Henning Mankell: Tea-Bag

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    Henning Mankell hat vielerlei geschrieben: die berühmte Krimiserie über den schwedischen Polizisten Wallander; einige Krimis ohne Wallander; einige Bücher, die seine afrikanische Wahlheimat zum Schauplatz haben, und noch vieles andere - ich habe eben den Wiki-Artikel überflogen und bin baff über seine Produktivität. "Tea-Bag" habe ich, offensichtlich ungelesen, aus dem Offenen Schrank gezogen. Tea-Bag ist der Name der Titelheldin, einer jungen Frau aus dem Sudan. Den Namen Tea-Bag gibt sie sich selbst, als sie in einem spanischen Flüchtlingslager nach ihrer Identität gefragt wird. Er ist symptomatisch für die Beliebigkeit der Geschichten, die Flüchtlinge erzählen:



    "Das Flüchtlingslager war ein einziger summender Bienenstock von Gerüchten, welche Herkunftsländer zur Zeit als diejenigen galten, mit der Garantie auf Asylrecht entlassen zu werden. Es war, als sei das Lager ein Markt, auf dem verschiedene Länder und Asylmöglichkeiten an einer Börse notiert wurden ... Zu Beginn ihres Aufenthalts im Lager hatte Bangladesch ganz oben auf der Liste gestanden. Aus einem den Flüchtigen unbekannten Grund bewilligte Deutschland auf einmal all denjenigen Asyl, die aus Bangladesch kamen. Einige intensive Tage lang standen schwarze, braune, hellhäutige, schlitzäugige Menschen vor den kleinen Büros an (...) und wiederholten mit großer Treuherzigkeit, ihnen sei plötzlich eingefallen, dass sie aus Bangladesch kämen. (...) ... nach dreitägigem ungewissem Warten hatte sich das Gerücht verbreitet, Frankreich sei bereit, eine begrenzte Anzahl von Kurden aufzunehmen ..." ... worauf sich die dunkelhäutige Tea-Bag schließlich als Kurdin ausgibt.


    Natürlich funktioniert das nicht. Dieser Part der Geschichte hat mich an Abbas Khiders Roman "Ohrfeige" erinnert, wo der Protagonist und alle seine Leidensgefährten mit staunenswerter Phantasie immer neue Lebensgeschichten aus dem Hut ziehen in der Hoffnung, dass sich die bürokratische Tür öffnen möge. "Tea-Bag" spielt, ebenso wie Khiders "Ohrfeige", um die Jahrtausendwende, also vor der von uns Deutschen wahrgenommenen großen Flüchtlingswelle; aber was da passiert, könnte genauso gut heute passieren. Die Hauptperson von Mankells Roman ist ein schwedischer Schriftsteller namens Jesper Humlin. Er hat mehrere erfolgreiche Gedichtbände veröffentlicht; wovon er genau lebt, hat sich mir nicht richtig erschlossen - ich vermute, dass in Schweden genauso wenig wie in Deutschland jemand allein von Lyrik sein Leben fristen kann. Jedenfalls ist Humlin eingedeckt mit den typischen Problemen seiners Milieus. Sein in Aktien angelegtes Geld verflüchtigt sich, seine alte Mutter spinnt, seine Lebensgefährtin will ein Kind von ihm und sein Verleger verlangt allen Ernstes einen Krimi. Dieser Teil des Romans ist wohl eher überspitzte Satire als realistisch. Humlin begegnet Tea-Bag und anderen Geflüchteten bei einer seiner Lesungen und lässt sich von ihnen ins Gespräch ziehen. In der Mittelphase des Romans kommt es immer wieder zu scheinbar ungeplanten Begegnungen mit drei jungen Frauen: außer Tea-Bag noch mit der ebenfalls illegal eingereisten Russin Tanja und der Iranerin Layla, die zwar (soweit ich verstanden habe) legal im Land ist, aber auf der Flucht vor der Zwangsheirat. Obwohl Humlin die Bekanntschaft anfangs als eher lästig und die forsch auftretenden Frauen als übergriffig wahrnimmt, kann er sich nicht von ihnen losreißen. Der Grund ist seine tiefe Neugierde auf ihre Lebensgeschichten, die sich nach und nach erschließen, immer wieder unterbrochen durch Phantasiegebilde und merkwürdige Ausweichmanöver. Erst im letzten Drittel kommen die wahren Erlebnisse und Fluchtgründe ans Tageslicht.



    Ich muss sagen, dass ich im Mittelteil des Buches oft gelangweilt und genervt war von Humlins Hin und Her; er driftet zwischen der Freundin, der Mutter, dem Verleger und einigen anderen Polen (Mehrzahl von Pol, nicht von Pole) herum und ist, ganz ähnlich wie die geflüchteten Frauen, mit Ausweichen und Verzögern beschäftigt, wenn auch in anderem Sinne - man könnte neudeutsch von "first world problems" sprechen. Im letzten Drittel, als er endlich die Kurve kriegt und sich offen für die Frauen einsetzt, kommen im Gegenzug die wahren Lebensgeschichten ans Licht, und die sind stellenweise entsetzlich. Die Struktur des Romans ist großartig komponiert - lange Zeit befinden sich die verschiedenen Lügengebäude im Gleichgewicht, bis im letzten Teil nach und nach Offenheit einkehrt -, aber soweit muss man erst mal kommen. Ich war irgendwo in der Mitte durchaus in Versuchung, die Lektüre abzubrechen. Aber ich bin heilfroh, dass ich es nicht getan habe!



    Eine kennzeichnende Einsicht Humlins, ungefähr da, wo die Wende kommt:


    "Was hat meine Angst ausgelöst? Die Erkenntnis, dass meine Aktien ins Bodenlose stürzen und dass Andrea Ansprüche an mich stellt, denen ich micht gewachsen fühle. Ich habe eine Mutter, der ich zutraue, dass sie ein Buch schreiben wird, das sich als Meisterwerk entpuppt. Ich fürchte, dass mein Verleger mich rauswirft und dass von meinem nächsten Buch weniger als tausend Exemplare verkauft werden. Ich fürchte mich vor der vernichtenden Kritik, ich fürchte meine Sonnenbräune zu verlieren. Kurzum, ich fürchte mich vor allem, was mich als Person bar jeder Leidenschaft und jedes Charakters bloßstellen könnte."