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Artikel der FAZ:
Diese Woche ist im deutschen Buchhandel der erste Teil einer Buchreihe erschienen, die nichts weniger sein will, als ein Kanon der deutschsprachigen Literatur. Ihre Herausgeber: der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. Sechs deutsche Verlage haben sich unter Federführung von Suhrkamp zu diesem Projekt zusammengeschlossen.
Die Bücher sind in einem Karton mit Tragegriff unter dem Titel „Der Kanon“ gepackt. Versammelt sind in dem Pappschuber unter anderen Romane von Goethe, Fontane, Thomas Mann, Hesse und Grass.
Ziel der Edition ist es, Studenten der Germanistik und anderen Lesern in der Flut von Lektüre Orientierung zu verschaffen. „Ich wollte einen Kanon machen, den an Literatur interessierte Menschen lesen können - nicht nur, weil sie darüber geprüft werden“, sagte Reich-Ranicki.
Viele Schriftsteller, wie beispielsweise Martin Walser und Friedrich Dürrenmatt, fehlen in der Sammlung. Das haben in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ jüngere Autoren kritisch angemerkt. Mit seiner „verstockten Perspektive“ habe er keinen Roman ausgewählt, der nach Thomas Bernhards „Holzfällen“ (1984) erschien, schrieb etwa der Schriftsteller Thomas Hettche aufgebracht.
Marcel Reich-Ranicki weiß das durchaus und gibt zu, dass die Zusammenstellung kritikwürdig sei. „Der Zugang zu Literatur ist immer subjektiv, sehr von Persönlichem geleitet, und natürlich trägt die Liste meine Handschrift.“ Der Kanon sei daher auch nicht als „Gesetzbuch“ oder Vorschrift gedacht, sondern als Vorschlag oder Angebot.
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Marcel Reich-Ranicki stellt seinen Kanon vor
Heute diktiert Marcel Reich-Ranicki den Deutschen seinen literarischen Kanon: Erste Reaktionen der jungen deutschen Literatur
Am heutigen Mittwoch wird in Frankfurt ein Buchprojekt vorgestellt, das von einigem Ehrgeiz zeugt. Es handelt sich um den Versuch, die wichtigsten Romane der deutschsprachigen Literatur in einem Pappschuber zu versammeln und mit einem Tragegriff zu versehen. Die portative Nationalliteratur also: zwanzig deutschsprachige Romane vom späten achtzehnten bis zum späten zwanzigsten Jahrhundert, zusammengefaßt unter dem Titel: "Der Kanon. Die deutsche Literatur. Romane." Ihr Herausgeber: Marcel Reich-Ranicki.
Sechs Verlage haben sich für dieses Projekt zusammengetan, die Federführung liegt beim Suhrkamp Verlag. Weitere Kassetten werden folgen, vorgesehen sind die Gattungen Drama, Lyrik, Essay. Wer alle vier Kassetten erwirbt und die darin enthaltenen Werke liest, darf sich rühmen, all jene Werke der deutschen Literatur zu kennen, die Marcel Reich-Ranicki für die wichtigsten hält. Das ist zuwenig, um damit glücklich zu werden, aber mehr als genug, um herrlich darüber zu streiten.
Wir haben einige der wichtigsten jüngeren deutschen Autoren gebeten, Reich-Ranickis Auswahl anhand von jeweils einem der zwanzig Romane zu prüfen. Das Ergebnis: Liebeserklärungen, rüde Abfuhren und heftige Attacken. Thomas Hettche liebt zwar Goethes "Wahlverwandtschaften", lehnt jedoch Reich-Ranickis Unternehmen empört und vehement ab. Dies ist nicht zuletzt der Protest der jüngeren Generation, die sich übergangen sieht und deren Bedeutung die Auswahl bestreitet. Daß kein Buch Aufnahme in den Kanon gefunden hat, das nach Thomas Bernhards "Holzfällen" von 1984 erschien, gilt Hettche als Beleg für die "verstockte Perspektive einer bestimmten Generation". Die Kanon-Debatte ist immer auch eine Generations-Debatte.
Daß am Anfang dieses Streits ein Text stand, von dem wir heute nur noch den Titel wissen, wird im Kanon-Streit meistens übersehen. "Kanon", so lautete der Titel, mit dem der antike Bildhauer Polyklet eine Schrift überschrieb, in der er die idealen Proportionen des menschlichen Körpers festlegte. Der Text ist verloren, aber geblieben ist das Wort, das im Griechischen das Schilfrohr und den Meßstab bezeichnet und im übertragenen Sinn auch Richtlinie, Richtschnur bedeutete. Geblieben ist auch die Frage, ob wir einen Kanon brauchen.
Als die emanzipatorische Pädagogik den Kanon bekämpfte, wollte sie den Leser von normativen Zwängen befreien. Wo Freiräume geschaffen werden sollten, sind jedoch karge Steppen entstanden. Es ist kein Wunder, daß im Zusammenhang der für deutsche Schulen ungünstig ausgefallenen Pisa-Studie auch die Frage laut wurde, ob der Unterricht noch auf den Kanon verzichten dürfe. Zahlreich sind die Versuche der letzten Jahre, Schneisen in den Dschungel der Kulturgeschichte zu schlagen. Kein Jahr, in dem nicht irgendein Gremium seine Auswahl der besten Bücher aller Zeiten verkündete. Das Bedürfnis nach Orientierungshilfen wächst, nicht nur in den Schulen.
Aber nicht zuletzt an die Schüler wird Reich-Ranicki gedacht haben. Für ihn steht die Notwendigkeit eines Kanons außer Frage. Eine zivilisierte Gesellschaft ohne Kanon ist ihm unvorstellbar, ihr drohte der Rückfall in Willkür und Beliebigkeit, ja sogar in die "Barbarei". Vielleicht nicht gerade Barbarei, aber gewiß Willkür und Beliebigkeit bei der Auswahl der zwanzig Romane wird Reich-Ranicki nun vorgeworfen werden. Ein Blick auf die Liste am Fuß dieser Seite reicht, um zu erkennen, daß der Vorwurf berechtigt ist: Wo ist Uwe Johnson, wo Martin Walser? Aber kein Kanon ist perfekt, jeder gleicht einer Krücke. Er ist ein Hilfsmittel, ein Instrument; es gibt ihn, damit man als Leser über ihn hinauswachsen kann.
HUBERT SPIEGEL
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.05.2002, Nr. 116 / Seite 45
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Alle Bücher im ersten Teil der Edition, die insgesamt fünf Teile umfasst. Weitere Teile mit Dramen, Gedichten, Erzählungen und Essays sollen - jeweils im Abstand von einem halben Jahr - folgen.
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Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis 1832): Die Leiden des jungen Werthers,
erschienen 1774
Johann Wolfgang von Goethe (1749 bis 1832): Die Wahlverwandtschaften, 1809
E.T.A. Hoffmann (1776 bis 1822): Elixiere des Teufels, 1815/16
Gottfried Keller (1819 bis 1890): Der grüne Heinrich, Erstfassung 1854/55
Theodor Fontane (1819 bis 1898): Frau Jenny Treibel, 1892
Theodor Fontane (1819 bis 1898): Effi Briest, 1894/95
Thomas Mann (1875 bis 1955): Buddenbrooks, 1901
Thomas Mann (1875 bis 1955): Der Zauberberg, 1924
Heinrich Mann (1871 bis 1950):Professor Unrat, 1905
Hermann Hesse (1877 bis 1962): Unterm Rad, 1906
Robert Musil (1880 bis 1942): Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, 1906
Franz Kafka (1883 bis 1924): Der Proceß, 1925
Alfred Döblin (1878 bis 1957): Berlin Alexanderplatz, 1929
Joseph Roth (1894 bis 1939): Radetzkymarsch, 1932
Anna Seghers (1900 bis 1983): Das siebte Kreuz, 1942
Heimito von Doderer (1896 bis 1966): Strudlhofstiege, 1951
Wolfgang Koeppen (1906 bis 1996): Tauben im Gras, 1951
Günter Grass (geboren 1927): Die Blechtrommel, 1959
Max Frisch (1911 bis 1991): Montauk, 1975
Thomas Bernhard (1931 bis 1989): Holzfällen, 1984[/img]