Émile Zola - Das Paradies der Damen

  • Für den diesjährigen Listenwettbewerb lese ich momentan Émile Zola – Das Paradies der Damen. Ich lese die dtv-Ausgabe mit der Übersetzung von Hilda Westphal von 1963. Bisher habe ich schon zwei Romane von Zola gelesen: Das Geld und Nana, beide haben mir gut gefallen, sodass ich noch mehr von Zola lesen wollte.


    In diesem Roman geht es um die Geschäftswelt, ums Kaufen und Verkaufen, aber auch um das neue Paris, das das alte Paris langsam verdrängt. Die Handlung spielt in den 1860ern, zu einer Zeit, als Paris gerade von Baron Haussmann neu gestaltet wird. Alte Häuser und Straßenzüge werden eingerissen und durch großzügige Boulevards ersetzt. Die kleinen, z.T. noch mittelalterlichen Häuschen müssen weichen und mit ihnen deren Bewohner. Zu dieser Zeit kommt die 20-jährige Denise Baudu mit ihren beiden Brüdern nach Paris, da die Eltern verstorben sind. Sie suchen ihren Onkel, den Tuchhändler Baudu, auf, der sein Geschäft direkt gegenüber dem großen und modernen Kaufhaus „Paradies der Damen“ hat. Täglich muss der Onkel mit ansehen, wie ihm die Kundschaft verloren geht, weil er mit dem großen Kaufhaus nicht konkurrieren kann.


    Gerade am Anfang ist der Handel ein großes Thema im Roman. Die Kaufhäuser können in großen Mengen einkaufen und ihre Ware billiger abgeben als die kleinen Händler. Außerdem sind die Kundinnen (es kaufen hier nur Damen ein) fasziniert von den kreativen Schaufensterauslagen und Dekorationen im Geschäft. Dem gegenüber steht die dunkle Höhle des Geschäfts von Baudu, in dem Denise immer Beklemmungszustände bekommt. Doch die Vorteile der Kaufhäuser sind vor allem bei den Kunden. Die Angestellten verbringen lange Arbeitstage dort (13 Stunden) und sind somit aus der Familie herausgerissen. Früher war der Verkäufer quasi Teil der Familie des Chefs und in dessen Familienalltag eingebunden. Jetzt sind die einzelnen Verkäufer isoliert, bekriegen sich um die lukrative Kundschaft (sie bekommen Prozente bei jedem Verkauf) und wohnen in Dachkammern über dem Kaufhaus.


    Denise kann bei ihrem Onkel nicht arbeiten, da es ihm finanziell immer schlechter geht. Deshalb nimmt sie eine Stellung im „Paradies der Damen“ an und erlebt zunächst die Grausamkeit der Kollegen und den tristen und extrem anstrengenden Arbeitsalltag.


    Bei diesem Roman fällt mir Zolas Naturalismus besonders stark auf. Er zeichnet die Extreme relativ deutlich, manchmal wirkt es schon etwas übertrieben. Andererseits kann ich aus der heutigen Zeit mir nicht vorstellen, wie die armen Leute damals gelebt haben. Ich habe mich nun auch mit den Modernisierungen in Paris durch Haussmann beschäftigt, die ja auch deshalb durchgeführt wurden, um die Innenstadt seuchenfrei zu machen und die Armenquartiere aufzulösen. Ein interessantes Thema...

  • In die Geschichte um den Kampf zwischen neuem und altem Handel ist noch eine Liebesgeschichte eingebettet. Mouret, der Geschäftsführer des Kaufhauses, fühlt sich zu Denise hingezogen, obwohl fast alle Kollegen sie hassen und fertig machen. Er kann zunächst nicht verhindern, dass sie entlassen wird. Denise kommt zunächst bei einem alten Mann unter, der ein Schirmgeschäft hat, das kurz vor dem Bankrott steht. Mouret möchte dessen Haus kaufen, um sein Kaufhaus vergrößern zu können; doch der Alte weigert sich.


    Nachdem das "Paradies" umgebaut und vergrößert würde, bekommt Denise dort wieder eine Stellung. Sie ist nun beliebter und wird geachtet, da jeder denkt, sie hätte ein Verhältnis mit dem Chef. Dieser hat sie zwar tatsächlich zu einem "Rendezvous" eingeladen, doch sie hat abgelehnt. Sie will ihren Körper an keinen Mann verkaufen, was im Paris der damaligen Zeit unter den Frauen der niedrigeren Schichten wohl üblich war.


    Mouret ist verliebt in Denise und will sie unbedingt besitzen, doch sie weigert sich beharrlich, obwohl auch sie in ihn verliebt ist....

  • Denise bleibt solange standhaft, bis Mouret sich durchringt, um ihre Hand anzuhalten. Denise ist inzwischen zu einer Abteilungsleiterin aufgestiegen und von den meisten Kollegen geschätzt. Nun gelingt ihr der letzte Schritt an die absolute Spitze des Geschäfts.


    Im Buch wird durch die Schilderung von Einzelschicksalen ganz gut die Umkehr der gesamten Gesellschaft dargestellt. Der Adel ist nun nicht mehr an der Spitze, findige Unternehmer können genauso hoch steigen und dabei viel reicher sein. Im "Paradies" werden z.B. ungern verarmte adlige junge Fräuleins eingestellt, da diese zu nichts qualifiziert sind. Sie taugen lediglich zum Sortieren, aber keinesfalls zum Verkaufen der Waren. Somit sind sie im Kosmos des Warenhauses unterhalb der Bauernmädchen angesiedelt, die teilweise schon auf dem Lande in Geschäften gearbeitet haben.


    Das Buch hat mir insgesamt gut gefallen, v.a. die ausführliche Schilderung des Umschwungs in der Pariser Gesellschaft. Die Modernisierungen betreffen alle Teile des Lebens. Denises Onkel Baudu und sein Geschäft symbolisieren das alte Paris und den alten Handel. Seine Tochter Geneviève ist der letzte Sproß dieses absterbenden Geschlechts, sie ist durch das permanente Dasein im dunklen, feuchten Geschäft des Vaters schwindsüchtig geworden und siecht nur noch dahin. Als sie stirbt, wird zusammen mit ihr quasi der alte Handel zu Grabe getragen. Der Trauerzug durch Paris wird natürlich symbolhaft durch eine Werbe-Kutsche des Warenhauses blockiert.


    Sehr schön waren auch die Portraits der verschiedenen Arten von Kundinnen, u.a. kaufsüchtige, kleptomanische und solche, die von ihren Männern zu kurz gehalten werden und somit ihre Kaufwünsche nicht befriedigen können. Was mir weniger gefallen hat, waren die oft seitenlangen Schilderungen der Dekorationen im Kaufhaus. Damals war das wohl ziemlich innovativ und muss auch sehr beeindruckend ausgesehen haben. Für mich ist es allerdings schwierig, mir das genau vorzustellen, v.a. weil ich viele der Stoffarten, von denen die Rede ist, nicht kenne bzw. mal sehen müsste, um zu wissen, um was es sich handelt.


    Insgesamt aber eine lohnenswerte Lektüre :winken:.

  • Ich habe vor Monaten mal eine TV-Doku über die Entwicklung des modernen Kaufhauses gesehen. Das "Paradies der Damen" hat eine Entsprechung in der Pariser Geschichte, ein Kaufhaus, das tatsächlich als "Urvater" des modernen Warenhauses gilt. Typisch dafür ist zum Beispiel die Vielfalt des Angebots. In dem Buch gibt es eine Szene mit dem alten Schirmverkäufer, der sich darüber aufregt, das ein und dasselbe Geschäft Damenkostüme, Handschuhe und Schirme anbietet. Auch Mourets Geschäftstaktik, die am häufigsten gebrauchten Waren tief im Innern der Ladenräume zu verstecken, so dass die Kundinnen möglichst viel im Geschäft herumwandern müssen, war damals etwas ganz Neues.
    Die Milieuschilderungen habe ich sehr gern gelesen (war früher großer Zola-Fan), die Liebesgeschichte fand ich aber immer etwas fade.


    Grüße von Zefira

  • Ja, die Liebesgeschichte ist nicht so wahnsinnig tiefgründig... Bestimmt nicht der Grund, warum man das Buch lesen sollte. Aber die Gestaltung des Kaufhauses und die Verkaufstricks sind ganz interessant. Die Kundinnen wandern ja wirklich kilometerlang von Abteilung zu Abteilung. Unpraktisch finde ich, dass die Verkäufer dann immer die schon ausgewählten Waren den Kunden hinterherschleppen müssen, bis der Einkauf erledigt ist. Unpraktisch für die Verkäufer, für die Kunden natürlich nicht :zwinker:.

  • Ich fand die Szene wunderbar, wo die Verkäuferin Denise Mourets Geliebter Henriette "einen Reisemantel" zeigen soll.
    Henriette ahnt in Denise bereits eine Rivalin und gibt sich größte Mühe, die andere zu triezen, wie sie kann. Sie hat an allen Mänteln etwas auszusetzen und lässt sich immer neue vorlegen. Geduldig bringt Denise Stapel von Mänteln herbei, Henriette meckert an allem, bis Denise fragt: "Würden gnädige Frau mir näher bezeichnen, was für ein Modell Sie wünschen?", worauf Henriette antwortet: "Sie haben ja nichts da!"
    Die Szene schien mir immer erstaunlich modern :breitgrins:
    Für mich als Hobbyschneiderin und -handarbeiterin waren auch die Warenbezeichnungen interessant. Die Stoffe: Matelassé, Cheviot, Phantasieseide ... die Spitzen: Valenciennesspitze, Lamaspitze, Alenconspitze ... Ich hatte den Eindruck, dass Zola ausgiebig recherchiert hat und wirklich wusste, worüber er schrieb.

  • Ich nehme mal an, dass die Leute damals sich besser mit den verschiedenen Stoffen ausgekannt haben, als wir heute. Sie mussten ja ziemlich genaue Vorstellungen haben, was man dann damit anfangen kann, bzw. auch, wieviele Meter man dann braucht... Das war noch ein ganz anderer Bezug zur Kleidung. Denise konnte sich ihr Kleid ja auch schnell umnähen, damit es passt.


    Ich würde gerne mal so ein Kaufhaus von damals sehen und die verschiedenen Stoffe anschauen und anfassen...


    Gewagt war die Antwort von Denise "Madame sind eben ein bißchen stark" (oder so ähnlich), als Henriette sie mit einer Anprobe triezt. Da hatte sie dann wohl gewonnen.