Juni 2004: E.T.A. Hoffmann - Die Elixiere des Teufels

  • Guten Morgen!


    die Leserunde startet also heute und ich habe die Diskussion nun auch in das entsprechende Forum verschoben. Ich hoffe, wir haben viel Spaß mit dem Buch! Für mich wird sich der Lesestart leider etwas verzögern, da ich heute unterwegs bin und ich außerdem noch parallel an einer weiteren Leserunde teilnehme.


    Bitte beginnt aber ruhig schon mit der Diskussion.


    <img src="http://images-eu.amazon.com/images/P/342312377X.03.LZZZZZZZ.jpg" width="200">


    <b>Inhalt:</b>


    Die Geschichte des Mönches Medardus, der vom verbotenen Teufelselixier trinkt und in Liebeswahn, Ehebruch und Mord getrieben wird, gilt als der berühmteste Schauerroman der deutschen Literatur. Virtuos zieht der »Gespensterhoffmann« alle Register des romantischen Gruselkabinetts - und war mit der faszinierenden Schilderung des bedrohlichen Unbewußten der Psychologie seiner Zeit weit voraus.


    Die Elixiere des Teufels, E.T.A. Hoffmanns erster großer Roman, erschienen in zwei Bänden 1815/16, enthält den fiktiven Lebensbericht eines aus fluchbeladener Familie stammenden Mönchs, der seine verbrecherischen Taten beichtet und die Schuld, die er auf sich geladen hat, offenlegt. Der Roman bietet alle Elemente des Schauerlichen auf, "das Furchtbarste und Entsetzlichste, das der Geist erdenken kann … In Göttingen soll ein Student durch diesen Roman toll geworden sein", schrieb Heinrich Heine. Die Elixiere versetzen den Leser zunächst, ganz in der Tradition des Schauerromans, in die Welt der Verbrechen und dunklen Mächte. Doch E.T.A. Hoffmann gelingt es, mit der abenteuerlichen Geschichte des Mönchs Medardus, dessen Schicksal in Wahnsinn und Mord gipfelt, das "Nächtliche" in jedem Menschen, das Abgründig-Dämonische darzustellen. Darin zeigt sich Hoffmanns Modernität, die keiner modischen Aktualisierung bedarf.

    <b>Ausgaben:</b>


    Leinengebunden, Könemann Verlag, 2,50 EUR (der Preis ist kein Scherz!)
    Taschenbuch, dtv, 9,00 EUR
    Taschenbuch, Insel, 9,50 EUR
    Hardcover, Winkler, 18,00 EUR


    Links:


    E.T.A. Hoffmann bei Projekt Gutenberg


    E.T.A. Hoffmann Gesellschaft


    Biografie


    Deutschreferat "Die Elixiere des Teufels"


    Rezension zu "Die Elixiere des Teufels


    Liebe Grüße
    nimue

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "nimue"

    Hallihallo?


    Hat eigentlich schon jemand von euch angefangen?


    Ja, soeben habe ich das erste Kapitel (Die Jahre der Kindheit und das Klosterleben) beendet. Mir ist dabei eine Parallele aufgefallen zwischen Medardus Motivation ins Kloster einzutreten und seinem späteren Verlangen – nach Genuss des Elixiers – wieder davon loszukommen. In beiden Fällen spielt der Geschlechtstrieb eine Rolle... Medardus Berufung zum Geistlichen steht zwar schon von Kindesbeinen an fest, die „Einkleidung“ findet dann aber doch hastig und übereilt statt und ist eng mit seiner erwachenden Sexualität gekoppelt: Der zufällige Anblick der „beinahe ganz entblössten Brust“ der Tochter des Konzertmeisters hat eine solche Flut von neuen, verwirrenden und erschreckenden Gefühlen in dem Jüngling hochgeschwemmt, dass er um sein Seelenheil bangt. Einzig die Flucht hinter Klostermauern verspricht, die verlorene Gemütsruhe (Unschuld?) wiederzufinden. Mit Erfolg wie es zunächst scheint:


    Das Verhältnis der Brüder untereinander, die innere Einrichtung rücksichts der Andachtübungen und der ganzen Lebensweise im Kloster, bewährte sich ganz in der Art, wie sie mir bei dem ersten Blick erschienen. Die gemütliche Ruhe, die in allem herrschte, goss den himmlischen Frieden in meine Seele, wie er mich, gleich einem seligen Traum aus der ersten Zeit meiner frühesten Kinderjahre [...] umschwebte.


    Diese Weltflucht lässt sich als eine Art Regression lesen, als Versuch die eigene Kindheit künstlich zu verlängern um so den Ansprüchen und Anforderungen des Erwachsenwerdens aus dem Weg zu gehen. Medardus Plan geht so lange gut, bis er vom Elixier trinkt und die verdrängte Sexualität sich mit Macht wieder zurück meldet. Eine Unbekannte gesteht ihm in der Beichte ihre Liebe und plötzlich bricht das so lange Unterdrückte wieder auf:


    Wie im tötenden Krampf zuckten alle meine Nerven, ich war ausser mir selbst, ein niegekanntes Gefühl zerriss meine Brust, sie sehen, sie an mich drücken – vergehen vor Wonne und Qual, eine Minute dieser Seligkeit für ewige Marter der Hölle! [...] Da verwünschte ich mein Gelübde, mein Dasein! – Hinaus in die Welt wollte ich, und nicht rasten, bis ich sie gefunden, sie erkaufen mit dem Heil meiner Seele.


    Die Wirkung des Elixiers scheint also nicht in einer grundlegenden Veränderung von Medardus Charakter oder Wesen zu bestehen, vielmehr bestärkt und befördert der Trank die von Medardus verdrängten und unbewussten Charaktereigenschaften. Das Gleiche lässt sich zum Beispiel auch für Medardus Eitelkeit sagen. Medardus war schon vorher Gefallsüchtig („Jedesmal nahm ich mir vor, mit den neuerworbenen Kenntnissen recht vor ihr [der Fürstin / Äbtissin] zu leuchten....“) aber erst nach Einnahme des Elixiers steigert sich diese seine Eitelkeit ins Ungebührliche. Die Predigt vor versammelten Gemeinde degeneriert somit zur blossen Selbstinszenierung wie die Fürstin und Äbtissin, die ihn schon seit Kindertagen kennt, untrüglich feststellt und in einem Billet an ihn auch formuliert:


    Der stolze Prunk Deiner Rede, Deine sichtliche Anstrengung , nur recht viel Auffallendes, Glänzendes zu sagen, hat mir bewiesen, dass Du, statt die Gemeinde zu belehren und zu frommen Betrachtungen zu entzünden, nur nach dem Beifall, nach der wertlosen Bewunderung der weltlich gesinnten Menge trachtest.


    Das Elixier scheint somit die Funktion eines Katalysators zu übernehmen, der Medardus unterdrückte, negative und verdrängte Charaktereigenschaften und Triebe verstärkt und ans Licht befördert.


    Gruss


    riff-raff

  • Hallihallo,


    sorry riff-raff - ich wollte nur Bescheid geben, dass ich vor dem Wochenende leider nicht zum Lesen der Elixiere komme. Tut mir leid, dass sich die Diskussion deshalb jetzt unnötig verzögert, aber ich hoffe, dass auch noch die anderen Leserundenteilnehmer sich hier melden werden.


    sobald ich angefangen habe, werde ich auf Deine Gedanken eingehen! Poste also ruhig weiter, was Dir einfällt! :-)


    Liebe Grüße
    nimue

  • Hallo,


    ich bin nun endlich auch dazu gekommen, die Elixiere anzufangen und habe immerhin schon das erste Kapitel fast geschafft.


    Man merkt meiner Meinung nach bereits sehr früh Medardus' geistige Verwirrung:


    Was ist für die Liebe der Raum, die Zeit! - Lebt sie nicht im Gedanken und kennt der denn ein Maß? - Aber finstre Gestalten steigen auf, und immer dichter und dichter sich zusammendrängend, immer enger und enger mich einschließend, versperren sie die Aussicht und befangen meinen Sinn mit den Drangsalen der Gegenwart, dass selbst die Sehnsucht, welche mich mit namenlosem wonnevollem Schmerz erfüllte, nun zu tötender heilloser Qual wird. (Kapitel 1, Seite 19)


    Das Elixier ist für mich allerdings weder Auslöser, noch Verstärker, denn die Ansätze der geistigen Verwirrung sind gegeben (vielleicht durch "Erbsünde"?) und ich denke, dass sich sein Wesen mit der Zeit in die gleiche Richtung begeben hätte. Doch der Glaube kann Berge versetzen und obwohl ein Mönch ihn über die "Echtheit" der Reliquien aufgeklärt hat, bin ich der Meinung, dass Medardus fest an deren übersinnliche Wirkung glaubt.



    Zitat von "riff-raff"

    Mir ist dabei eine Parallele aufgefallen zwischen Medardus Motivation ins Kloster einzutreten und seinem späteren Verlangen – nach Genuss des Elixiers – wieder davon loszukommen.


    Hast Du die Elixiere denn bereits gelesen? Oder wie kannst Du die Parallele ziehen?


    Zitat von "riff-raff"

    die „Einkleidung“ findet dann aber doch hastig und übereilt statt und ist eng mit seiner erwachenden Sexualität gekoppelt: Der zufällige Anblick der „beinahe ganz entblössten Brust“ der Tochter des Konzertmeisters hat eine solche Flut von neuen, verwirrenden und erschreckenden Gefühlen in dem Jüngling hochgeschwemmt, dass er um sein Seelenheil bangt. Einzig die Flucht hinter Klostermauern verspricht, die verlorene Gemütsruhe (Unschuld?) wiederzufinden.


    Ich hatte diese Szene anders interpretiert. Nach dieser "entblößten Brust" ist Medardus verwirrt - wie wohl jeder junge Mann diesen Alters ;-)


    Doch die Einkleidung findet erst mit der Enttäuschung statt: Nämlich als besagte Tochter des Konzertmeisters sich darüber angeblich amüsiert, wie er ihren Handschuh verzückt an seine Nase presst. Er flieht in seine Kammer, will sich zum Fenster hinausstürzen, ist ganz theatralischer "Teenager". Erst danach fasst er den Entschluß, sich mit Leib und Seele Gott zu verschreiben.


    Mir ist aufgefallen, dass sich das Klosterleben durch pure Harmonie und absoluter Frieden auszeichnet. Kein böses Wort herrscht unter den Brüdern und doch muss auf jeder Sonnenseite auch eine Schattenseite existieren. Ich sehe Medardus also auch als eine Art Ausgleich zu diesem Klosterleben.


    Liebe Grüße
    nimue

  • Hallo zusammen!
    Hallo, nimue!


    Zitat von "nimue"

    Man merkt meiner Meinung nach bereits sehr früh Medardus' geistige Verwirrung:


    Was ist für die Liebe der Raum, die Zeit! - Lebt sie nicht im Gedanken und kennt der denn ein Maß? - Aber finstre Gestalten steigen auf, und immer dichter und dichter sich zusammendrängend, immer enger und enger mich einschließend, versperren sie die Aussicht und befangen meinen Sinn mit den Drangsalen der Gegenwart, dass selbst die Sehnsucht, welche mich mit namenlosem wonnevollem Schmerz erfüllte, nun zu tötender heilloser Qual wird. (Kapitel 1, Seite 19)


    Du darfst nicht übersehen, welcher Medardus hier eigentlich spricht; meiner Meinung nach ist es nämlich nicht der "junge", sondern der "alte" Medardus, der hier beim - rückblickenden - Abfassen seiner Beichte vor sich hin philosophiert. Tatsächlich fängt der von dir zitierte Absatz mit den Worten an: Wie umfängt mich noch wie ein seliger Traum die Erinnerung an jene glückliche Jugendzeit!


    Weiter schreibst du:

    Zitat

    Das Elixier ist für mich allerdings weder Auslöser, noch Verstärker, denn die Ansätze der geistigen Verwirrung sind gegeben (vielleicht durch "Erbsünde"?) und ich denke, dass sich sein Wesen mit der Zeit in die gleiche Richtung begeben hätte. Doch der Glaube kann Berge versetzen und obwohl ein Mönch ihn über die "Echtheit" der Reliquien aufgeklärt hat, bin ich der Meinung, dass Medardus fest an deren übersinnliche Wirkung glaubt.


    Das ist ein faszinierender Gedanke... Gehe ich recht in der Annahme, wenn ich daraus folgere, dass du dir die "Wirkung" des Elixiers als eine Art Placebo-Effekt erklärst? Auch ich habe darüber nachgedacht und bin zu folgender Grundsatz-Frage gekommen: Gibt es den Teufel oder gibt es ihn nicht? Dabei spielt es keine Rolle, ob ich daran glaube oder ob E. T. A. Hoffmann daran glaubte oder nicht - es geht allein um die Frage, ist der Teufel im vorliegenden Roman nur eine Chiffre, ein Symbol oder müssen wir ihn uns als eine reale Figur der Handlung vorstellen, genau so real wie Medardus, der Prior Leonardus oder die Fürstin/Äbtissin? Ich selbst habe mich für zweiteres entschieden. Unter anderem auch wegen der geheimnisvollen Sache mit dem Reliquienschrank-Schlüssel...


    Wie du dich erinnerst, hat Medardus diesen Schlüssel extra vom Schlüsselbund genommen und in einer Schublade seines Zimmers versteckt um gar nicht erst in Versuch zu kommen, ihn zu benutzen...


    Da fiel mir der kleine Schlüssel in die Hände, den ich damals, um jeder Versuchung zu entgehen, vom Bunde löste, und doch hatte ich ohne ihn [...] den Schrank aufgeschlossen? - Ich untersuchte meinen Schlüsselbund, und siehe ein unbekannter Schlüssel, mit dem ich [...] den Schrank geöffnet, ohne in der Zerstreuung darauf zu merken, hatte sich zu den übrigen gefunden. (S. 48)


    Dieser zweite "unbekannte Schlüssel" existiert, er ist keine blosse Einbildung Medardus'. Woher kommt er? Irgendjemand hat ihn an seinen Schlüsselbund befestigt. Einer, der wollte, dass Medardus vom Elixier trinkt... - Tut mir leid, aber ich für meinen Teil finde keine plausiblere Erklärung, als dass es der Teufel selbst getan hat. Würde mich brennend interessieren, wie ihr euch die ganze Sache erklärt...


    Langer Rede kurzer Sinn: Wenn ich davon ausgehe, dass der Teufel im Roman tatsächlich existiert, dann gibt es auch keinen Grund an der Wirkung des Elixiers zu zweifeln.



    Zitat

    Ich hatte diese Szene anders interpretiert. Nach dieser "entblößten Brust" ist Medardus verwirrt - wie wohl jeder junge Mann diesen Alters ;-)


    Doch die Einkleidung findet erst mit der Enttäuschung statt: Nämlich als besagte Tochter des Konzertmeisters sich darüber angeblich amüsiert, wie er ihren Handschuh verzückt an seine Nase presst. Er flieht in seine Kammer, will sich zum Fenster hinausstürzen, ist ganz theatralischer "Teenager". Erst danach fasst er den Entschluß, sich mit Leib und Seele Gott zu verschreiben.


    Du hast natürlich Recht... - man kann eben nie aufmerksam genug lesen. Danke, dass du mich darauf aufmerksam gemacht hast. :winken:


    Liebe Grüsse


    riff-raff

  • Hallo zusammen!
    Hallo, nimue!


    Zitat von "nimue"

    Hast Du die Elixiere denn bereits gelesen? Oder wie kannst Du die Parallele ziehen?


    Nein, ich habe die Elixiere noch nie vorher gelesen - meine Beobachtungen stützen sich allein auf das erste Kapitel. Gegen Ende desselben fasst Medardus ja den Plan, das Kloster zu verlassen:


    Endlich stand es fest in meiner Seele, meiner Qual durch die Flucht aus dem Kloster ein Ende zu machen. Denn nur die Befreiung von den Klostergelübden schien mir nötig zu sein, um das Weib in meinen Armen zu sehen und die Begierde zu stillen, die in mir brannte. (S. 54)


    Einzig dem Prior Leonardus ist es zu verdanken, dass Medardus die Klostermauern nicht in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, sondern auf ehrenhaftere Weise hinter sich lässt: mit einem vorgeblichen (?) Rom-Auftrag versehen lässt er ihn in die Welt hinaus ziehen.


    Beides, sowohl Medardus' Eintritt ins Kloster wie auch sein Austritt (auch wenn es ja Dank Prior Leonardus kein wirklicher Austritt ist...) hatten meiner Meinung nach mit dem Sexualtrieb zu tun.


    Gruss


    riff-raff

  • Hallo liebe Mitlesenden (?),
    hallo riff-raff,


    Zitat von "riff-raff"

    Du darfst nicht übersehen, welcher Medardus hier eigentlich spricht; meiner Meinung nach ist es nämlich nicht der "junge", sondern der "alte" Medardus, der hier beim - rückblickenden - Abfassen seiner Beichte vor sich hin philosophiert. Tatsächlich fängt der von dir zitierte Absatz mit den Worten an: Wie umfängt mich noch wie ein seliger Traum die Erinnerung an jene glückliche Jugendzeit!


    Das stimmt, aber dennoch bin ich der Meinung, dass Medardus nicht durch den Teufel verkam, sondern die geistigen Anlagen bereits vorher vorhanden waren. Das Elixier mag Verstärkung gewesen sein, doch Auslöser ganz sicher nicht. Sonst hätte es auch andere Mönche verführt und diejenigen, die reinen Herzens waren, nahmen nur einen widerlichen Geruch wahr. Medardus jedoch einen lieblichen.


    Zitat von "riff-raff"

    Das ist ein faszinierender Gedanke... Gehe ich recht in der Annahme, wenn ich daraus folgere, dass du dir die "Wirkung" des Elixiers als eine Art Placebo-Effekt erklärst?


    Ich kann diese Frage ehrlich gesagt noch nicht beantworten, denn einerseits hast Du natürlich recht, wenn man die Sache mit dem Schlüssel bedenkt. Alles andere (die zwei Fremden, die Wirkung des Elixiers, der Unbekannte in der Kirche) könnte ich mir mit der geistigen Verwirrung Medardus' erklären.


    Ich glaube, ETA Hoffmann hat sich etwas dabei gedacht, als er "Die Elixiere des Teufels" schrieb. Ich kann besser damit leben, wenn ich den Teufel als Symbol betrachte, denn als wirkliche Gestalt. Denn ansonsten könnte Medardus für seine folgenden Taten wohl kaum zur Rechenschaft gezogen werden. Er ist dann im weitesten Sinne sogar unschuldig, da das Elixier ihn gefügig gemacht hat. Wenn der Teufel jedoch eine wirkliche Gestalt ist, warum greift Gott dann nicht ein? Er müsste dann nämlich eine ebenso wirklich Gestalt haben. Vielleicht war aber auch der Pilder und dessen Mündel der Sendbote Gottes?


    Ist Dir übrigens aufgefallen, wie Hoffmann mit dem Leser spielt? Ihm einerseits die Abgründe Medardus' Seele vor Augen führ, ihm andererseits aber auch die Schönheit der Welt so beschreibt, dass es schon fast kitschig wirkt?


    In blauen Duft gehüllt lag das Kloster unter mir im Tale; der frische Morgenwind rührte sich und trug, die Lüfte durchstreichend, die frommen Gesänge der Brüder zu mir herauf. Unwillkürlich stimmte ich ein. Die Sonne trat in flammender Glut hinter der Stadt hervor, ihr funkelndes Gold erglänzte in den Bäumen, und in freudigem Rauschen fielen die Tautropfen wie glühende Diamanten herab auf tausend bunte Insektlein, die sich schwirrend und sumsend erhoben. Die Vögel erwachten und flatterten, singend und jubilierend und sich in froher Lust liebkosend, durch den Wald! (Zweiter Abschnitt, Seite 58)


    Ich bin inzwischen übrigens auf Seite 83 des zweiten Abschnitts und würde gerne noch allgemein etwas zum Buch sagen: Es ist erstaunlich flüssig zu lesen, obwohl ich mich immer wieder zu Aufmerksamkeit anhalten muss. Gewisse Redewendungen und Ausdrücke (Shawl etc.) lassen das Alter der Geschichte erkennen, aber bisher habe ich keine größeren Schwierigkeiten damit.


    Medardus selbst fasziniert mich einerseits, aber er stößt mich auch ab. Bisher hat er noch nichts böses getan. Im Gegenteil: Er wird sogar oft noch von seinem Gewissen geleitet, über das aber immer öfter die eigenen Bedürfnisse siegen. Das macht ihn vom Mönch zum Menschen. Ich bin jedenfalls sehr gespannt, wie er sich noch weiterentwickelt.


    Liebe Grüße
    nimue

  • Hallo zusammen,


    da ihr ja noch nicht sehr weit seid, kann ich mich ja noch einsteigen. Um nicht immer wieder neue Bücher für Leserunden kaufen zu müssen, sollte ich mich bei den Runden einklinken, deren Bücher „griffbereit" sind (und nicht immer noch auf Regale hoffend in Kartons lagern).
    Ich habe die 4-bändige E.T.A. Hoffman-Insel-Ausgabe von 1967.


    Die Einleitung und Die Jahre der Kindheit und das Klosterleben habe ich durch.
    Schön finde ich, wie ETA die Stimmung beschreibt, in die der Leser sich versetzen soll. Habe ich heute Abend auch getan, im „Gärtche".


    Der Roman beginnt wie eine der romantischen Schauergeschichten mit dem alten Kunstgriff: Der Autor findet eine alte Niederschrift und gibt sie wieder. Allerdings weist ETA bereits in der Einleitung darauf hin, dass es nicht um das Übernatürliche geht, sondern um die Höhen und Tiefen des Menschseins.

    Die Geburt von Franz und seine ersten Jahre sind richtig idyllisch. Dass er irgendwann ein schweres Erbe tragen darf, wird durch das „Sündhafte" seines Vaters klar. Auch tauchen neben seiner Mutter fast archetype Gestalten (der Maler, der Pilger, das Kind) auf, die bestimmt später nochmals eine wichtige Rolle spielen werden.


    In den zwei Klöstern geht die Idylle weiter (um später den Einruch des „Bösen" noch heftiger wirken zu lassen?). Franz ist ein Wunderkind, alles gelingt ihm, allerdings bekommt er von der „wirklichen" Welt sehr wenig mit, Alles um in herum ist in Harmonie.


    Bis er merkt, dass es noch etwas anderes, gibt - ein fast entblößter Busen löst in ihm schrecklich unbekannte Gefühle aus. Franz kennt nur die kirchliche Welt, in der er gelernt hat, das diese Gefühle die „Versuchung" sind. Und der Versucher ist nun mal der Teufel. Da er sich nicht dem „Teufel" preisgeben kann bleibt nur ein Weg, die „Einkleidung". In Nebensätzen fällt hie und da auch das Wort „Kasteien", mit dem Mönche gegen die „Versuchung" angehen.
    Heute, da Nacktheit nichts besonderes mehr ist, kaum noch nachvollziehbar. Und doch macht auch heute jeder Jugendliche eine Phase der Scham durch und wendet sich zu Beginn der Pubertät auffällig anderen Dingen zu, die damit diesen unbekannten „peinlichen" Gefühlen überhaupt nichts zu tun hat. Er flieht vor dem Unbekannten.


    Franz führt über Jahre ein ruhiges Leben als Medardus (bis 21??) und verwaltet die Reliquien. Besonders interessant ist der Passus, in dem der alte Mönch klarmacht, das es nicht auf die Echtheit der Reliquien ankommt, sondern auf die Wirkung auf die Gläubigen. Und um die ein Stückchen von der „Erhabenheit" fühlen zu lassen und damit zu besseren Menschen zu machen, ist jedes Mittel recht.


    Da trifft ihn, von ihm unbemerkt, eine zweite „Versuchung" - die des Stolzes und Hochmutes. Da seine Predigten, anfangs aus reinem Herzen, ihn bei den Kirchgängern zu etwas besonderem machen. Er will immer mehr, fühlt sich berufen, sieht warnende Worte als Neid und Mißgunst an. Bis er sich in eine Art Hysterie steigert, die ihn zusammenbrechen läßt. Kurz davor gibt ihm sein Geist noch ein Warnzeichen in der Gestalt des „Malers", das er aber nicht versteht.


    Er muss sich wieder zurückziehen, bis zum Besuch des Grafen, der in seiner Unbedarftheit das Elixier als alten Wein entlarvt. In seiner Verzweiflung, seine alte Wertschätzung wieder zu erlangen probiert Medardus das Elixier und siehe da, der alte Mönch hat recht - die Reliquie wirkt auf den „Gläubigen".


    Er hat aber nichts gelernt und macht da weiter, wo er durch seinem Zusammenbrach endete. Die Menschen, die ihm etwas bedeuten, sehen sein wirken jedoch ganz anders und zusätzlich tritt wieder die „Versuchung" an ihn heran.
    Da er sich verkannt, ja verraten und von niemand mehr gehalten fühlt, kann er ihr jetzt nachgeben.
    Er muß in die richtige Welt.


    Alles sind sehr bildhaft, wie nimue schon sagt, fast übertrieben dargestellt, aber trotz der für uns altertümlichen Sprache leicht und gut lesbar.


    Wer will, kann, wie der Autor wahrscheinlich auch beabsichtigte, Übersinnliches feststellen. Ich sehe bisher nur gut beobachtete Psychologie (wer hat sich nicht schon über "junge Schnösel" geärgert, die ein Talent haben und meinen sie wären jetzt schon die Größten *gg*)


    LG Dyke

  • Hallo Dyke,


    willkommen in der Leserunde. Schön, dass Du hier jetzt auch mitmachst :-)


    Ich bin inzwischen im Vierten Abschnitt und komme so zum "Leben am früstlichen Hofe".


    Zitat von "Dyke"

    Der Roman beginnt wie eine der romantischen Schauergeschichten mit dem alten Kunstgriff: Der Autor findet eine alte Niederschrift und gibt sie wieder. Allerdings weist ETA bereits in der Einleitung darauf hin, dass es nicht um das Übernatürliche geht, sondern um die Höhen und Tiefen des Menschseins.


    Ich habe in meiner Ausgabe einen netten kleinen Anhang, aus dem ich jetzt mal zitieren möchte:


    Am 24.03.1814 hatte Hoffmann an den Bamberger Freund Carl Friedrich Kunz begeistert geschrieben: "Das Büchlein heißt: Die Elixiere des Teufels, aus den nachgelassenen Papieren des Paters Medardus, eines Capuziners. es ist darin auf nichts geringeres abgesehen, als in dem krausen, wunderbaren Leben eines Mannes, über den schon bey seiner Geburt die himmlischen und dämonischen Mächte walteten, jene geheimnißvollen Verknüpfungen des menschlichen Geistes mit all' den höhern Prinzipien, die in der ganzen Natur verborgen und nur dann und wann hervorblitzen, welchen Blitz wir dann Zufall nennen, recht klar und deutlich zu zeigen.


    Da Hoffmann sich lange Jahre mit Musik und der Komposition beschäftigt hat, schreibt er weiter:


    Um mich musikalisch auszudrücken, fängt der Roman mit einem Grave sostenuto an - mein Held wird im Kloster zur heiligen Linde in Ostpreußen geboren, seine Geburt sühnt den verbrecherischen Vater - Joseph und das Christuskind erscheinen pp - dann tritt ein Andante sost. e piano ein - das Leben im Kloster, wo er eingekleidet wird - aus dem Kloster tritt er in die buntbunteste Welt - hier hebt ein Allegro forte an.

    Zitat

    Die Geburt von Franz und seine ersten Jahre sind richtig idyllisch. Dass er irgendwann ein schweres Erbe tragen darf, wird durch das „Sündhafte" seines Vaters klar. Auch tauchen neben seiner Mutter fast archetype Gestalten (der Maler, der Pilger, das Kind) auf, die bestimmt später nochmals eine wichtige Rolle spielen werden.


    Wie das Kind, das als Jesusknabe im Anhang bezeichnet wird, erscheint als Künstler, der das Kreuz (das Zeichen seines Opfertodes und damit der Erlösung der Menschheit) in die Erde malt und Medardus Bilder der Kirche erklärt. Medardus wird kurz daraufhin vom Kreuz der Äbtissin gezeichnet - die Narbe trägt er sein weiteres Leben mit sich herum. Auch Medardus ist ein Künstler - jedoch einer der heiligen Rede. Doch er wird verführt vom Ehrgeiz und muss büßen.


    Zitat

    Heute, da Nacktheit nichts besonderes mehr ist, kaum noch nachvollziehbar. Und doch macht auch heute jeder Jugendliche eine Phase der Scham durch und wendet sich zu Beginn der Pubertät auffällig anderen Dingen zu, die damit diesen unbekannten „peinlichen" Gefühlen überhaupt nichts zu tun hat. Er flieht vor dem Unbekannten.


    Tatsächlich habe ich das Gefühl, dass sich Medardus oft wie ein gewöhnlicher Mensch benimmt. Manchmal erscheint er zwar besessen, doch die Versuchungen, denen er erliegt, sind menschlich und viele seiner Gefühle nachzuvollziehen.


    Es ist für mich nur logisch, dass er der sexuellen Obsession zu Aurelie erliegt, denn sie ist im Buch der Inbegriff der Unschuld und hat etwas engelsgleiches an sich. Ist Medardus tatsächlich vom Teufel besessen, so muss er diese Unschuld zerstören, denn sie ist sein größter Widersacher.


    Die Erzählung lebt meiner Meinung nach aber nicht von Medardus' abstruser Geisteswelt, sondern auch von den sehr eigenwilligen Charakteren. Angefangen beim Friseur, der ebenso wie später der Förster einen langen Monolog hält.


    Im Dritten Abschnitt taucht schließlich auch zum ersten Mal Medarus' "alter Ego" auf: Sein Doppelgänger, der ihm zuerst Angst einjagt, ihn dann jedoch über seine letzten Lebenswochen nachdenken lässt und ihn zur (vermeintlichen?) Umkehr bringt.


    Liebe Grüße
    nimue

  • Hallo, nimnue! Hallo, Dyke!


    Ich möchte nochmals auf den zweiten Abschnitt des ersten Bandes („Der Eintritt in die Welt“) zu sprechen kommen... Nimnue, du hast mit Recht auf die idealisierende, beinahe „kitschige“ Naturbeschreibung im ersten Absatz hingewiesen; auf einer Erhöhung stehend schaut Medardus auf das unter ihm liegende Kloster, das er soeben im Begriff ist zu verlassen. Luft, Sönne, Vögel, die frommen Gesänge der Mönche,... alles trägt zu einem Bild vollkommener Harmonie bei, die Medardus nichtsdestotrotz hinter sich zu lassen gedenkt, um sich ins Unbekannte der Welt zu begeben. Diese äussere Harmonie findet Entsprechung in Medardus Seelenzustand: Er versucht sich das Bild der Frau vor Augen zu führen, deren Liebesgeständnis die Brunst und das wilde Verlangen entfacht haben, die schützenden Klostermauern zu verlassen „aber ihr Bild, war wie von fremder unbekannter Macht verwischt [...] je mehr ich trachtete, die Erscheinung im Geiste festzuhalten, desto mehr zerran sie in Nebel“ (S. 58/9). Rückblickend erscheinen ihm auch all die anderen sonderbaren Erlebnisse im Klosters wie blosse Einbildungen und Illusionen: „Immer vertrauter werdend mit der Idee nur geträumt zu haben, konnte ich mich kaum des Lachens über mich selbst erwehren [...]" (S. 59). Wie befreit schreitet er aus, bereitwillig den Auftrag seines Priors erfüllend, der ihn bis nach Rom bringen soll. Der Zufall, das Schicksal, das Verhängnis – man mag es nennen, wie immer man will – setzt erst wieder ein, als er erneut einen Zug aus der Elixier-Flasche tut: „Es war hoher Mittag, die Sonne brannte auf mein unbedecktes Haupt, ich lechzte vor Durst [...] und konnte nicht widerstehen, einen Zug aus der Korbflasche zu tun [...].“ Unmittelbar darauf stösst er auf Viktorin, der hart am Rande eines Abgrundes sitzend eingenickt ist. Als Medardus ihn zu wecken versucht, erschrickt dieser so, dass er in den Abgrund stürzt und stirbt. Fortan wird Medardus Viktorins Rolle übernehmen...


    Nicht nur, dass Medardus Viktorin bis aufs Haar gleicht, nein, er trägt auch noch die Mönchskutte, eben jene Verkleidung mit der sich Viktorin ins Schloss des Barons von F. einschleichen wollte, um seiner Geliebten, Euphemie, der Frau des Barons, nahe zu sein. Ich habe mich gefragt, ob Hoffmann hier nicht ein Bisschen zu dick aufträgt; dass sich zwei Menschen äusserlich so sehr gleichen sollen, dass nicht einmal die eigene Geliebte den Betrug bemerkt, na ja... Amphitryon lässt grüssen... – Wobei mir noch der Gedanke kommt, dass Leser des 19. Jahrhunderts an solch grosszügig aufgetischten Zufällen weniger Anstoss nahmen als heutige Leser. Das Ganze hat was von Trivialliteratur, deren Hoffmann sich hier anscheinend genüsslich bedient (möchte ihm schliesslich nichts unterstellen...).


    Am Schloss des Barons wird Medardus in eine seltsam schizophrene Rolle gedrängt: Während Reinhold, der Freund des Barons, in ihm unschwer den Mönchen Medardus wiedererkennt, den er schon mal predigen gesehen hat, hält ihn Euphemie weiterhin für ihren Geliebten Viktorin. Ein Zwiespalt, den Medardus/Hoffmann pointiert zur Sprache bringt: „Ich bin das, was ich scheine, und scheine das nicht, was ich bin, mir selbst ein unerklärliche Rätsel, bin ich entzweit mit meinem Ich!“ (S. 76)


    Natürlich trifft er auf dem Schloss, Zufall über Zufall – der Leser ahnt es schon – seine Heilige Rosalia (sprich: Aurelie) wieder. Während ausführlich beschrieben wird, wie der Donnerschlag dieses unverhofften Zusammentreffen Medardus beinahe aus seiner Viktorin-Rolle kippt, bleiben Aurelies Reaktionen angesichts des Geliebten (dem sie schliesslich im Beichtstuhl ihre Liebe offenbart hat) völlig aussen vor und finden mit keinem Wort Erwähnung, was ich reichlich seltsam fand.



    Liebe Grüsse


    riff-raff


    P. S.: Die Seitenangaben beziehen sich auf die dtv-Ausgabe, 3. Auflage Juli 2001.

  • Hallo zusammen!


    Zitat von "nimue"

    Es ist für mich nur logisch, dass er der sexuellen Obsession zu Aurelie erliegt, denn sie ist im Buch der Inbegriff der Unschuld und hat etwas engelsgleiches an sich. Ist Medardus tatsächlich vom Teufel besessen, so muss er diese Unschuld zerstören, denn sie ist sein größter Widersacher.


    Für diesen deinen interessanten Aspekt sprechen auch gewisse Stellen im Text. Dafür, dass Medardus auf Aureliens Verderben aus ist, z. B. die folgende:


    „Meine Bemühungen brachten mich nicht weiter; statt in Aurelien das verderbliche Feuer zu entzünden, das sie der Verführung preisgeben sollte, wurde nur qualvoller und verzehrender die Glut, die in meinem Innern brannte. – Rasend vor Schmerz und Wollust, brütete ich über Pläne zu Aureliens Verderben [...]“ (Erster Band, zweiter Abschnitt, S. 91)


    Und dafür, dass Aurelie unter dem schirmenden Schutz einer himmlischen Macht steht:


    „Oft kam es mir in den Sinn, durch einen wohlberechneten Gewaltstreich, dem Aurelie erliegen sollte, meine Qual zu enden, aber sowie ich Aurelien erblickte, war es mir, als stehe ein Engel neben ihr, sie schirmend und schützend und Trotz bietend der Macht des Feindes.“ (Erster Band, zweiter Abschnitt, S.91)


    Gruss


    riff-raff

  • Hallo riff-raff,


    mein aktueller Lesestand: Zweites Buch, Erster Abschnitt, Seite 228 (dtv Ausgabe)


    Zitat von "riff-raff"

    Nimue, du hast mit Recht auf die idealisierende, beinahe „kitschige“ Naturbeschreibung im ersten Absatz hingewiesen; auf einer Erhöhung stehend schaut Medardus auf das unter ihm liegende Kloster, das er soeben im Begriff ist zu verlassen. Luft, Sönne, Vögel, die frommen Gesänge der Mönche,... alles trägt zu einem Bild vollkommener Harmonie bei, die Medardus nichtsdestotrotz hinter sich zu lassen gedenkt, um sich ins Unbekannte der Welt zu begeben.


    Auch die Liebe, die er im Herzen fühlt, wird oft idealisiert - wenn er nicht von seiner Obsession zu Aurelie geleitet wird:


    Sowie ich Aurelien erblickte, fuhr ein Strahl in meine Brust und entzündete all die geheimsten Regungen, die wonnevollste Sehnsucht, das Entzücken der inbrünstigen Liebe, alles, was sonst nur gleich einer Ahnung aus weiter Ferne im Innern erklungen, zum regen Leben; ja das Leben selbst ging mir nun erst auf, farbicht und glänzend, denn alles vorher lag kalt und erstorben in öder Nacht hinter mir. (Erster Teil, zweiter Abschnitt "Der Eintritt in die Welt")


    und


    In wessen Leben ging nicht einmal das wunderbare, in tiefster Brust bewahrte Geheimnis der Liebe auf! - Wer du auch sein magst, der du künftig diese Blätter liesest, rufe dir jene höchste Sonnenzeit zurück, schaue noch einmal das holde Frauenbild, das, der Geist der Liebe selbst, dir entgegentrat. Da glaubtest du ja nur in ihr dich, dein höheres Sein zu erkennen. Weißt du noch, wie die rauschenden Quellen, die flüsternden Büsche, wie der kosende Abendwind von ihr, von deiner Liebe so vernehmlich zu dir sprachen? Siehst du es noch, wie die Blumen dich mit hellen freundlichen Augen anblickten, Gruß und Kuß von ihr bringend? (Zweiter Teil, erster Abschnitt "Der Wendepunkt")


    Zitat von "riff-raff"

    dass sich zwei Menschen äusserlich so sehr gleichen sollen, dass nicht einmal die eigene Geliebte den Betrug bemerkt, na ja... Amphitryon lässt grüssen... – Wobei mir noch der Gedanke kommt, dass Leser des 19. Jahrhunderts an solch grosszügig aufgetischten Zufällen weniger Anstoss nahmen als heutige Leser. Das Ganze hat was von Trivialliteratur, deren Hoffmann sich hier anscheinend genüsslich bedient (möchte ihm schliesslich nichts unterstellen...).


    Dick aufgetischt sicherlich, doch: Medardus steht unter dem Einfluss des Teufels. Und warum sollte das Dunkle ihm nicht helfen und die Wahrnehmung der anderen verwischen. Einzig der irre Hermogen erkannte das Böse in Medardus. Ein Paradoxon: Geschärfte Sinne und geistige Verwirrung in einer Person. Genauso ein Paradoxon: Liebe und Obsession. Hoffmann beschreibt meiner Meinung nach nichts anderes als die Wirklichkeit: Jeder sieht normalerweise nur das, was er zu sehen erwartet.


    Mir ist aufgefallen, dass Medardus sehr unter dem Einfluss der Weiblichkeit steht. Abgesehen von der Obsession zu Aurelie, nahmen sowohl seine Mutter als auch die Äbtissin und die Fürstin eine entscheidende Rolle in seinem Leben ein.


    Ebenfalls interessant die Namensgebung, derer Hoffmann sich bedient:


    Medardus - der mächtig Starke (althochdt. - latein.)
    Patron der Bauern, Winzer und Bierbrauer; für trockenes Heuwetter und eine gute Ernte, für Befreiung von Gefangegen; gegen Regen, Zahnschmerzen, Fieber und Geisteskrankheiten
    Medardus


    Aurelie aureus=golden. Aurelia von Straßburg: Jungfrau, Märtyrerin; Aurelia von Regensburg: Reklusin (Reklusen oder Inklusen - lateinisch "Zurückgezogene" oder "Eingeschlossene" - sind Menschen, die zurückgezogen von der Welt, eingeschlossen in einer Zelle bei einem Kloster oder in einer Einsiedelei, ein Leben der Buße führen.)


    Hermogen lt. Heiligenlexikon: Diener, Märtyrer


    Euphemia Frau von gutem Ruf (griech.). Sie war eine Märtyrerin im Jahre 280 n.Ch.


    Vielleicht ist das ja interessant für euch. Ich finde es jedenfalls bemerkenswert, dass sowohl Hermogen als auch Euphemia sterben, wie es auch Märtyrer tun. Bleibt abzuwarten, was Aurelie für ein Schicksal erleiden wird.


    Liebe Grüße
    nimue

  • Hallo zusammen!
    Hallo nimue!


    Schön, dass du dir die Mühe genommen hast, mehr über die Namen der Romanfiguren herauszufinden. Sehr interessant. Hatte mich auch schon gefragt, was sich hinter den Namen verberge, und ob es sich wohl um 'sprechend Namen' handle. Danke!


    Gruss


    riff-raff

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  • Hallo zusammen!


    Ich bin jetzt ebenfalls mit dem ersten Band durch und muss sagen, das letzte Kapitel (Kapitel IV) hat es echt in sich, vor allem die zweite Hälfte. Ich musste das Ganze drei Mal lesen ehe ich einigermassen den Durchblick hatte. Medardus befindet sich ja am Hofe des Fürsten Alexander, wo er hofft mit dessen Frau in Kontakt zu kommen, welches die Schwester der Äbtissin ist. Aber aus unerklärlichen Gründen scheint die Fürstin tiefes Misstrauen ihm gegenüber zu empfinden, so dass Medardus sich ihr nie richtig zu nähern vermag. Als er diesen Umstand dem Leibarzt des Fürsten mitteilt, gibt ihm dieser ein Miniaturbild in die Hand mit der Aufforderung, es sich genau anzusehen. „Ich tat es, und erstaunte nicht wenig, als ich in den Zügen des Mannes, den das Bild darstellte, ganz die meinigen erkannte.“ Es handelt sich dabei um das Porträt eines gewissen Francesko. „„Und eben diese Ähnlichkeit“, sagte er [der Leibarzt]: „ist es, welche die Fürstin erschreckt und beunruhigt, sooft Sie in ihre Nähe kommen, denn Ihr Gesicht erneuert das Andenken einer entsetzlichen Begebenheit, die vor mehreren Jahren den Hof traf, wie zerstörender Schlag.““ Damit beginnt der Leibarzt Medardus eine Geschichte zu erzählen, die ich mir folgendermassen aufgeschlüsselt habe...


    Auftretende Personen:


    - Fürst Alexander
    - Fürstin (Ehefrau Alexanders)
    - ältere Schwester der Fürstin


    Anlässlich der Vermählung des Fürstenpaars treten hinzu:


    - ein Prinz (Bruder des Fürsten)
    - Francesko
    - ein Maler


    Zwischen dem Prinzen und der jungvermählten Fürstin (der Frau seines Bruders, seine Schwägerin also) kommt es zu einer geheimen Liebschaft, ebenso zwischen Francesko und der älteren Schwester der Fürstin. Das währt so lange bis auftritt:


    - eine italienische Prinzessin


    Sowohl der Prinz (Bruder des Fürsten) als auch Francesko wenden jetzt die Aufmerksamkeit von ihrem bisherigen Liebesobjekt ab und richten sie stattdessen auf die italienische Prinzessin. Wobei Francesko den Kürzeren zieht: Es kommt zur Vermählung zwischen dem Prinzen und der ital. Prinzessin. In der Hochzeitsnacht findet man den Prinzen tot vor dem ehelichen Schlafgemach. Erstochen. Nach der Aussage einer Zimmerzofe fällt der Verdacht schnell auf den Maler, der aber wie vom Erdboden verschluckt und nicht mehr auffindbar ist.


    Nach seinem fehlgeschlagenen amourösen Seitensprung hat sich Francesko wieder der älteren Schwester der Fürstin zugewandt. Die beiden beschliessen zu heiraten. Aber noch vor dem Ja-Wort, schon in der Kirche, erblickt Francesko plötzlich den Maler, wie er an einer Säule lehnt und ihn anklagend anstarrt. Nachdem Francesko vergeblich versucht hat den Maler zu erstechen, erleidet er einen Nervenzusammenbruch und verschwindet anschliessend genauso spurlos wie der geheimnisvolle Maler. Die um ihre Hochzeit gebrachte Schwester der Fürstin, „im Innersten zerrissen von den schrecklichen Begebenheiten, die in so kurzer Zeit auf sie eindrangen“, entscheidet sich ins Kloster zu gehen und wird Äbtissin des Zisterzienserklosters in ***. Die verwitwete ital. Prinzessin hingegen, hat inzwischen einen Sohn geboren und ist im Kindbett gestorben.


    Am Ende der Erzählung des Leibarztes muss Medardus erschüttert feststellen, dass er eben dieser Sohn der italienischen Prinzessin ist. Und der Vater? Der Vater ist Francesko... Wie das? Nun, da gibt es im Bericht des Leibarztes eben eine Stelle, über die ich mehrmals hinweggelesen habe, ohne zu bemerken, dass es gerade diese Stelle ist, welche die Lösung des Problems enthält. Vor der Ermordung des Prinzen, am Abend der Hochzeit zwischen ihm und der ital. Prinzessin, spielt sich nämlich eine unscheinbare aber folgenschwere Begebenheit ab, die der Leibarzt mit folgendenden Worten berichtet:


    „Nach der Erzählung der Gemahlin des unglücklichen Prinzen, war er, gleich nachdem sie die Kammerfrauen entfernt, hastig ohne Licht in das Zimmer getreten, hatte alle Lichter schnell ausgelöscht, war wohl eine halbe Stunde bei ihr geblieben und hatte sich dann wieder entfernt; erst einige Minuten darauf geschah der Mord.“ (S. 190/1)


    Erst nach mehrmaligem Lesen habe ich realisiert, dass dieser „er“, der „hastig [und] ohne Licht [!] in das Zimmer“ der „Gemahlin“ tritt und alle Lichter schnell auslöscht [!], nicht der Ehemann, sondern sein abgeblitzter Rivale Francesko ist... Im Schutze der Dunkelheit holt sich Francesko das, was ihm nicht zusteht: Er vereinigt sich mit der ital. Prinzessin. Als er dann aus dem Zimmer tritt stösst er auf den rechtmässigen Ehemann, den Prinzen, und ersticht ihn.


    Aus dieser erschlichenen Hochzeitsnacht geht Medardus hervor ("Klar stand es vor meiner Seele, Francesko war mein Vater..." S. 194), er ist folglich der Sohn Franceskos und der ital. Prinzessin. Jetzt wissen wir also endlich, was es mit dieser „Todsünde“ des Vaters auf sich, von der gleich zu Beginn des Buches gesprochen wird. Weiter weiss der Leibarzt von diesem Sohn nur noch zu berichten, dass er, „die Frucht einer frevelichen, verruchten Tat [...] in entfernten Landen unter dem Namen des Grafen Viktorin erzogen“ wurde.


    Das wirft natürlich wieder Fragen auf, bisher sind wir ja davon ausgegangen, dass Graf Viktorin jener Fremde war, der, am Rande eines Abgrund schlafend, in denselben hinabgestürzt ist. Wenn Viktorin in Wirklichkeit aber Medardus ist, wer ist denn da eigentlich ums Leben gekommen?... Ziemlich verwirrend das Ganze...


    Dieses vierte Kapitel war für mich echt eine Lektion in Sachen Lesen.


    Liebe Grüsse


    riff-raff

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  • Hallo nimue!


    Zitat von "nimue"

    Hallo riff-raff,


    tut mir leid, aber ich kann mich erst wieder am Freitag oder Samstag melden, da ich gerade erst nach Hause gekommen bin (keinen Nerv mehr zum Schreiben) und ich morgen und evtl. übermorgen auf Dienstreise bin. Aber Medardus läuft uns ja nicht weg!


    Kein Problem... Bis dann!


    Gruss


    riff-raff

  • Hallo nimue!


    Scheint, als sei ich bei meiner Besprechung des 4. Kapitels im 1. Band etwas voreilig gewesen. Ich habe ja mit der Hypothese geendet, Medardus und Graf Viktorin seien ein und dieselbe Person. Wenn man aber liest, was der Leibarzt im 2. Band weiter erzählt, wird klar, dass alles wesentlich einfacher und logischer ist...


    Der Leibarzt zu Medardus/Leonardus:


    "Ist es Ihnen dabei nicht völlig klar worden, dass Francesko verbrecherisch die Italienerin liebte? dass er es war, der vor dem Prinzen in die Brautkammer schlich, und den Prinzen niederstiess? - Viktorin ist die Frucht jener frevelichen Untat. - Er und Medardus sind Söhne eines Vaters." (S. 234)


    Medardus und Graf Viktorin sind also Halbbrüder, sie haben denselben Vater, aber verschiedene Mütter. Viktorin wurde mit der italienischen Prinzessin gezeugt (die in der Dunkelheit Francesko fälschlicherweise für ihren Ehemann hielt) und Medardus zu einem späteren Zeitpunkt mit einer weiteren Frau (dieselbe, die uns zu Beginn des Romans begegnet und zusammen mit dem kleinen Franz/Medardus auf Wallfahrt geht).


    Gruss


    riff-raff