April 2002: Anna Seghers - Das siebte Kreuz


  • Hei finsbury,
    hallo Ivy


    Ich habe das Buch jetzt durch.
    Mit Stil, finsbury, meine ich die sprachliche Gestaltung. Z.B. störten mich, wie dich offenbar auch, die Verniedlichungsformen. Ich frage mich, ob das die mundartliche Eigenart dieser Region ist, die Anna Seghers hier bewusst verwendet, dem Volk sozusagen auf´s Maul schauend. Gemäß der Darstellung einfacher Leute und Lebenssituationen verwendet sie eine Sprache, die oft einfach, mir manches Mal zu einfach gestrickt ist. Obwohl mir bewusst ist, dass dies ihrerm gesellschaftlichen Standpunkt sehr angemessen sein mag.
    Das heißt nicht, dass ich einige ihrer Beschreibungen nicht auch als sehr poetisch und treffend empfände. Oft kann ich jedoch mit ihrem "sozialistischen Idyllenzustand", der von ihr selbst m.M.n. hinterher aufgebrochen wird, weniger anfangen.


    In Kap 6;II heißt es:


    Zitat

    Wie er Mangolds Gehöft umfuhr, kam die Sonne ein klein wenig durch. Aber es blinkte jetzt nicht mehr in den abgeernteten Bäumen. Hinter Mangolds Gehöft fällt das Land ab in unendlicher Eisamkeit. [...]
    Das ist die Öde die unter dem Korn gewuchert hat.


    Damit, meine ich, wird die idyllische Anfangsperspektive aufgebrochen. Auch hier ist die Natur eine Art Spiegel. Die Leute sind durch die existentielle Konfrontation mit dem nationalsozialistischen System und im Speziellen mit der Flucht Georgs aus diesem ursprünglichen Zustand herausgerissen worden. Für Franz z.B. bleibt nur eine ungemeine Einsamkeit, die sich hier auch in der Naturbeschreibung ausdrückt.
    Viele andere Charaktere machen eine ähnliche Entwicklung durch. Röder wird völlig aus seinem Leben gerissen, seine Frau Liesl erst recht. Fiedler findet aus seiner Passivität zu alten Idealen zurück. Der Kreß beweist erstmalig Mut und wird aktiv, was offenbar auch seine private Situation beeinflusst. Selbst für Ernst ändert sich einiges, obwohl er an keinem (politischen) Geschehen überhaupt beteiligt ist. Es wird angedeutet, dass sich die Grundstücksverhälnisse ändern (wenn ich das richtig im Kopf habe) und sich Veränderungen für seinen beruflichen Alltag ergeben. (Abschiedszene mit Eugenie.)



    Zitat

    Insgesamt finde ich es sehr berührend, wie sie das Schicksal der politisch Verfolgten und deren trotziges "Dennoch" schildert.


    Das hat mich auch sehr beeindruckt. Vor allem die Angst vor dem Abbruch der Kontinuität der Historie, im Speziellen der Arbeiterbewegung.


    Zitat

    "Die ganze Generation hatte man ausgerottet. (...)
    Wenn man kämpft und fällt und ein anderer nimmt die Fahne und kämpft und fällt auch, und der nächste nimmt sie und muss dann auch fallen, das ist ein natürlicher Ablauf, denn geschenkt wird uns gar nichts. Wenn aber niemand die Fahne mehr abnehmen will, weil er ihre Bedeutung gar nicht kennt?"

    Kap. 3;II


    Somit ist die Flucht Georgs ein befreiender Schlag gegen diese Befürchtung. Das siebte Kreuz bleibt leer, nach sieben Tagen Flucht, die in sieben Kapiteln von Anna Seghers beschrieben werden. Na wenn das keine "Schöpfung" einer neuen, "sozialistischen" Welt darstellen soll?


    Zitat

    Ich lese jetzt von Jorge Semprun "Der Tote mit meinem Namen", auch ein Stück "Lager"literatur.


    Bevor ich Anna Seghers angefangen habe, hatte ich von Semprun "Was für ein schöner Sonntag" begonnen. Leider habe ich es erst einmal zur Seite gelegt, obwohl es mir sehr gut gefallen hatte. Werde es wohl jetzt wieder vornehmen. Kennst du Bücher von Imre Kertesz?


    LG,
    Michael :smile:


    PS.: Ich hoffe, Ivy, ich habe an einigen Stellen nicht zu viel vorweggenommen. Ich habe bemüht mich allgemein auszudrücken. :zwinker:

  • Hallo Ivy,


    Zitat

    Übrigens: Ich hab schon lange nicht mehr Spencer Tracy im Kopf, wenn ich von Georg lese. Anna Seghers markanter Stil hatte genug Kraft, um den literarischen Georg lebendig werden zu lassen.


    Stimmt, ist mir gar nicht mehr eingefallen, an den guten alten Spencer Tracy zu denken.


    Weißt du, ob man den Film irgendwo auf DVD bekommen kann? Und was ist das für eine Hörbuchfassung?


    Grüße,
    Michael

  • Hallihallo


    Michael, da überfragst Du mich. Ich hab bei amazon nur eine einzige Hörbuchfassung gesichtet und auf meine Klassiker-Site gesetzt (unter Rezensionen, da Ihr ja schon fertig seid). Mehr weiss ich nicht, nur das, was bei amazon steht. Eine Film-DVD konnte ich nicht entdecken.


    Ihr habt übrigens alles goldrichtig gemacht, auch mit der Vorschau, nicht zu viel verraten, obwohl: ich hab ja u.a. den Film gesehen.


    Da ich sowieso eine Rezension für meine Website schreiben will und daher den Text nochmal durchnehme, ist es eigentlich für mich nicht sinnvoll, mich bei den letzten 100 Seiten soo zu beeilen. Im Gegenteil, die letzten Seiten lese ich ganz gern etwas langsamer, um noch etwas im Buch zu verweilen und das Ganze weiter zu vertiefen. Wenn ich das Buch nämlich fertig habe, löse ich mich vom Text. Das wäre aber gerade für meine Rezi nicht von Vorteil. Deshalb: Wartet nicht auf mich! Die letzten Seiten lese ich allein.


    Wenn Ihr jedoch sonst noch Gedanken dazu loswerden wollt, dann werde ich natürlich auch mitposten. :zwinker:


    Bye, Ivy

  • Hallo, ihr beiden,


    nun ist die Lektüre für mich schon länger vorbei, daher wird auch der Abstand größer.
    Es bleibt eine gewisse Morgenfrische, ich kann diesen nachhaltigen Leseeindruck nicht besser bescheiben: Bei manchen Büchern habe ich das.
    Sie bieten einen lichten Blick in die Zukunft, trotz des schlimmen Geschehens. Das hatte ich nicht sofort nach der Lektüre, aber jetzt, also muss ich doch sagen: Das Buch hinterlässt einen sehr guten Eindruck bei mir: Auch normale Menschen handeln hier trotz aller Anfechtungen und keineswegs nur aus ideologischen Gründen menschlich und mutig.
    @ Michael
    Die Bücher von Kertesz kennen ich nicht, ist das auch "Lager"literatur? Nach dem Semprun gönne ich mir in dieser Richtung auch erstmal eine Pause.


    Ich danke euch für die schööne Leserunde
    ZUmächst mal tschüss bis zur nächsten :winken:
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo zusammen,


    das hört sich ja jetzt irgendwie endgültig an. Nun gut.
    Vielleicht poste ich noch den einen oder anderen Gedanken, der mir zum Siebten Kreuz noch durch den Kopf geht. Denn trotz der angesprochenen stilistischen Vorbehalte hat mich die Lektüre schon sehr beeindruckt und manches ist sicher noch nicht zuende gedacht.


    Zitat

    Die Bücher von Kertesz kennen ich nicht, ist das auch "Lager"literatur?


    Ähnlich wie Semprun hat Kertesz sein ganzes Schrifstellerdasein auf beeindruckende Art und Weise diesem Thema gewidmet. Er selbst hat als Jugendlicher Buchenwald überlebt. Er lohnt sich jedenfalls, wenn man sich näher mit der Problematik auseinander setzen möchte.
    In diesem Zusammenhang soll auch Elie Wiesel interessant sein, den ich noch nicht gelesen habe.


    Bis dann,
    Michael

  • Hallo hallo


    Es ist merkwürdig, mir geht es ganz ähnlich. Trotz der Schwächen übt Anna Seghers Buch doch einen merkwürdigen Sog aus. Ihr Schreibstil lässt sich gut aus ihrer Zeit erklären. Bei meiner Recherche hab ich u.a. mit einer Frau gesprochen, deren Mutter von den Nazis umgebracht wurde. Auch sie hatte diese Redeweise, vom Dialekt gefärbt und pointiert und fast etwas grobschlächtig, aber auf merkwürdig vornehme Weise veredelt.


    Es war eine andere Zeit damals. Und wenn man bedenkt, wie sehr die Deutschen der Wahrheit auswichen, so wirkt Anna Seghers Buch wie ein Meilenstein der Geschichte.


    Dass Marcel Reich-Ranicki das Buch lobt, kann ich gut nachvollziehen, sein Stil ist nicht ganz unähnlich. Ausserdem spricht das Buch wohl aus dem Herzen vieler Holocaust-Überlebenden. So war es, realistisch klar und schonungslos, unschön, wie die Wirklichkeit.


    Ich glaube, die Schwächen liegen auch in der Kurzform des Buches. Es tendiert eher zur Erzählung und schon fast zum Novellistischen.


    Bye, Ivy

  • Hallo, alle zusammen! :smile:


    Ich hoffe, ihr fleißigen Leser schaut hier noch ab und zu mal rein. Anlässlich eines Referates, dass ich zu diesem Buch zu schreiben habe (siehe Forum Schüler-/ Pflichtlektüre), habe ich eure Antworten studiert. Ich bin beeindruckt von euren Überlegungen zu diesem Roman. Mir hat er auch ganz gut gefallen, was bei solchen Aufgaben ja eher selten vorkommt.
    Aber zurück zu meinem Anliegen. Mir ist da eine Frage im Gedächtnis geblieben, und zwar die zu dem einleitenden Personenverzeichnis. In einer Begleitlektüre habe ich gerade gelesen, dass dieses Personenverzeichnis schon in der Erstausgabe vorhanden war und seitdem auch für andere Werke von Anna Seghers typisch (oder so ähnlich). Da würde ich draus schließen, dass sie dieses Verzeichnis selbst geschrieben hat. Das war ja glaube ich die Frage. Wollt ich nur mal loswerden. :smile:


    LG, Yasi