Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm

  • Der erste Roman der Schriftstellerin und Gerichtsjournalistin Gabriele Tergit (d.i. Elise Reifenberg, geb. Hirschmann) "Käsebier erobert den Kurfürstendamm" erschien 1931 und umfasst als Handlungszeit die Jahre 1929 bis 1931, also die Endzeit der Weimarer Republik mit ihren wirtschaftlichen und politischen Zuspitzungen in Berlin.
    Ich habe ihn in der Ausgabe des Berliner Taschenbuchverlages gelesen.

    Käsebier ist ein Volkssänger auf einer kleinen Vorortbühne, der in einer Nachrichtenflaute von einem Schriftsteller nach einem Tipp aus dem journalistischen Milieu entdeckt und schließlich in der Presse so gehypt wird, dass er zum Objekt nicht nur von Vertretern der Kulturszene wird, sondern sich an ihn auch der ganze Rattenschwanz der Fanartikel-Industrie und sogar Bauspekulanten mit einem großen Projekt am Kurfürstendamm heften. Am Ende kommt es zum Zusammenbruch des ganzen Hypes in einer Zeit der Schnelllebigkeit und der sich verändernden Idole, was eine ganze Reihe an Konkursen und sogar Todesfällen nach sich zieht.

    Tergit vermittelt diese Handlung fast ausschließlich durch Dialoge im Zeitungsmilieu, kaufmännisch geprägtem Großbürgertum und der erweiterten Kulturszene. Wie in ihrem großen Roman "Effingers" gibt es keinen Erzählerkommentar, die notwendigen Zwischenhandlungen und die Zeitereignisse werden in lapidaren Sätzen abgehandelt. Wir Leser werden mitgenommen in die Redaktion der „Berliner Rundschau“, einer fiktiven Zeitung, die sich an das „Berliner Tageblatt“ anlehnt, für das Tergit ihre Gerichtsreportagen schrieb, zu Verhandlungen beim Justiziar, Besprechungen zwischen Finanzierern und Bauleuten, in die Salons des reichen, oft, wie in den Redaktionen, assimilierten jüdischen Bürgertums, am Ende zu aufgeregten Treffen zwischen Gläubigern und Konkursverwaltern.

    Die Autorin zeichnet mit ihrer dialogischen Methode sehr genau die Typen dieser hektischen Zeit voller Umbrüche nach, die Redakteure und Journalisten, die versuchen, ihre Redlichkeit zu bewahren und die aufstrebenden, am amerikanischen Kapitalismus orientierten Macher, die bereits damals den Zeitungen einen Boulevardcharakter auf Kosten der Informationspflicht und Überparteilichkeit verleihen wollten, um die Auflagen zu erhöhen, wobei ihnen die Folgen der Marktmechanismen für die beteiligten Personen egal waren.
    Hier erkennt man den überraschend modernen oder eher seitdem überzeitlichen Charakter des behandelten Sujets.
    Ein weiterer Schwerpunkt ist der Typus der damaligen modernen Frau, die hin und hergerissen wird zwischen überkommenen Rollenklischees und Autonomieansprüchen. Sie wird insbesondere verkörpert in der Journalistin Fräulein Dr. Köhler, die sich nicht aus ihren klassischen Sehnsüchten nach romantischer Liebe und Sicherheit befreien kann und der unabhängigen, sich am Rande der Gesellschaft bewegenden Käte Herzfeld, die ihre Freiheit genießt und sich dabei aber an viele Männer verschwendet, weil sie meint, freundliche Formen der Zugewandheit auch körperlich belohnen zu müssen. Daneben existieren die reichen Großbürgersgattinnen, die sich wie die Geier auf Versteigerungen von Hausrat nach Insolvenzen stürzen und jeglicher Empathie entbehren.
    Der Roman hat ein beachtliches Tempo, das der charakterisierten Zeit der Endzwanziger entspricht. Die Lektüre ist daher ein wenig anstrengend, bis man sich eingelesen hat. Auch weil den Lesenden einiges an Namenskenntnissen und anderen Hintergründen abverlangt wird, hätte der Neuausgabe des Romans ein Personenverzeichnis und einige Anmerkungen nicht geschadet. Das informative Nachwort der Herausgeberin Nicole Henneberg ersetzt einen solchen Apparat nicht.


    Ein wie die „Effingers“ zu Unrecht vergessener Klassiker, der durch sein ungewöhnliches Sujet und die besondere, sich jeglicher Kommentare enthaltende Schreibweise einen besonders entlarvenden und sehr authentisch wirkenden Blick auf die Endzwanziger, aber auch die immer noch und mehr denn je existierenden kapitalistischen Marktmechanismen mit ihren Auswirkungen auf die Menschen wirft. Leseempfehlung!

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)