Fragen eines konservativen Lesers einer "aussterbenden Gattung"


  • Moin, Moin!



    Ich muß gestehen, ich hätte hierauf gerne geantwortet, aber mit fällt partout nichts Substanzielles ein. Dennoch Dank für deine Erfahrungen.


    Für viele mag immerhin ein erschreckendes Maß an Auto-Immunisierung sichtbar geworden sein, die mich in einer ganzen Reihe von Bereichen der Literaturentwicklung weniger offen für Neues gemacht hat. Immerhin merke ich es noch, andere kapseln sich eher schweigend ab.



    Natürlich kommt auch der Zeitfaktor ins Spiel. Ich habe den ganzen Tag über mit alten Büchern, vorzugsweise des 18. Jahrhunderts, zu tun. Am Abend will ich aber wieder manchmal an der Oberfläche auftauchen, im beginnenden 21. Jahrhundert.
    Das eine ist, wie seit langem, "Vergangenheitsbewältigung" (abgegriffene Floskel). Hier greife ich, wie erwähnt, zur Autobiographie von Friedrich Schorlemmer und nicht zu einem Buch über Joachim Gauck oder Helmut Kohl. Ich muss mich wahrscheinlich damit abfinden, dass mit Christa Wolf eine der letzten Autorinnen abgetreten ist, die alles von Anfang an miterlebt hat, und der große DDR-Roman nicht mehr geschrieben werden kann. Entweder waren die Autoren naturgemäß zu jung - oder sie konzentrieren sich auf einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit, den ich nicht als den meinen erkennen kann.



    Und die heutige Wirklichkeit, wie steht es mit heute lebenden Autoren? Da bin ich eher ratlos, deshalb diese Fragen. Ich grenze mich ab von dem, was ich lieber nicht in meiner eher knapp bemessenen Freizeit lesen will - und diese Auswahl kann manchem wieder mit einer gehörigen Portion Ignoranz oder sogar Arroganz versehen sein (letzterer Eindruck soll freilich nicht entstehen). Hier herrscht ja Freiwilligkeit, hier gibt es keine Pflichtlektüre, wie in einem Studium, wie oben in meinem Marquez-Bericht..
    Bei den bisherigen Hinweisen keine Bange - ich werde schon noch fündig. :smile:


  • Ich muss mich wahrscheinlich damit abfinden, dass mit Christa Wolf eine der letzten Autorinnen abgetreten ist, die alles von Anfang an miterlebt hat, und der große DDR-Roman nicht mehr geschrieben werden kann.


    Seltsam larmoyanter Thread: Was ist denn so katastrophal an der Tatsache, dass der "große DDR-Roman" nicht geschrieben wurde oder nicht geschrieben werden wird? Was ist in diesem Zusammenhang übrigens mit Tellkamps "Der Turm"?

  • Seltsam larmoyanter Thread


    Was soll das denn, Sir Thomas, du bist doch sonst nicht so?
    Lass dich durch diesen Einwurf bitte nicht davon abhalten, Karamzin, weiterhin deine Gedanken und Erfahrungen hier zu posten! Wie Dostojewskij u. andere finde ich sie hoch interessant, anregend und überaus bedenkenswert! Im Allgemeinen und im Besonderen! Bislang habe ich (noch) nicht meinen Senf dazugegeben, weil ich wie Steffi eher Literatur liebe, in der gesellschaftliche bzw. persönliche Abgründe offen gelegt werden, weil ich wie dostojewskij Widersprüche für die genuinen Antriebe der Schriftstellerei halte und mit Anita die paradoxe Empfindung teile:... obwohl sie (Herta Müller) im Grunde Trostlosigkeit aufdeckt, habe ich mich weich gebettet gefühlt. Nichts deprimiert mich heilloser als Heile-Welt-Literatur, nichts ist trostloser als Trost- spenden- wollende Lebenshilfe-Literatur … Aber ich weiß, nach billigem literarischem Trost suchst du nicht…


    Im Besonderen: Ja, deine Einschätzung von Tellkamps Turm (etwas hast du ja in einem deiner Posts schon angedeutet) würde mich auch interessieren. Von einer älteren, literarisch sehr versierten ehemaligen DDRlerin hörte ich ebenfalls etwas eher Negatives, andere aber, bes. die Person, deren Exemplar hier noch immer ungelesen herumsteht und der ich es nicht so wieder zurückzugeben wage, waren enthusiasmiert!


    Was ist denn so katastrophal an der Tatsache, dass der "große DDR-Roman" nicht geschrieben wurde oder nicht geschrieben werden wird?

    :breitgrins:


    Das frage ich mich allerdings auch. Vielleicht ist es ja besser so. Na gut, wir haben in Doderers Dämonen den großen Ostmark-Roman( kleiner ironischer Seitenhieb), aber gibt es den großen BRD- Roman oder müsste es ihn geben? Ich finde die DDR- Literatur so reichhaltig, - das Konzert dieser Stimmen (einige hast du genannnt) ist für mich der große DDR-Roman! Ist Stadt der Engel lesenswert ? Was hältst du von Thomas Brasch und Heiner Müller?


  • Na gut, wir haben in Doderers Dämonen den großen Ostmark-Roman( kleiner ironischer Seitenhieb), aber gibt es den großen BRD- Roman oder müsste es ihn geben? Ich finde die DDR- Literatur so reichhaltig, - das Konzert dieser Stimmen (einige hast du genannnt) ist für mich der große DDR-Roman!


    Den einen BRD- bzw. DDR-Roman wird es nicht geben, denke ich, weil es auch zu viele verschiedene Richtungen gibt, in die sich das entwickeln könnte. Auch der Turm zeigt ja mehr oder weniger, soweit ich das überhaupt beurteilen kann, einen kleinen Ausschnitt mit Bezug auf die Kulturlandschaft. Siegfried Lenz halte ich für einen Vertreter der BRD-Romane, allerdings hat auch er den Fokus auf bestimmte Ausschnitte (Heimatverlust, Persönlichkeitsverlust).


    Hm, ja, und was gäbe es denn an "Versöhnungsliteratur" in anderen Ländern und unter den Klassikern ?

  • Zitat

    Den einen BRD- bzw. DDR-Roman wird es nicht geben, denke ich, weil es auch zu viele verschiedene Richtungen gibt, in die sich das entwickeln könnte.


    Reinhard Jirgl, Die Stille. Aber das kann ich aus mehreren Gründen hier nicht empfehlen. Der sprachliche Stacheldraht und der inhaltliche Kahlschlag sind dann doch nicht das, was Karamzin sucht.

  • Reinhard Jirgl, Die Stille. Aber das kann ich aus mehreren Gründen hier nicht empfehlen. Der sprachliche Stacheldraht und der inhaltliche Kahlschlag sind dann doch nicht das, was Karamzin sucht.


    Danke auch für diesen Hinweis! Ich sammele sie alle und informiere mich.



    Für die Lebenswege in der DDR nur mal das Beispiel einer Schriftstellerin, deren Schreibweise nun auch nicht unbedingt mein Fall ist - aber,
    Katja Lange-Müller, die Tochter der einzigen Frau im Politbüro der DDR, die selbst wegen antisozialistischen Verhaltens von der Schule geflogen ist, deren Mann der Bruder von Heiner Müller war und ohne ihr Wissen die Bewerbungsunterlagen für ein Studium erfolgreich einreichte (das stelle man sich mal im Westen vor! :zwinker: in der DDR gab es auch 23jährige Hochschullehrer), und die schließlich, wie so viele, im Jahr 1984 ausreiste.
    Was muss ihre Mutter dabei empfunden haben, die die Frauenpolitik der DDR maßgeblich prägte und angesichts der Versorgungsengpässe 1980 den Frauen riet, ihre Höschen wieder selber zu nähen.



    http://de.wikipedia.org/wiki/Katja_Lange-M%C3%BCller


    http://de.wikipedia.org/wiki/Inge_Lange


    Es erschien das Buch eines Insiders, vom Jahrgang 1953, über die Unterhaltungskultur in der DDR, in dem auf 370 Seiten das Wort "Stasi" nicht ein einziges Mal vorkommt!


    http://hsozkult.geschichte.hu-…/type=rezbuecher&id=19506




    http://hsozkult.geschichte.hu-…/type=rezbuecher&id=18509


    Wenn ich also dem nicht geschriebenen "großen DDR-Roman" nachtrauere, dann beileibe nicht, weil ich nicht diese bunte Vielfalt der Lebensläufe wahrnehmen würde.


    In Tellkamps "Turm" finde ich nicht meine Lebensumwelt wieder, in der ich bewusst mehr als drei Jahrzehnte mitbekam, meine Frau auch nicht, die vor ihrem mit dem Buchwesen verbundenen Studium -Baufacharbeiterin mit Abitur war und Ziegelsteine schleppte,
    und meine früher noch lebende gesamte Verwandtschaft in Dresden zu Hause war, wo mein Vater geboren wurde.

  • Ich würde den "Trost" in den "schreienden Widersprüchen" im Roman "Das Mädchen" von Angelika Klüssendorf gefunden haben, wenn ich ihn denn gebraucht hätte.