen Kritiker. Das Buch erzählt die Erfahrungen eines Autors mit Machtausübung im Kulturbetrieb zur Zeit des Fernsehens. Wie Schirrmacher dazu kommt, dieses Thema auf den Holocaust zu beziehen, weiß ich nicht.
    Ein Beispiel dafür, wie er arbeitet, er schreibt: "Die "Herabsetzungslust", die "Verneinungskraft", das Repertoire antisemitischer Klischees ist leider unübersehbar...". Das heißt aber doch, Herabsetzungslust und Verneinungskraft seien etwas Jüdisches und wenn man Herabsetzungslust und Verneinungskraft kritisch behandelt, operiert man antisemitisch. Für mich ist eindeutig antisemitisch die Unterstellung, Herabsetzungslust und Verneinungskraft seien etwas Jüdisches. Das hätte man wohl in der Nazizeit so gesagt, dass es aber genau so heute in der FAZ gesagt wird, darf einen wundern. Aber so wunderlich ist der ganze Artikel.


    "Tod eines Kritikers" ist auch ein Buch über das Schicksal der Poesie unter Bedingungen des immer rauer werdenden Kulturbetriebs. Poesie hat schlechte Quoten. Darüber darf ein Roman elegisch werden. Er darf aber auch polemisch werden, wenn er endlich einmal das, was man als Autor jahrzehntelang einzustecken hat, auf literarische Art beantwortet. Ich habe das Buch mit der Widmung versehen: "Für die, die meine Kollegen sind". Ich habe auf meine Erfahrungen nicht mit Kolportage reagiert, sondern mit Literatur.


    Ich kann es nicht begreifen, dass jetzt so getan wird, als sei eine Romanfigur identisch mit ihrem Vorbild in der Wirklichkeit. Eine Romanfigur hat immer mehr als ein Vorbild. Aber am wenigsten begreife ich, dass Schirrmacher gegen jeden Brauch und Anstand über ein Buch schreibt und urteilt, das noch nicht erschienen ist. Das Manuskript wurde der FAZ überlassen zur Prüfung, ob sie es vorabdrucken wolle. Wenn sie das nicht wollten, hätte eine Mitteilung an den Verlag genügt. Ich nehme an, Frank Schirrmacher sah sich aus Gründen, die ich nicht kennen kann, nicht einmal kennen will, genötigt, sich auf sehr opportune Weise einzumischen. Das tut mir leid. Für ihn."

  • [url=http://www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,198481,00.html]SPIEGEL ONLINE - 30. Mai 2002[/url]


    "So ein erbärmliches Buch"


    Jetzt zieht der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki über den neuen, noch unveröffentlichten, Roman Martin Walsers her. Bei der Lektüre habe er "als Betroffener" allerdings keine Wut, sondern Mitleid mit Walser empfunden. Walser bestätigte unterdessen, Reich-Ranicki in seinem Buch karikieren zu wollen. Den Skandal sah er bereits voraus.


    Schon im Februar gab sich Martin Walser in einem Interview mit der Zeitschrift "Bunte" geheimnisvoll. "Bereits der Titel ist skandalös, deshalb verrate ich ihn nicht", weckte er Neugier auf seinen nächsten Roman. Die Brisanz seines Sujets muss dem Schriftsteller demnach schon damals bewusst gewesen sein. Deshalb dürfte ihn eigentlich nicht verwundern, welches Echo ihm jetzt von seinem Roman-Opfer entgegen schallt, dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.
    "Walser hat noch nie so ein erbärmliches Buch geschrieben", kritisierte der den Schriftsteller am Donnerstag. Er fühle sich als "Betroffener", klagte Reich-Ranicki in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. Der Literaturkritiker warf Walser vor, "leicht erkennbare Personen lächerlich zu machen und teilweise zu denunzieren".


    In dem Gespräch hält der frühere FAZ-Feuilletonchef die Entscheidung der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" für richtig, das Buch nicht abzudrucken. Der FAZ- Herausgeber Frank Schirrmacher habe in seinem Offenen Brief an Walser "das Nötige klar gesagt", meinte Reich-Ranicki. Zu der Frage nach antisemitischen Untertönen in Walsers Roman wollte Reich-Ranicki sich nicht äußern. "Ich bin schließlich der Betroffene." Das Buch enthalte sogar mehrere seiner Äußerungen.


    "Keine Wut sondern Mitleid"



    "Ich habe viele Bücher von ihm gelobt und Jahrzehnte lang an sein Talent und seine Redlichkeit geglaubt", sagte Reich-Ranicki, der bislang generell eher zu den Kritikern Wasers zählte. Bei der Lektüre des Romans mit dem Titel "Tod eines Kritikers" habe er keine Wut, sondern Mitleid verspürt, sagte Reich-Ranicki. "Walser stellt sich wieder einmal als Opfer dar." Ein Gespräch mit Walser lehnte Reich-Ranicki ab: "Ich halte nichts davon, dass mir ein Autor sein Werk erklärt. Der Text muss für sich selbst stehen." Besprechen wolle er es auch nicht, weil das literarische Niveau aus seiner Sicht zu niedrig sei.


    Zuvor hatte Reich-Ranicki den Walser-Roman bereits in der "Neue Zürcher Zeitung" als "miserable Literatur" bezeichnet und eine erste Romanlektüre mit den Worten "es ist wirklich ungeheuerlich" kommentiert.


    Walser bestätigt Karikatur Reich-Ranickis


    In Interviews mit mehreren Tageszeitungen bestätigte Martin Walser unterdessen, dass er in seinem Roman den Literaturkritiker Reich-Ranicki bewusst parodiert habe. Er wies aber Vorwürfe des Antisemitismus zurück. "Ja, klar", beantwortete Walser die Frage der "taz", ob er Reich-Ranicki karikiere. Es liege "auf der Hand", dass man in seiner Romanfigur den Genannten erkenne: "Man darf in der Literatur jede beliebige öffentliche Figur parodieren, warum nicht Reich-Ranicki?", fragte Walser in der "Welt". Es gehe ihm aber nicht darum, "Reich-Ranicki oder einen anderen Kritiker in meinem Roman anzugreifen, weil sie Juden sind". Dies liege nicht in seinem Interesse. "Mir geht es darum, wie so eine Figur wie Reich-Ranicki seine Macht im Literaturbetrieb ge- und missbraucht", beschreibt Walser seinen Ansatz.


    Hart geht er dabei mit der öffentlichen Absage des "FAZ"-Herausgebers Frank Schirrmacher ins Gericht, seinen neuen Roman nicht vorab abzudrucken. "Er hat eine Exekution versucht", wirft Walser Schirrmacher in der "taz" vor und bezichtigt ihn, seinerseits in Einzelformulierungen "antisemitisch" zu sein und einen "elenden Artikel" geschrieben zu haben.


    "Was ich jetzt erfahre, ist Machtausübung"


    In einem Interview mit dem Radiosender MDR Kultur bekräftigte Walser am Donnerstag erneut, eine Strafanzeige gegen die "FAZ" wegen Verleumdung zu erwägen. "Ich muss mal sehen, was ich da für juristische Chancen habe", sagte der Autor. Er begreife nicht, was da gerade passiert, und halte die Anschuldigungen der "FAZ" für "reine Willkür". "Ich habe ein Buch geschrieben gegen Machtausübung im Kulturbetrieb, und das Erste, was ich jetzt erfahre, ist Machtausübung", sagte er dem Radiosender. Walser bekräftigte, dass er nichts an seinem Roman ändern wolle. "Ich habe die Hoffnung, dass die lesende Welt nicht aus lauter Schirrmachers besteht", lästerte er.


    Verlegerlob für FAZ


    Unterdessen warf der Verleger des Berliner Aufbau-Verlags, Bernd Lunkewitz, dem Schriftsteller Martin Walser vor, mit seinem noch unveröffentlichten Roman gezielt einen verkaufsfördernden Eklat provoziert zu haben. "Das war Kalkül des Autors", sagte Lunkewitz. Walsers Taktik der "gezielten Regelverstöße" sei ein Marketingtrick, um die Auflage in die Höhe zu treiben. "Die ganze Story schmeckt nach Judenfeindschaft", meinte der Verleger. Ohne Eklat würden von dem Buch vielleicht 5000 Exemplare verkaufen werden, schätze Lunkewitz, "jetzt kann Walser mit 100 000 Exemplaren und mehr rechnen".


    Der Verleger sagte, bei nur stillschweigender Ablehnung des Romanvorabdrucks durch die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" wäre schnell von einer "jüdischen Lobby" die Rede gewesen, die das Buch habe verhindern wollen. Deshalb sei die Entscheidung der "FAZ", den Abdruck in einem Offenen Brief des Herausgebers Frank Schirrmacher wegen "antisemitischer Klischees" in dem Buch abzulehnen, richtig gewesen, meinte Lunkewitz.


    Nachkorrektur beim Verlag?


    Unterdessen nutzt der Suhrkamp Verlag den ausgebrochenen Rummel um das Walser-Buch für eine Offensive und gibt das Manuskript an interessierte Medien heraus. Es gehe darum, allen Journalisten den "gleichen Informationsstand zu ermöglichen, damit sie wissen, worüber sie sich erregen", sagte die Verlagssprecherin Heide Grasnick am Donnerstag in Frankfurt. Es seien bereits weit über hundert Anfragen eingegangen. Der Erscheinungstermin des Romans soll zudem von August auf Juni vorgezogen werden.


    Die Sprecherin betonte, dass es sich bei dem jetzt freigegebenen Text nicht um die definitive Druckvorlage handele, denn die Fahnen werden wie bei jedem Suhrkamp-Buch noch Korrektur gelesen. Eine inhaltliche Korrektur sei damit aber nicht mehr verbunden, stellte sie erste Meldungen klar. In einem Interview mit der "Welt" hatte am Vortag Suhrkamp-Verlagsleiter Günter Berg missverständlich auf die Frage geantwortet, "In welchem Zustand ist das Manuskript eigentlich?". Bergs Antwort: "Es war nicht zitierfähig, es ist zitiert worden. Damit ist es leider in einem Zustand in der Welt, in dem wir es nie in der Welt haben wollten".


    Spiegelt das Buch nur die Wirklichkeit?


    Die "FAZ" hatte allerdings schon 20 Tage zuvor eine fertige "Entscheidungsvorlage" zum Vorabdruck erhalten. Damit sollte ursprünglich in zwei Wochen begonnen werden. "Das, was wir hatten, sollten wir drucken", verlautete aus der "FAZ"-Redaktion. Dies sei aber nur "eine halbe Wahrheit", hieß es aus dem Suhrkampf-Verlag. Denn selbstverständlich sollte die Zeitung für ihre Veröffentlichung noch eine weitere, nochmals Korrektur gelesene Text-Datei erhalten. Inhaltlich hätte sich der Roman dann aber nicht mehr geändert.


    Daraus folgt: Die inhaltliche Provokation wäre geblieben. Aber nun läuft der fiktive Roman sogar mit der Wirklichkeit um die Wette. Trotz aller internen Aufregung im Suhrkamp-Verlag (am Dienstagabend sollte der FAZ- Bericht Frank Schirrmachers noch gerichtlich gestoppt werden), kann der Rummel Walser nur gefallen. Die Realwelt erfüllt alle Klischees, die er klischeehaft beschreibt.


    Holger Kulick

  • [url=http://www.taz.de/pt/2002/05/30/a0103.nf/text.name,ask3csuuz.n,1]taz Nr. 6761 vom 30.5.2002[/url], Seite 4, 164 Zeilen (Interview), PATRIK SCHWARZ


    "Ich bin kein Möllemann"
    Interview PATRIK SCHWARZ


    taz: Ist Ihr Buch eine Exekution von Marcel Reich-Ranicki?


    Martin Walser: Ich würde niemals ein Buch schreiben, das einer Exekution gewidmet ist, weil ich ohne Liebe nicht schreiben kann. Zwischen Kritiker und Autor gibt es natürlich eine sehr vielstimmige, vielfältige, vielfarbige Liebe - und der Kritiker in meinem Buch hat ein Verhältnis zu dem Schriftsteller, das ich zumindest als ambivalent bezeichnen möchte. Dieser Autor, meine Hauptfigur, gibt sich zeitweise der Illusion hin, dass er der engste Freund dieses Kritikers werden kann. Da steht so viel drin - und Sie haben jetzt natürlich nur diesen elenden Artikel! Solche Wörte wie Hass und Exekution würde ich nicht schreiben - da wäre ich lieber Gefängniswärter geworden.


    Der FAZ-Herausgeber wirft Ihnen vor, Sie hätten einen Tabubruch beabsichtigt - und auf antisemitische Stereotype zurückgegriffen.


    Das ist verrückt.


    Er nennt eine ganze Reihe Belege.


    Er sagt, es geht in meinem Roman um den Mord an einem Juden. Ich sage, ein Mord kommt überhaupt nicht vor, wie sich am Ende des Buches herausstellt, und es geht nicht um einen Juden, sondern um einen Kritiker.


    Er wift Ihnen vor, mit Ihren Vokabeln und Bildern zurückzugreifen auf antisemitische Klischees. So attestieren Sie dem Kritiker "Herabsetzungslust" und "Verneinungskraft".


    Es ist doch gar nichts Schlechtes, eine Herabsetzungslust zu haben. Das als etwas Jüdisches zu bezeichnen, halte ich für antisemitisch! Das hat man nur im Dritten Reich so gesagt, das ist Nazivokabular! Ich bin mit Herabsetzungslust und Verneinungskraft halb bewundernd, halb kritisch umgegangen. Herr Schirrmacher sagt, das seien jüdisch besetzte Wörter, dadurch ist er für mich antisemitisch.


    Schirrmacher sieht das Bild vom "ewigen Juden" bei Ihnen aufscheinen und zitiert: "Umgebracht zu werden passt doch nicht zu André Ehrl-König."


    Das sagt die Ehefrau des Kritikers über ihren gloriosen Mann, über diesen genialen Clown in einer von Party zu Party taumelnden Literaturbetriebsgesellschaft. Da schiebt Herr Schirrmacher schnell den Hintergrund Holocaust dazwischen und behauptet, ich hätte gesagt, Getötetwerden oder Überleben sei eine Charaktereigenschaft. Das ist ungeheuerlich!


    Sie meinen, der Literaturkritiker Schirrmacher versteht Ihre Subtilität nicht?


    Wenn man jeden Satz irgendeiner Konversation in irgendeinem Roman auf den Hintergrund Holocaust bezöge, dann gibt es nur noch grauenhafte Missverständnisse.


    Warum sollte Herr Schirrmacher Ihnen etwas unterstellen?


    Darüber kann ich schon nachdenken, aber ich komme auf keinen Grund. Vielleicht ist es etwas Saisonales?


    Saisonal ist doch auch die Regelmäßigkeit, mit der Sie sich dem Verdacht des saloppen Umgangs mit der Vergangenheit aussetzen - angefangen bei der Bubis-Debatte.


    Ignatz Bubis hat formell und schriftlich und mündlich den Vorwurf des latenten Antisemitismus zurückgenommen, er hat die geistige Brandstiftung zurückgenommen. Zurückgenommen! Wenn leichtfertige Medienmenschen das so weitertransportieren, als existiere der Vorwurf noch, dann kann ich mich damit nicht auseinander setzen.


    Offenbar setzen Sie doch zumindest missverständliche Ideen in die Welt - und wollen hinterher nichts Böses gemeint haben. Ist Ihre Methode nicht die Methode Möllemann?


    Mit Herrn Möllemann möchte ich nicht das Geringste zu tun haben. Ich bin kein Möllemann, ich bin Schriftsteller.


    Herr Schirrmacher argumentiert, Sie versteckten sich hinter den Stilmitteln von Travestie und Kömodie, um Ihren Tabubruch zu tarnen.


    Tarnen! Dass ich nicht lache! Da wäre ich gleich Anstreicher geworden! Ich will doch keinen Tabubruch - was soll denn das?!


    Aber Sie karikieren Marcel Reich-Ranicki.


    Ja klar. Aber mein Schriftsteller Hans Lach hat eine wahrhaft ambivalente Beziehung zu diesem Kritiker Ehrl-König. Ich kann überhaupt keine Bücher schreiben mit nur negativen Einstellungen. Da bin ich zu naiv.


    Naivität haben Sie schon bei der Bubis-Debatte für sich reklamiert. Sie hätten Ihr privates Nachdenken vielleicht nicht auf öffentlicher Bühne vortragen sollen, sagten Sie. Ist es nicht reichlich naiv, sich schon wieder auf Ihre Naivität zu berufen?


    Ich habe mich nicht auf Naivität berufen, sondern auf den Unterschied zwischen privat und öffentlich. Aber ich weiß ja schon, dass man alles, was ich sage, vorgeformt verstehen kann. Aber ich hätte vor fünf Tagen, vor drei Tagen nie, nie, nie daran gedacht, dass der Schirrmacher so etwas könnte. Er kennt meine Bücher - wenn Sie ein Romanschreiber sind, mit 15, 16, 17 Romanen, müsste sich das schon mal irgendwann bemerkbar gemacht haben, dass da etwas antisemitisch ist. Ein Autor kann sich nicht 15 Romane lang tarnen, das will er auch gar nicht! Ein Roman ist immer eine Gesamtoffenbarung der Person. Jetzt, weil ich dieses Thema genommen habe und weil es diese Saison ist, kommt diese Breitseite - und der Kerl vergisst alles, was er schon besser gewusst hat.


    Aber Ihr Buch handelt von einer Mordfantasie - an einem Großkritiker mit Doppelnamen.


    Nein! Es geht nicht um Mord. Es ist ein Buch über die Machtausübung im Literaturbetrieb zu Zeiten des Fernsehens - vom Standpunkt des Autors aus geschrieben.


    Erleben Sie nicht gerade das Gegenteil? Herr Schirrmacher hat das Fernsehen nicht gebraucht, um Sie anzugreifen.


    Er hat eine Exekution versucht. Aber wenn er zehn Jahre Polemiken schriebe, würde er nie den Effekt erzielen wie im Fernsehen. Natürlich wirkt der Showeffekt sich auch auf mich aus. Im "Literarischen Quartett" sind ja auch Autoren exekutiert worden. Im "Literarischen Quartett" erledigt zu werden war viel schlimmer als auf dem Papier.

  • Hallo zusammen.


    Heute ist der 2. Juni 2002, der Geburtstag von MRR (Geboren am 2. Juni 1920). Er ist unterdessen ein alter Opa (82 Jahre alt). Heute habe ich zufällig gerade sein Buch "Mein Leben" (555 S) fertig gelesen. Ich begann dieses Buch vor zwei Wochen zu lesen, während ich in den Ferien in Tunesien war. Ein paar deutsche Gäste haben mein Buch angeschaut und kommentierten:"Ah, Ranicki...das ist kein Urlaubsbuch". Dieser Gast zeigte seinen "mahnenden" Finger, wie Ranicki bei seinen Sendungen im ZDF.
    Mein erster Eindruck über dieses Buch war, dass MRR sehr oft 3 Wörter, nämlich "knapp, rasch und nie vergessen" gebraucht hat. Das ist wahrscheinlich ein Symbol seiner starken Persönlichkeit.
    Nach seiner Deportation nach Warschau, wurde er als jüngster "Judenrat" gewählt. Später arbeitete er für den polnischen Geheimdienst in Berlin. Mit 29 Jahren war er schon Konsul in London. Man kann sich vorstellen, wie seriös und aktiv diese Person war. Er interessierte sich für die Theorie von Marxismus, wie andere Intelektuelle dieser Zeit und er war Mitglied der kommunistischen Partei in Polen. Normalerweise kennt man beim Marxismus den Dialektik-Materialismus: These, Anti-These und Synthese. Die Polemik ist eine normale Norm. Meiner Meinung nach, kennt MRR das polemische System sehr gut. Er ging von Polen wieder zurück in die BRD mit dem einzigen Ziel, Literatur-Kritiker zu werden.


    Ich habe kein Literatur-Theorien in seinem Buch gefunden. Er kennt viele deutschsprachige Schrifsteller. Er zitiert oft Goethe, Heine, Fontane und Thomas Mann.


    Er reiste nach China, um als Gastprofessor Goethe und Thomas Mann zu propagieren.


    Er sagte im "Dritten Reich" kenne ich nur "Hitler und Thomas Mann". MRR erzählt über seine privaten Beziehungen mit prominenten Autoren, die meisten sind schon gestorben; z.B. Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Canetti, Arnold Zweig, Erich Kästner, Böll, Golo Mann ect . Er war sehr gut befreundet mit Böll, weil Böll ein Humanist war. Böll schrieb ihm eine Einladung, damit MRR das Visum für die BRD bewilligt wurde.
    Grass ist einer der wenigen alten Kollegen, der noch lebt. Seine erste Begegnung mit Grass verlief unangenehm, weil Grass ihn fragte:"Was sind Sie denn eigentlich - ein Pole, ein Deutscher oder wie? MRR antwortete ihm rasch: "Die Worte "oder wie" zeigen die dritte Möglichkeit: Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude". Später waren sie gute Freunde. In der Zeitung habe ich gelesen, dass es zwischen MRR und Grass keine gute Beziehung mehr gibt, ich weiss jedoch nicht genau aus welchem Grund? Ich wäre froh, wenn jemand von euch mehr darüber wüsste und mich informieren könnte.


    Ich schaue regelmässig die Sendung "MRR-Solo" im ZDF, seine Mimik ist immer noch temperamentvoll. Er hebt oft den Zeigefinger, und ich errinnere mich an den Film "Mein Kampf" von Hitler. MRR lebte ja in der Zeit von Hitler und Stalin, die bekanntlich beide sehr autoritär waren.


    Trotz seiner oft unsympathischen Mimik und Art denke ich, dass seine Kenntnisse der deutschen Literatur für Anfänger sehr wichtig sind als Einführung in die deutsche Literatur. Durch Ranicki lerne ich viel über die deutsche Literatur und Autoren. Er sagte "Literatur-Kritik ist wie ein Brücke zwichen Autoren, Lesern, Kunst, und Gesellschaft. Ich finde, dass es eine Brücke zwischen den deutschen Schriftstellern von gestern und heute ist.


    Trotz seiner 82 Jahre, ist er geistig immer noch in einem sehr guten Zustand.


    "Happy Birthday MRR".


    kang bondet