• Habe gerade alle Threads hier durchsucht: Euripides fehlt hier noch.
    Im Rahmen eines Langzeitprojektes mit langen Pausen lese ich - ungefähr seitdem ich hier im Forum mitmache - die griechischen Klassiker - und bin schon seit Jahren mit den Tragödien des Euripides - theoretisch - befasst.
    Aktuell abgeschlossen: Die Troerinnen


    Eine eher untypische Tragödie, da ausgesprochen handlungsarm.


    Hekabe, die verwitwete Königin von Troja, wartet am Fuße des brennenden trojanischen Burgbergs inmitten zahlreicher anderer Frauen auf ihr weiteres Schicksal unter den sieghaften Griechen.
    Dabei wird ihr eine steigernde Folge von weiteren Unglücken präsentiert, auf die sie und der Chor trojanischer Frauen mit Klagegesängen reagieren: Ihre Tochter und jungfräuliche Seherin Kassandra wird von Agamemnon als Betthäschen beansprucht; Andromache, Hektors Witwe, muss die gleiche Rolle für Neoptolamos, den Sohn des Achill, spielen und außerdem ihren Sohn, den einzigen männlichen Überlebenden des trojanischen Herrschergeschlechtes hergeben, der von den Griechen über die Mauer geworfen wird, aus Angst vor dynastischen Ansprüchen.
    Hekabes jüngste Tochter, Polyxena, wird als Opfer für den toten Achill geschlachtet; Helena, der sie die Hauptschuld an dem Krieg gibt, tut alles dafür, ihren verflossenen Ehemann Menelaos, der sie eigentlich steinigen lassen will, doch wieder um den Finger zu wickeln.
    Und schließlich wird bekannt, dass sie, Hekabe, die Sklavin des verhasstesten Griechen wird, Odysseus.


    Aber das ist nicht eigentlich der Kern der Aussage: Euripides lässt im Prolog Athene und Poseidon miteinander verabreden, die siegreich heimkehrende Flotte der Griechen zu zerstören und auch im Laufe der Monologe und Dialoge werden die ganzen Schicksale der griechischen Heimkehrer angedeutet: Für keinen geht es gut aus, die meisten werden sterben.


    Deshalb wird dieses Drama wohl auch gerne als Antikriegsdrama adaptiert (Werfel, Sartre) und bis heute immer wieder gespielt.


    Euripides ist "moderner" als Aischylos und Sophokles, insofern als er mehr in die Verantwortung der Menschen legt und diese nicht als Dulder der Absichten der Götter versteht.


    Dennoch gefallen mir die meisten seiner Dramen, die ich bisher gelesen habe, nicht so gut wie die der beiden vorbenannten, weil insbesondere seine Frauengestalten auf einer gleichmäßig hohen emphatischen Ebene sprechen, was mir das Lesen sehr anstrengend macht. Das gilt auch für die Troerinnen.


    Meine nächsten Euripides-Dramen werden dann die beiden Iphigenien sein (Aulis /Tauris).
    Das kann aber noch dauern :zwinker:.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Nun habe ich auch ein Reread der "Troerinnen des Euripides" von Jean-Paul Sartre hinter mir.
    Angesichts der Aufstände in Algerien, die die französische Kolonialmacht niederschlägt, bringt Sartre 1965 seine Adaption des Euripides-Dramas auf die Bühne. Er lässt mythologischen Seitenpfade sein, die nur der antike Zuschauer problemlos verstand und akzentuiert das Drama stärker auf seine Hauptaussage: Der Krieg mit dem Ziel der Unterwerfung treibt letzten Endes auch die Sieger ins Elend.
    Ganz modern klingt diese Version und auch der Emphase kann Sartre ironische Glanzlichter abgewinnen. Die erstaunliche Rationalität des Euripides und sein z.T. geradezu sarkastischer Umgang mit dem überkommenen Götterglauben treten hier stark hervor, sind aber auch in der textnahen Übersetzung , die ich vorher las, spürbar.

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  • Aktuell abgeschlossen: Die Troerinnen


    Eine eher untypische Tragödie, da ausgesprochen handlungsarm.


    In meiner Erinnerung, finsbury, schließen sich "Handlung" und "antike Tragödie" nahezu aus. In Euripides' Zeiten dominierten der Chor und die effektvollen "schönen Reden" der tragischen Helden das (eigentlich nicht vorhandene) Geschehen auf der Bühne. Das gilt zumindest für Aischylos und Sophokles. Die deutliche Handlungsorientierung der Tragödie beginnt mWn. erst im 17. Jahrhundert. Das ist dann der Naturalismus, der von Goethe und Schiller so vehement bekämpft wurde.

  • In meiner Erinnerung, finsbury, schließen sich "Handlung" und "antike Tragödie" nahezu aus. In Euripides' Zeiten dominierten der Chor und die effektvollen "schönen Reden" der tragischen Helden das (eigentlich nicht vorhandene) Geschehen auf der Bühne. Das gilt zumindest für Aischylos und Sophokles. Die deutliche Handlungsorientierung der Tragödie beginnt mWn. erst im 17. Jahrhundert. Das ist dann der Naturalismus, der von Goethe und Schiller so vehement bekämpft wurde.


    Handlung auf der Bühne, da hast du Recht. Dagegen fliegen hinter der Bühne häufig die Fetzen und werden durch den Botenbericht in Szene gesetzt. Der ist aber bei den Troierinnen nur sehr karg: Polyxena und Neoptolamos werden zwar ermordet, aber das wird nur kurz zur Kenntnis genommen und dann zugunsten Hekubas Klagen insbesondere über ihr eigenes Schicksal in den Hintergrund gedrängt.

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  • Handlung auf der Bühne, da hast du Recht. Dagegen fliegen hinter der Bühne häufig die Fetzen und werden durch den Botenbericht in Szene gesetzt. Der ist aber bei den Troierinnen nur sehr karg: Polyxena und Neoptolamos werden zwar ermordet, aber das wird nur kurz zur Kenntnis genommen und dann zugunsten Hekubas Klagen insbesondere über ihr eigenes Schicksal in den Hintergrund gedrängt.


    O.K, da haben wir einander vorbei"geschrieben" ... :breitgrins: Ich nehme Deine "Troerinnen" zum Anlass, diesen Autor (den Nietzsche in typisch überzogener Manier gemeinsam mit Sokrates zum Totengräber der klassischen griechischen Tragödie erklärt hat) mal wieder in die Hand zu nehmen.


  • O.K, da haben wir einander vorbei"geschrieben" ... :breitgrins: Ich nehme Deine "Troerinnen" zum Anlass, diesen Autor (den Nietzsche in typisch überzogener Manier gemeinsam mit Sokrates zum Totengräber der klassischen griechischen Tragödie erklärt hat) mal wieder in die Hand zu nehmen.


    Da bin ich auf dein Urteil gespannt.
    Eventuell könnten wir auch parallel lesen: Bei mir stehen noch die beiden Iphigenien und die Bakchen auf dem Leseplan. Die Iphigenie bei den Taurern evtl. auch im Vgl zur Goethe-Version.
    Ich halte zwar Nietzsches Urteil für übertrieben, aber tatsächlich vermisse ich bei Euripides die tragische Wucht, die Aischylos und Sophokles oft haben. Euripides Medea und Hekuba sind auch zum Teil echte Zippen.

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  • Da bin ich auf dein Urteil gespannt.


    Gemach, bitte! :breitgrins:



    Eventuell könnten wir auch parallel lesen: Bei mir stehen noch die beiden Iphigenien und die Bakchen auf dem Leseplan. Die Iphigenie bei den Taurern evtl. auch im Vgl zur Goethe-Version.


    "Die Bakchen" kann ich mir vorstellen, die beiden Iphigenien eher nicht. Der Vergleich mit der Goethe-Version entfällt deshalb, aber dieses einschläfernde pseudo-antike Dramödchen gehört für mich ohnehin zu den eindeutigen Megalangweilern der Literatur.


  • Eventuell könnten wir auch parallel lesen: Bei mir stehen noch die beiden Iphigenien und die Bakchen auf dem Leseplan.


    Hallo finsbury,


    vollkommen entnervt von einer üblen (deutschen) metrischen Übersetzung habe ich mir kurzfristig eine (englische) Prosaübersetzung der "Bakchen" beschafft (Oxford World's Classics). Es hilft!! Englische Übersetzer haben oft einen wesentlich unverkrampfteren Zugang zu den antiken metrischen Stoffen.


    Wie sieht es bei Dir aus?


  • Hallo finsbury,


    vollkommen entnervt von einer üblen (deutschen) metrischen Übersetzung habe ich mir kurzfristig eine (englische) Prosaübersetzung der "Bakchen" beschafft (Oxford World's Classics). Es hilft!! Englische Übersetzer haben oft einen wesentlich unverkrampfteren Zugang zu den antiken metrischen Stoffen.


    Wie sieht es bei Dir aus?


    So was übles Metrisches habe ich wohl auch, halt Reclam, ein Oscar Werner bekennt sich zu dem Übersetzungswerk: Meine mir freizeitmäßig verbleibende Energie reicht nicht für eine fremsprachige Übersetzung.
    Wenn du willst, können wir dieses Wochenende oder die nächste Woche an die Bakchen vergeben.

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  • Wenn du willst, können wir dieses Wochenende oder die nächste Woche an die Bakchen vergeben.


    Hallo finsbury,


    das hat leider nicht geklappt, ich komme aus vielerlei Gründen nur schleppend voran.


    Folgende Eindrücke habe ich bis jetzt gesammelt:
    Das Ganze wirkt bislang ein wenig saft- und kraftlos: Ein Gott (Dionysos), der sich an sich selbst berauscht und ein Ungläubiger (Pentheus), der ihm partout nicht folgen will. Göttliche Überheblichkeit gegen menschliche Ratio, gespickt mit Machtphantasien und -ansprüchen: Euripides agiert nicht ungeschickt beim Aufbau des zentralen Konflikts, dessen Ausgang man ahnt (wenn man ihn nicht ohnehin aus anderen Lektüren, z.B. Ovid, kennt). Meine englische Prosaübersetzung muss ich loben, sie ist locker-flockig und weder verzopft noch verstaubt.


    Aber: Wenn ich das mit den Dramen des Sophokles oder Aischylos vergleiche, dann kann ich Nietzsche verstehen, der in Euripides einen der Totschläger der attischen Tragödie sah. Das liegt zum einen an der unpathetischen Nüchternheit, mit der die Figuren sprechen. Dadurch wirken sie "moderner" als ein Agamemnon, eine Klytaimnestra oder ein Ödipus, aber auch langweiliger. Es fehlt der bittere Zwang des Schicksals, den die Götter über die Menschen verhängt haben - und damit ein wesentliches Element der Tragödie, das ich einmal verkürzt als "Handeln und Erkennen erzeugen unnötiges Leiden" bezeichnen möchte.


    Ich bin gespannt, ob davon auch bei Euripides noch ein wenig zu spüren sein wird. Bislang erreichen "Die Bakchen" allenfalls das Niveau des von mir nicht sonderlich geschätzten bürgerlichen Trauerspiels.

  • Vielen Dank für die Rückmeldung,


    im Gegensatz zu dir habe ich das Drama nun noch nicht gelesen. Die Schlussfolgerungen ähneln meinem Empfinden bei den anderen Euripides-Dramen. Dennochwerde ich irgendwann auch die beiden Iphigenien und die Bakchen lesen, wenn auch nicht aus Leidenschaft, denn doch als Verbeugung vor ihrer literarischen Wirkung.

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  • Die "Iphigenie in Aulis" von Euripides wurde posthum von seinem Sohn mit dem gleichen Namen auf den Dionysien von 405 v.C. uraufgeführt

    Sie behandelt die Opferung von Agamemnons Tochter Iphigenie, die von der Göttin Artemis verlangt wird, damit das griechische Heer Fahrtwind bekommt und in Troja erfolgreich um den Rückerhalt Helenas kämpft. Iphigenie wurde mitsamt ihrer Mutter Klytaimnestra von ihrem Vater ins Heerlager gebeten, unter dem Vorwand, sie dort mit dem großen Helden Achill zu vermählen. Durch verschiedene Umstände fliegt dieser Betrug jedoch auf, und das Drama besteht aus den Dialogen zwischen den beteiligten Personen, die sich mit den tragischen Konflikten beschäftigen, in denen sich insbesondere Agamemnon, aber auch Iphigenie befinden. Agamemnon schreckt vor der Tat zurück und will Iphigenie vom Heerlager zurückhalten, wird dann aber dadurch zur Härte gezwungen, dass große Teile des Heeres über die Artemis' Willen bereits informiert wurden und nun die Opferung erwarten, anderfalls die Familie der Artriden, also Agamemnon und die seinen, mit noch schlimmeren Folgen zu rechnen hätten.

    Iphigenie fleht zunächst ihren Vater an, ihr junges Leben zu schonen, ändert dann aber ihren Sinn, als sie Achill, der von dem Betrug erfahren hat und ihr helfen will, mit seinen Mannen vor der Übermacht des griechischen Heeres sieht. Um kein Blutbad zu verursachen, will sie sich nun für die Sache der Griechen opfern. Im Augenblick der Tötung wird sie aber von Artemis entrückt und auf ihrem Platz befindet sich eine Hirschkuh.
    Ein weiteres, von den Artriden diskutiertes Problem dabei ist, dass die unschuldige Iphigenie geopfert werden soll, damit Menelaos die Ehebrecherin Helena zurückbekommt.

    Die literarische Wertung zählt dieses unvollendete Drama (Teile des Prologs passen nicht zusammen, da fragmentarisch, der Botenbericht über die Entrückung am Ende ist späteren Datums) zu den besten Werken Euripides', weil hier die psychologische Zeichnung der Personen besonders fein sein soll. Das ist richtig, insofern die Dialoge und Monologe von Agamemnon, Menelaos und Iphigenie den jeweiligen Seelenzustand vor und nach ihrer Umorientierung differenziert wiedergeben. Allerdings erscheint die Motivation für den Meinungswechsel sehr schnell zu wirken, der Entscheidungsprozess, oft das psychologisch Spannendste in späteren Dramen, bleibt hier außen vor.

    Für mich ist bei diesem Drama Klytaimnestra die schlüssigste Figur, die um ihr Kind kämpft und deren Argumente man zu jedem Zeitpunkt nachvollziehen kann, deren Aufgebrachtheit gegenüber Agamemnon und Verzweiflung zutiefst menschlich wirken.

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    Einmal editiert, zuletzt von finsbury ()

  • Iphigenie bei den Taurern


    Euripides hat dieses Drama, dessen Handlung zeitlich nach derjenigen von "Iphigenie in Aulis" liegt, ca. fünf bis sechs Jahre vor dem letzteren geschrieben und aufführen lassen, 412 v.u.Z.


    Iphigenie wurde, anstatt geopfert zu werden, im letzten Moment von der Göttin Artemis ins "Barbaren"land zu den Taurern (Skythen) in der Nähe der Halbinsel Krim am Nordrand des Schwarzen Meeres entrückt. Dort dient sie in einem Artemis-Tempel als Hohepriesterin und hat die grausame Aufgabe, alle Griechen, die das Land betreten, zu töten und der Göttin zum Opfer zu bringen.

    Eines Tages nun werden Orestes, ihr jüngerer Bruder, und sein treuer Freund Pylades an der taurischen Küste von Hirten aufgegriffen und zum Tempel geführt. Die beiden sind mit dem Schiff hierher gekommen, um das Artemis-Bild des Tempels zu stehlen und nach Attika zu bringen. Dieses hat der Gott Apollo Orest aufgetragen, damit er endlich von den Erynnien erlöst wird, die ihn seit dem Mord an seiner Mutter Klytaimnestra verfolgen.

    Iphigenie, die sich zuvor vor dem Chor der griechischen Jungfrauen, die hier auch gegen ihren Willen zum Tempeldienst festgehalten werden, sehr unglücklich über ihr Schicksal als menschenopfernde Priesterin geäußert hatte, träumte in der Nacht zuvor davon, ihr Bruder Orest sei gestorben und sie habe ihn dem Tod geweiht.

    Nun werden die beiden jungen Männer von den Häschern vor sie geführt und es kommt zu einem lebhaften, bald schon komödiantischen Dialog, da Iphigenie sich bei den Landsleuten nach ihrer Familie erkundigt, ohne allerdings ihren Bezug dazu zu verraten und Orest grimmig die Nennung seines Namens ablehnt. Iphigenie will einen der beiden in ihre Heimat mit einem Brief an ihre Familie zurückschicken und nur den anderen opfern. Edelmütig verzichtet Orest zugunsten seines Freundes Pylades. Dieser bringt nun durch einen Trick die Wahrheit ans Licht. Indem er Iphigenie davon überzeugt, ihm nicht nur den Brief, sondern auch dessen Inhalt anzuvertrauen, falls der Brief wegkäme, erkennen sich die beiden Geschwister und die Freude ist groß.kauffmann_iphigenie.jpg


    Mit einem listenreichen Täuschungsmanöver gelingt den dreien samt dem Götterbildnis die Flucht, doch dann scheint das Meer das Schiff wieder an die Küste zurückwerfen zu wollen und der ob der Täuschung erzürnte Landesherr Thoas befiehlt, die drei wieder aufzugreifen. Doch dann erscheint Athene als dea ex machina auf dem Dach des Tempels und befiehlt dem Landesherrn, die drei entweichen zu lassen und sich mit der Situation abzufinden.


    Auch hier, trotz der starken Einbindung der Götter in die Geschichte, geht es nicht eigentlich um den Konflikt göttliche Forderung - menschliches Schicksal, sondern die Protagonisten setzen sich mit den ihn gegebenen Schicksalsparametern eher vernunftbetont auseinander und schauen, wie sie aus ihrer Lage entkommen. Von der Handlung her ist dieses Drama kurzweiliger und temporeicher als die aulische Iphigenie, wenn es auch weniger einheitlich einen Konflikt von mehreren Seiten beleuchtet wie dort. Das jüngere Drama erscheint mir tiefer, aber die taurische Iphigenie ist sicherlich die bühnenwirksamere.


    Deshalb ist dieser Dramenstoff auch viel häufiger später wieder aufgenommen worden. Literarisch am bedeutsamsten ist sicherlich Goethes "Iphigenie auf Tauris".

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  • Nach zwei Jahren Pause habe ich wieder einmal ein Drama von Euripides gelesen:


    „Die Bakchen“ sind die letzte, mehr oder weniger vollständige überlieferte Tragödie des Euripides. Sie wurden neben der „Iphigenie in Aulis“ als dritter Teil einer Tetralogie 405 posthum von seinem Sohn oder Neffen gleichen Namens in Athen uraufgeführt und gewannen den ersten Preis.


    Pentheus, König von Theben, geht gegen den neuen Dionysos-Kult in seinem Land vor, dessen von ihm als ausufernd angesehene Bacchanalien nach seiner Meinung gegen die Sittlichkeit verstoßen. Der Gott, dessen Mutter Semele zur Königsfamilie von Theben gehörte und ihn seinem Vater Zeus gebar, ist sowieso schon gegen Theben aufgebracht, weil die Königsfamilie seine Göttlichkeit verleugnet und unterstellt, Semele habe ihn als Bastard geboren.


    Er bringt daher Pentheus‘ Mutter Agaue mit ihren zwei Schwestern durch seinen göttlichen Einfluss dazu, eine Schar thebanischer Bacchantinnen auf den Berg Kithairos, südlich von Theben, zu führen und dort seinem Dienst zu leben. Mit einer anderen Schar von Bacchantinnen kommt er getarnt als deren Anführer nach Theben, um den Dienst an seiner Göttlichkeit von den Thebanern und Pentheus einzufordern. Dieser aber lässt ihn verhaften und einige Frauen seines Gefolges einsperren. Gleichzeitig rüstet sich der König zu einem Zug auf den Kithairos, um die Frauen notfalls mit Gewalt zurück in die Stadt und ihren gewohnten Beschäftigungen zurückzuführen.

    Dionysos, der sich aus seiner Haft befreit hat, legt zur Strafe mit Gewitter und Feuer den Königspalast in Trümmern und erscheint dann dem König, immer noch als Mensch getarnt. Trotz seiner Warnung hält Pentheus daran fest, den Dionysos-Kult zu beenden. Der Gott stürzt ihn in Wahn, kleidet ihn als Bacchantin und begleitet ihn auf den Berg. Dort lässt er den größenwahnsinnig gewordenen König auf der Spitze einer Fichte sitzen, wo ihn die Bacchantinnen erblicken. Sie werden von dem Gott verblendet und aufgehetzt, den König zu töten. Seine Mutter Agaue an der Spitze ihrer Schwestern und der anderen Bacchantinnen schütteln Pentheus von der Fichte und zerreißen seinen Körper. Die Mutter spießt den Kopf ihres Sohnes im Wahn, einen jungen Berglöwen getötet zu haben, auf ihren kultischen Stab und zieht damit an der Spitze der Bacchantinnen zum Königspalast, um ihn triumphierend ihrem Vater Kadmos und Sohn Pentheus zu zeigen. In Rede und Gegenrede befreien der Chor und ihr Vater sie von ihrem Wahn. Zutiefst erschüttert vernehmen die Königsfamilie und die Thebaner die Strafe des sich nun offenbarenden Dyonisos: Das Volk wird in die Sklaverei verkauft, die drei Schwestern verbannt und Kadmos muss den Rest seines Lebens auf Kriegszügen durchs Land ziehen.


    „Die Bakchen“ verwirrten schon immer die Literatur- und Theaterwissenschaftler, denn Euripides ist von dem großen klassischen Dreigestirn - Aischylos, Sophokles und eben ihm - am meisten dafür bekannt, die Existenz der Götter eher anzuzweifeln und die Autonomie der Menschen gegenüber den Göttern zumindest in ihren Reflexionen zu stärken.

    Hier aber waltet ein Gott in großer Grausamkeit und bestraft sogar die, die ihm dienen. Es gibt außer bei Pentheus bei keiner anderen Person irgendein Zeichen des Aufbäumens gegen das göttliche Handeln. Gleichzeitig ist dieses Drama die formal einheitlichste und klassistische aller auf uns überkommenen griechischen Tragödien.


    Auch mir bleibt sie, wie wohl vielen Menschen der heutigen Zeit, trotz ihrer formalen Schönheit inhaltlich doch sehr fremd, und die extreme Grausamkeit der Handlung trägt auch nicht gerade zu einem großen Lesegenuss bei.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Aber: Wenn ich das mit den Dramen des Sophokles oder Aischylos vergleiche, dann kann ich Nietzsche verstehen, der in Euripides einen der Totschläger der attischen Tragödie sah. Das liegt zum einen an der unpathetischen Nüchternheit, mit der die Figuren sprechen. Dadurch wirken sie "moderner" als ein Agamemnon, eine Klytaimnestra oder ein Ödipus, aber auch langweiliger. Es fehlt der bittere Zwang des Schicksals, den die Götter über die Menschen verhängt haben - und damit ein wesentliches Element der Tragödie, das ich einmal verkürzt als "Handeln und Erkennen erzeugen unnötiges Leiden" bezeichnen möchte.

    Zu Nietzsches Bakchen-Rezeption habe ich gerade noch einen interessanten Artikel gefunden.

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  • Helena


    Das als Tragödie firmierende Stück des Euripides wurde 412 bei den Dionysien in Athen uraufgeführt.


    Hier kommt ein anderer Helena-Mythos zum Vortrag: Helena wurde nicht selbst von Aphrodite nach dem Paris-Urteil diesem zugeführt, sondern die nicht nur wegen der Verschmähung, sondern auch wegen des damit verbundenen Ehebruchs an Melenaos erzürnte Hera ließ Paris ein Luftbild nach Troya entführen und brachte die echte Helena zu Proteus, dem König von Ägypten.


    Nachdem dieser gestorben ist, flüchtet Helena zu seinem Grabmal, denn sein Sohn Theoklymenos will Helena heiraten, was diese züchtig im Angedenken an ihren Ehemann Menelaos zurückweist.

    Zum Grabmal kommt ein griechischer Kämpfer, der Helena über die Niederlage Troyas, die dabei Gefallenen und die anderen über das Mittelmeer versprengten Helden informiert, darunter auch Menelaos. Helena erkundigt sich bei Theoklymenos‘ seherisch begabter Schwester Theonoe, ob Menelaos tot sein und erhält die Auskunft, dass er überlebt habe. Kaum ist dies klar, findet sich auch der schiffbrüchige Held ein und die beiden Ehegatten erkennen einander. Mit einer Intrige und gedeckt von Theonoe gelingt den beiden die Flucht. Theoklymenos will aus Wut seine Schwester umbringen, wird aber von den beiden vom Firmament herabsteigenden Halbgöttern Castor und Pollux (Motiv des deus ex machina), ebenfalls wie Helena Söhne der Leda und von Zeus, daran gehindert und gibt klein bei.


    Also haben wir es hier, wie öfter bei Euripides, gar nicht mit einer Tragödie zu tun.


    Recht modern finde ich, dass Helenas kunstvoll gesponnene Intrige die Gatten entkommen lässt, während sich Menelaos in virilen Vorstellungen vom Zweikampf mit Theoklymenos und /oder einem heldenhaften Tod des Ehepaars zu höherem Nachruhm ergeht.


    Leider habe ich das Drama in einer sehr chauvinistischen Übersetzung von J. A. Hartung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gelesen, in der alles Schlechte, was die Griechen an den Vertretern anderer Völker finden können, als „welsch“ abgetan wird, vielleicht schon ein Ausblick auf den sich anbahnenden deutsch-französischen Krieg. Wobei das Adjektiv schon immer abwertend, früher aber als allgemein fremdländisch, insbesondere aus dem Süden stammend, benutzt wurde. Interessant wäre, ob diese Übersetzung immer für das gleiche griechische Wort benutzt wurde, oder ob Hartung mit dieser Wendung interpretatorisch eingegriffen hat.


    Auch Peter Handke hat dieses Drama übersetzt, das wäre vielleicht die interessantere Lektüre.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)