Scholem Alejchem: "Tewje, der Milchmann".

  • Heute beginnt die Leserunde zum o.a. Roman. Das Buch besteht aus acht Kapiteln, die so habe ich mir sagen lassen auch einzeln gelesen werden können, also Erzählungen die zusammen einen Roman ergeben, so was kennt man ja von Böll, oder eine Nummer größer von Joyce. Ich bin schon gespannt. Z.Zt. gibt es den Roman imo nur beim Züricher Manesse Verlag. Wer aber nur mal das erste Kapitel mitlesen will: testet mal eure Leihbücherei, wenn der Roman nicht in irgendeiner Version (z.B.Insel-Verlag) vorliegt, sucht euch eine andere Bücherei.


    Ich habe mir den heutigen Abend freigehalten um zeitnah zu beginnen.


    Grüße


    Hubert


    finsbury
    Da wir ja anscheinend beide z.Zt. beruflich stark beansprucht sind, gehe ich davon aus, dass wir kein Wettlesen veranstalten, sondern es eher gemütlich angehen lassen?

  • Hallo Hubert und alle,


    eine gemütliche Leserunde käme mir sehr entgegen, weil ich erst heute Nacht dazu kam, die ersten Seiten zu lesen und dann fielen mir auch schon die Augen zu. Auch dieser Abend bleibt nicht frei und das Wochenende wird auch nicht viel Raum bieten.


    Nun aber zu unserem Text: Ich habe bei Zweitausendeins aus der Krabbelkiste eine Insel-Taschenbuchausgabe nach der gebundenen AUsgabe von 1960. Die Übersetzung ist von Alexander Eliasberg, das letzte Kapitel, das wohl erst 1914 veröffentlicht wurde, übersetzte Max Reich.


    Dass Tewje ein Nachfahr des biblischen Hiobs ist, drängt sich direkt am Anfang auf. Das Gottvertrauen vor dem Hintergrund von Armut und Schicksal passen. Interessant, dass es ohne Rahmenhandlung losgeht: Wie er Scholem Alejchem kennen gelernt hat, wird gar nicht erzählt, sondern nur die Erzählsituation an sich vorgestellt.


    Bis bald


    finsbury

  • Nachdem ich die Materialien durchgesehen, die du, Hubert, dankenswerter Weise in dem Materialienordner verlinkt hast, bin ich etwas verwirrt:
    Bei der Manesse-Ausgabe steht dabei, sie sei die erste vollständige Ausgabe, und sie hat auch etwa siebzig Seiten mehr als meine Insel-Ausgabe. In der letzteren steht aber nichts von Kürzungen und das VIII. Kapitel: "Zieh fort" ist auch enthalten.
    Nun, ich zähle mal die drei Kapitel auf, die ich bisher gelesen habe: I "Der Haupttreffer", II "Ein Hereinfall", III "Kinder von heute". Ob innerhalb der Kapitel etwas fehlt, entzieht sich natürlich meiner Kenntnis.


    Der Roman bzw. die Folge von Erzählungen liest sich leicht, aber so recht vom Hocker holt mich der Text bisher nicht. Allerdings folgen wohl auch noch die Kapitel mit den interessanteren Zeitbezügen.


    Bisher ist es eine humoristische und menschenfreundliche Schilderung der Erlebnisse Tewjes, die man noch nicht als echte Schicksalschläge bezeichnen kann. Im zweiten Kapitel verliert er das Geld, das er im ersten Kapitel unverhofft erhielt, aber behält die Kühe und damit seine bessere Lebensgrundlage gegenüber dem Anfang der Geschichte. Im dritten Kapitel verweigert die Tochter Zeitel die Ehe mit dem viel älteren, aber wohlhabenden Fleischer von Anatevka und bekommt einen armen Schneider, der gesellschaftlich anscheinend unter Tewjes Familie steht. Schuster und Schneider waren wohl besonders schlecht angesehen im Schtetl, warum auch immer. Tewje nimmt nach einigen Klagen an seinen Gott alles schnell und gutmütig hin.
    Das Ganze wird gemütlich, mit vielen Dialogpassagen erzählt, wobei die farbigsten diejenigen mit seiner Frau Golde sind. Aberglaube spielt eine Rolle: Tote soll man fein säuberlich von den Lebenden trennen, sonst kommen sie über einen. Die ständig wiederkehrende Erwähnung Brodskijs, eines damaligen real existierenden Zuckerindustriellen, soll wohl den größtmöglichen Kontrast zu dem Leben der armen Juden im Schtetl immer wieder vor Augen führen.
    Interessant auch die großen sozialen Unterschiede innerhalb der jüdischen Gesellschaft: In Kiew (= Jehupez) leben viele reiche Altgläubige, die ihre Sommerfrische in Bojberik verbringen, während die armen Schlucker aus den Schtetln wie zum Beispiel Menachem Mendl, der Tewjes Geld durchbringt, dort nur illegal leben können. Ganz verstanden habe ich das nicht ... .
    So, nun geht es an den Schreibtisch und heute wird es wohl nicht mehr viel mit der Lektüre. Einen angenehmen Restsonntag und eine ebensolche Arbeitswoche wünscht


    finsbury

  • oder wie Tewje zum Milchmann wurde. Das erste Kapitel ist imo noch nicht Teil des Musicals „Anatevka“, aber Musiktheater kann ja als dramatisches Werk nie einen ganzen Roman sondern immer nur einen Teil oder einen Aspekt eines epischen Werkes wiedergeben. Tewje, erzählt (die erste Überraschung: ich habe nämlich immer gedacht es wäre ein Briefroman, aber „Wenn einem der Haupttreffer beschert ist, hört Ihr, Reb Scholem-Alejchem, so ….“, so der Romanbeginn) dem Schriftsteller Scholem Alejchem Episoden aus seinem Leben und der hört nur zu. In der ersten Episode rettet Tewje zwei weibliche Sommerfrischler aus Kiew (Jehupez), die den Sommer in Bojberik, dem Kaff in dem Tewje lebt, verbringen, aus der „Wildnis“ (man könnte auch sagen, diese haben sich beim Wandern übernommen und sind zu faul heim zu laufen) und wird dafür fürstlich belohnt. Eigentlich ist das die Vorgeschichte, den erst jetzt kann sich Tewje zwei Milchkühe leisten und ist Tewje der Milchmann.



    eine gemütliche Leserunde käme mir sehr entgegenn


    Hallo finsbury,


    unter einer gemütlichen Leserunde hatte ich mir eigentlich nicht vorgestellt, dass Du in einem Rutsch mehr als ein Drittel des Buches durchliest (Drei von acht Kapiteln) und wäre Dir dankbar, wenn Du einen Gang zurückschalten könntest. Ich habe am Donnerstag das erste Kapitel gelesen (in der Manesse-Ausgabe, die aber seither verschwunden ist), am Freitag war ich auf einer Geburtstagsfeier, so dass am Samstag Erholung angesagt war und hatte jetzt am Sonntag Mühe zu Dir aufzuschließen).



    Dass Tewje ein Nachfahr des biblischen Hiobs ist, drängt sich direkt am Anfang auf.


    Die Nachbarschaft zu Hiob drängt sich mir, obwohl in der Sekundärliteratur mehrfach erwähnt, nicht auf. Hiob war imo, ich habe das jetzt aber nicht nachgelesen, ein reicher von Gott bevorzugter Typ, der erst nachdem der Teufel mit Gott gewettet hatte (also Vorbild für Goethes Faust), von Gott versucht wurde, während Tewje als armer Schlucker beginnt, der vorübergehend zu Wohlstand? kommt.

  • In der zweiten Episode erzählt Tewje (naiv und leichtgläubig) wie er sich von einem Verwandten aus Kiew überreden lässt in Aktien zu investieren. Da der Verwandte, Menachem-Mendel aber kein zweiter Mark Twain ist, wird das investierte Geld verloren (hätten sie mal im Dezember investiert). Tewje nimmt das aber eher gelassen und ohne mit Gott zu hadern hin. Aus dem Musical hatte ich Tewje eigentlich aggressiver in Erinnerung, kann mich aber täuschen.



    Nachdem ich die Materialien durchgesehen, ...., bin ich etwas verwirrt:


    Bei der Manesse-Ausgabe steht dabei, sie sei die erste vollständige Ausgabe, und sie hat auch etwa siebzig Seiten mehr als meine Insel-Ausgabe. In der letzteren steht aber nichts von Kürzungen und das VIII. Kapitel: "Zieh fort" ist auch enthalten.



    Hallo finsbury,


    lass Dich nicht verwirren, in dieser wirren Zeit (diese Zeile ist imo nicht von Biermann, sondern wurde extra von mir für Dich geschrieben) :breitgrins:


    Die Manesse-Ausgabe ist nicht die erste vollständige Ausgabe, sondern die erste vollständige Übersetzung. Vorher gab es nur die Übersetzung von Alexander Eliasberg, der aber da es damals erst sieben Kapitel gab, das achte Kapitel nicht übersetzen konnte, das achte Kapitel wurde später dann von Max Reich für einen Dresdner VEB-Verlag übersetzt. Nimmt man diese beiden Übersetzungen zusammen ist das auch komplett, wenn auch nicht von einem Übersetzer und wird sowohl vom Insel Verlag als auch für die Bibliothek Suhrkamp herangezogen, wobei diese beiden Ausgaben vergriffen sind. Zur Zeit gibt es im Buchhandel nur die Manesse-Ausgabe, dass die mehr Seiten hat, kann damit zusammen hängen, dass die nicht so viele Wörter auf einer Seite unterbringen. Die Ausgabe der Bibliothek Suhrkamp hat ohne Anhang 192 Seiten, die Ausgabe meines Insel-Taschenbuchs, da Großdruck, 272 Seiten, obwohl gleiche Übersetzung und imo wortidentisch.

  • Hallo Hubert,


    nur ganz kurz, da keine Zeit. Ich habe am Wochenende so viel gelesen, weil ich unter der Woche nicht dazu komme. Also kannst du dich jetzt erstmal vom Lesestress erholen, ich komm bis Freitag nicht weiter.
    Mit der Ähnlichkeit zu Hiob meinte ich eher die Gottergebenheit neben dem Angenervtsein von GOttes Zumutungen, die ich beim biblischen Hiob auch meine herausgelesen zu haben.


    Für die bibliografischen Hinweise herzlichen Dank: ich bin es zufrieden, keine gekürzte Ausgabe zu lesen.


    Bis denne


    finsbury


  • Ich habe am Wochenende so viel gelesen, weil ich unter der Woche nicht dazu komme. Also kannst du dich jetzt erstmal vom Lesestress erholen, ich komm bis Freitag nicht weiter.


    Hallo finsbury,


    da bin ich ja beruhigt, wenn Du nämlich in dem Tempo weitergelesen hättest, wäre die Leserunde, zumindest der gemeinsame Teil spätestens morgen zu Ende gewesen.



    Mit der Ähnlichkeit zu Hiob meinte ich eher die Gottergebenheit neben dem Angenervtsein von GOttes Zumutungen, die ich beim biblischen Hiob auch meine herausgelesen zu haben.


    So gesehen hast Du natürlich Recht.


    Also noch eine arbeitsreiche Woche und lass Dich weder verhärten noch verwirren.


    Gruß


    Hubert


  • Bisher ist es eine humoristische und menschenfreundliche Schilderung der Erlebnisse Tewjes,


    Richtig, und im dritten Kapitel wird das besonders deutlich. Selten habe ich mich bei einem Roman so amüsiert, wie bei der Schilderung, als der Fleischer Lejser-Wolf Tewje um die Hand seiner Tochter Zeitel bittet, Tewje aber annimmt der Fleischer will ihm eine seiner Milchkühe abkaufen um sie zu schlachten und auch nicht schlecht was sich Tewje einfallen lässt um seine Frau Golde zu überzeugen, das die Idee Zeitel dem Fleischer zu geben vielleicht doch nicht die beste ist.



    Im dritten Kapitel verweigert die Tochter Zeitel die Ehe mit dem viel älteren, aber wohlhabenden Fleischer von Anatevka und bekommt einen armen Schneider, der gesellschaftlich anscheinend unter Tewjes Familie steht. Schuster und Schneider waren wohl besonders schlecht angesehen im Schtetl, warum auch immer.


    Schuster und Schneider waren und nicht nur im Schtetl, sondern überall, meistens Leute die kränklich oder zu schwach waren um als Bauer oder in einem Kraft erfordernden Handwerk z.B. als Zimmermann, Fleischer oder Mauerer zu arbeiten und folglich waren diese Leute als Schwiegersöhne nicht gerade die Beliebtesten. Außerdem waren vor allem Schneider häufig als Auftragsarbeiter unterwegs. Das heißt sie arbeiteten oft im Winter je ein/zwei Wochen auf verschiedenen Bauernhöfen, da die Bauern im Winter Zeit hatten ihre Klamotten ergänzen oder instandsetzen zu lassen. Allerdings hatten die Bauern dann erst im nächsten Herbst nach der Ernte Geld diese Arbeiten zu bezahlen und haben dann das auch oft vergessen, so dass die Schneider auf den Höfen vorsprechen mussten um ihr Geld zu fordern. Auch das machte sie nicht sonderlich beliebt und führte zu dem mir aus meiner Kindheit noch bekannten Spruch, wenn jemand an der Tür klopfte: „Herein, wenn’s kein Schneider ist“.

  • In der vierten Episode tritt zum ersten Mal die Politik in Tewjes Leben. Seine zweitälteste Tochter Hodel hat sich in einen, wie sich später herausstellt, Revolutionär verliebt. Die Hochzeit muss schnell gehen, da der Auserwählte plötzlich das Dorf verlassen muss. Wenig später erfährt man, dass er im Gefängnis sitzt und dann, dass er in die Verbannung muss, wohl nach Sibirien (was aber nicht direkt gesagt wird), wo zwischen 1891 und 1916 die Transsibirische Eisenbahn gebaut wurde und viele politisch Missliebige dorthin geschickt wurden. Für Hodel ist es keine Frage, dass sie ihren Ehemann in die Verbannung begleitet. Es kommt zu einer bewegenden Abschiedsszene zwischen Tewje und seiner Tochter.



    Interessant auch die großen sozialen Unterschiede innerhalb der jüdischen Gesellschaft: In Kiew (= Jehupez) leben viele reiche Altgläubige, die ihre Sommerfrische in Bojberik verbringen, während die armen Schlucker aus den Schtetln wie zum Beispiel Menachem Mendl, der Tewjes Geld durchbringt, dort nur illegal leben können. Ganz verstanden habe ich das nicht ... .


    Hallo finsbury,


    ob ich das richtig verstanden habe weiß ich natürlich nicht, auf jeden Fall habe ich das anders verstanden als Du: Während Kiew (Jehupez) noch 900 Jahre zuvor ein Zentrum des Judentums war und sogar als „Jerusalem des Ostens“ bezeichnet wurde, gehörte es in der Zeit, in der unserer Roman spielt nicht mehr zum Ansiedlungsgebiet für Juden, d.h. diese durften dort offiziell nicht wohnen und konnten sich höchstens illegal in der Stadt aufhalten. Daraus folgt, dass die reichen Sommerfrischler aus der grünen Villa keine Juden sind, was auch im Text bestätigt wird, wenn z.B. gefragt wird: „Wo ist der Jude?“, das fragt man ja nicht wenn man selbst Jude ist. Es werden also nicht die sozialen Unterschiede innerhalb der jüdischen Gesellschaft geschildert, sondern die zwischen Juden und Nichtjuden. Das Wort „Altgläubige“ habe ich im Text nicht gefunden, was meinst Du damit?

  • Hallo Hubert und alle,


    das Wort "Altgläubige" - dachte ich -sei eine Bezeichnung für Juden, die hoffentlich nicht diskriminierend ist, jedenfalls von mir nicht so gemeint war. Ich wollte nur eine sprachliche Abwechslung erzielen. Jetzt habe ich aber bei Wikipedia gelesen, dass so eine christliche Richtung genannt wird. In meiner Erinnerung hatte ich, dass man damit die Gläubigen bezeichnet, die sich allein auf das Alte Testament beziehen.


    Vielen Dank für deine Informationen, besonders zu den Schneidern und Schustern. Wieder was Interessantes dazu gelernt!


    Zitat von "Hubert"

    Daraus folgt, dass die reichen Sommerfrischler aus der grünen Villa keine Juden sind, was auch im Text bestätigt wird, wenn z.B. gefragt wird: „Wo ist der Jude?“, das fragt man ja nicht wenn man selbst Jude ist. Es werden also nicht die sozialen Unterschiede innerhalb der jüdischen Gesellschaft geschildert, sondern die zwischen Juden und Nichtjuden.


    Im ersten Kapitel, wo Tewje die beiden Frauen zur grünen Villa fährt, reden diese ihn mit Reb Tewje an, würden Nichtjuden so eine Anrede benutzen? Außerdem beschreibt Tewje an einer Stelle:
    Ich schaue meine Fahrgäste an: sie sehen wirklich wie Weibsbilder aus; die eine hat ein seidenes Tuch auf dem Kopfe, und die andere eine Perücke ...
    Das ist doch eine jüdische Tradition, dass die Frauen ihr eigenes Haar abrasieren mussten und darüber eine Perücke trugen. Steht so auch in den Schtetl- Unterlagen aus dem Materialienordner.
    An einer anderen Stelle prostet er dem Hausherrn zu - der ein Käppchen trögt - und sagt:
    Gebe Gott ... dass ihr immer reicht bleibt und und viel Freuden erlebt. Juden ... sollen immer Juden bleiben. Gott gebe Ihnen aber ... Gesundheit und Kraft, um alle Plagen und Leiden zu ertragen.
    Entweder hat hier das Lektorat versagt und das "Ihnen" muss eigentlich klein geschrieben werden oder es muss sich der Spruch doch auf den Hausherrn beziehen. Aber den Widerspruch mit der Aussage "Wo ist der Jude?" sehe ich auch. Vielleicht bietet deine Übersetzung, die von jemand anderem stammt, genaueren Aufschluss.
    Dass jedenfalls einige der Sommerfrischler auf jeden Fall Juden sind, wird im Kapitel "Sprinze" deutlich, denn da wird geschildert, dass viele reiche Juden wegen der Pogrome in vielen russischen Städten dorthin gezogen sind und Tewjes Tochter Sprinze wird Gegenstand der Leidenschaft eines reichen jungen Mannes jüdischen Geblütes.


    Wie du siehst, bin ich jetzt wieder relativ weit mit dem Lesen gekommen und befinde mich in Kapitel VII "Tewje fährt ins Heilige Land". Ich kann aber wieder Lesepause machen, damit du aufholst, aber vielleicht bist du sogar schon weiter. Der Text liest sich sehr leicht weg.


    Mir gefällt das Buch seit dem vierten Kapitel besser, weil mehr zeit- und kulturgeschichtliche Bezüge dazu kommen.
    Hodels Aufbruch nach Sibirien ließ mich an Dostojevskij denken, der ja auch dorthin musste. Auch in Tolstois "Auferstehung", das ich vor einiger Zeit las, geht es um diesen Themenkreis.


    Es ist interessant, dass Tewje alle seine Töchter nach einigem Klagen in ihrer Partnerentscheidung unterstützt, nur bei Chawe, die einen Christen heiratet, folgt er trotz großer innerer Trauer unnachgiebig der Tradition, sie für tot zu erklären.
    Übrigens gibt es in dem 7. Kapitel, wie mir gerade einfällt, einen Hinweis darauf, dass die reichen Juden in Kiew wohnen dürfen, denn Tewje verheiratet seine jüngste Tochter Bejlke mit einem reichen jüdischen Bauunternehmer und Kriegslieferanten in Jehupez.
    Was mich merkwürdig anmutet, ist, dass Tewje bis auf seine konsequente Haltung gegenüber dem Christentum alle möglichen politischen und wirtschaftlichen Spielarten kommentarlos hinnimmt. Hodel heiratet einen Revolutionär und Bejlke opfert sich für die Altersversorgung ihres Vaters und nimmt einen Waffenlieferanten, der ja vermutlich auf diese Weise die Regierung und nicht die Revolutionäre unterstützt.


    Bis bald


    finsbury


  • Im ersten Kapitel, wo Tewje die beiden Frauen zur grünen Villa fährt, reden diese ihn mit Reb Tewje an, würden Nichtjuden so eine Anrede benutzen? ......
    Entweder hat hier das Lektorat versagt


    Hallo finsbury,


    ja, das ist wirklich nicht eindeutig. Die Aussage, dass Nichtjuden nicht in Kiew leben dürfen habe ich übrigens sowohl in der Insel-Ausgabe, als auch bei Suhrkamp als Anmerkung gefunden, müsste also auch bei Dir stehen? Meine Manesse-Ausgabe ist leider bis jetzt nicht wieder aufgetaucht!


    Ich stecke jetzt im 6. Kapitel.


    Grüße


    Hubert

  • Kapitel vier endete mit dem Satz: „Wollen wir doch besser von etwas Lustigerem reden: was hört man Neues vom Japankrieg?“ aber über den Russisch-Japanischen Krieg (1904/05) erfährt man dann nichts, stattdessen erzählt Tewje zu Beginn des fünften Kapitels, dass es Zeitel mit ihrem Schneider den Umständen entsprechend gut geht: sie hat bereits die Stube voller Kinder, es fehlt nur eine Kleinigkeit: Brot und Hodel ist mit ihrem Revolutionär tatsächlich in Sibirien und schreibt von dort Briefe an ihrem Vater, die Tewje das Herz schmelzen lassen, aber aus Tewjes Sicht kommt es noch schlimmer: Chawe, die dritte Tochter, verliebt sich in einen Christen und konvertiert zum Christentum um diesen heiraten zu können. Tewje will sie vergessen, was ihm aber nicht gelingt. Beim Nachdenken über die Frage, warum Gott Juden und Nichtjuden erschaffen hat, merkt er, dass er in den heiligen Büchern wohl doch nicht auf Alles eine Antwort findet.


    Hallo finsbury,


    die Begegnunt mit seiner Tochter im Wald, als Chawe versucht seinen Wagen anzuhalten, Tewje aber dem Pferd die Peitsche gibt, ist die real oder findet die nur in seinen Gedanken statt?


    Gruß


    Hubert

  • In der sechsten Episode hört man zum ersten Mal von Pogromen: Kischinew (heute Hauptstadt der Republik Moldau) wird erwähnt. (Bei den als „Pogrom von Kischinew“ in die Geschichte eingegangenen Ausschreitungen am 19./20. April 1903 wurden schätzungsweise 50 Juden getötet und 400 verletzt und hunderte von jüdischen Haushalten und Geschäften geplündert.) Tewje aber erzählt dem Reb Scholem-Alejchem, den er seit einem Schock? Jahre nicht gesehen hat von seiner Plage mit der Tochter Sprinze: In diese hat sich der Sohn einer sehr reichen Witwe verliebt, dieser verlässt sie dann aber ohne Abschied, Sprinze wird damit nicht fertig und geht ins Wasser.


    Hallo finsbury,


    nachdem Zeitel, Hodel und Chawe das Elternhaus verlassen haben, werden im 6. Kapitel die noch verbliebenen Töchter aufgezählt: Sprinze, Teibel und Bejlke. Drei und Drei so hab’ ich mal in der Schule gelernt ist Sechs, trotzdem wird immer von Tewjes sieben Töchtern geredet. Ist meine Schulbildung veraltet oder hast Du eine andere Erklärung gefunden?


    Gruß


    Hubert


  • die Begegnunt mit seiner Tochter im Wald, als Chawe versucht seinen Wagen anzuhalten, Tewje aber dem Pferd die Peitsche gibt, ist die real oder findet die nur in seinen Gedanken statt?


    Hallo Hubert,


    diese Frage hat sich mir gar nicht gestellt, ich habe diese Begegnung als real wahrgenommen. Muss zum Frühstück, später mehr.


    finsbury


  • ich habe diese Begegnung als real wahrgenommen.


    Ist das aber nicht seltsam, dass Tewje der ja ohne Zweifel auf seinem Wagen eingeschlafen war, jetzt seine Tochter sieht, in gleicher Kleidung als er sie zuletzt gesehen hat und wie kommt diese allein in den Wald und zufällig zu der Zeit als Tewje da entlang fährt?

  • Ist das aber nicht seltsam, dass Tewje der ja ohne Zweifel auf seinem Wagen eingeschlafen war, jetzt seine Tochter sieht, in gleicher Kleidung als er sie zuletzt gesehen hat und wie kommt diese allein in den Wald und zufällig zu der Zeit als Tewje da entlang fährt?


    Da hast du sicherlich Recht, auch das Auftauchen Chawes erst zur Rechten, dann zur Linken des Wagens spricht dafür. Der Autor gestaltet aber die Erzählsituation so, als schilderte Tewje diese Scholem Alejchem als wirklich passiert :
    Glaubt ihr vielleicht, ich selbst hatte keine Lust, den Kopf zu wenden und einen Blick, einen einzigen dorthin zu werfen, wo sie gestanden hatte?
    Später erzählt er auch, dass er niemandem etwas von der Begegnung erzählt hätte.
    Vielleicht will der Autor diese Stelle aber auch absichtlich zwischen Fantasie und Wirklichkeit oszillieren lassen, um Tewjes seelische Anspannung zu untermalen.


    Nun zu zeitgeschichtlichen Fragen:
    Du berichtest oben von dem Pogrom von Kischinau von 1904. Der Roman erschien aber schon 1894, zumindest die ersten sieben Kapitel, in denen bereits auf Pogrome Bezug genommen wird. Ich habe jetzt nochmal im Wiki nachgelesen, da steht, dass es auch zwischen 1881 und 1884 Pogrome gab, unter anderem
    in Jekaterinoslaw, das auch im 6. Kapitel erwähnt wird. Allerdings Kischinau, Odessa und Rostow nicht, die auch dort aufgezählt werden.
    Außerdem wird im Wiki berichtet:

    Zitat von wikipedia: Geschichte der Juden in Russland


    Aufgrund dieser Ergebnisse wurden im Mai 1882 die Zeitweiligen Gesetze erlassen, welche den Juden verboten, sich außerhalb von Städten und Kleinstädten niederzulassen (siehe Maigesetze (Russland)).


    Das widerspricht ja nun wieder genau dem, was wir über das Aufenthaltsverbot von Juden in Kiew erfahren haben. ??
    Leider hat meine Ausgabe keinerlei Anmerkungen außer einem kleinen Verzeichnis jiddischer Wörter. Steht in deinen Anmerkungen irgendwo, auf welchen realen Zeitraum sich die Handlung bezieht? Dann könnte man genauer nachsuchen, auf welche Dinge sich Tewje genau bezieht.



    finsbury

  • Hallo,


    muss mich kurz korrigieren: ich habe doch Anmerkungen, da ich ja die gleiche Insel-Großschriftausgabe lese wie du.
    Jetzt habe ich die Stelle mit der Anmerkung zu Kiew auch nochmal gelesen und diese bringt ja die Erklärung, warum die reichen Juden doch in Kiew wohnten:

    Zitat von Anmerkung S. 29 _Inseltaschenbuch

    Jehupez (Kiew) liegt außerhalb des 'Ansiedlungsgebietes für Juden'. Der Aufenthalt in dieser Stadt war wohl praktisch möglich, aber mit großen Schiweirgkeiten und Kosten verbunden.


    Damit ist klar, dass sich die reichen Juden mit guten wirtschaftlichen und politischen Kontakten wohl doch in Kiew ansiedeln konnten.


    finsbury


  • Da hast du sicherlich Recht, auch das Auftauchen Chawes erst zur Rechten, dann zur Linken des Wagens spricht dafür. Der Autor gestaltet aber die Erzählsituation so, als schilderte Tewje diese Scholem Alejchem als wirklich passiert :


    Diese Stelle hat mich eigentlich auf die Idee gebracht, dass das nicht real sein kann. Dass Tewje das als real schildert kommt imo daher, dass er nicht zwischen Tagtraum und Wirklichkeit unterscheiden kann: für ihn war das Wirklichkeit, so sehr wünschte er sich, dass seine Tochter ihn um Vergebung bittet er aber nicht vergibt, diesen Gefallen tut sie ihm aber nicht. .



    Du berichtest oben von dem Pogrom von Kischinau von 1904. Der Roman erschien aber schon 1894, zumindest die ersten sieben Kapitel, in denen bereits auf Pogrome Bezug genommen wird.


    Laut wikipedia wurden die acht Episoden zwischen 1894 und 1916 geschrieben. Von einem Erscheinen 1894 ist mir nichts gekannt. Wo hast Du das her? Sicher ist, dass das achte Kapitel 1916 geschrieben wurde, das heißt aber nicht, dass die ersten sieben Kapitel 1894 geschrieben wurden. Ich bin z.B. davon überzeugt, dass wenn das sechste Kapitel damit beginnt, dass sich Tewje und Reb Scholem Alejchem seit einem Schock Jahre nicht gesehen haben, auch zwischen dem Schreiben des fünften und des sechsten Kapitels ein Schock Jahre lag.



    Damit ist klar, dass sich die reichen Juden mit guten wirtschaftlichen und politischen Kontakten wohl doch in Kiew ansiedeln konnten.


    Ich habe das so verstanden, dass man als Jude sich höchstens illegal in Kiew aufhalten konnte, was natürlich mit hohen Kosten verbunden war, weil von Illegalen z.B. höhere Mieten verlangt wurden und nicht so, dass man sich ein Ansiedlungsrecht erkaufen konnte.

  • Laut wikipedia wurden die acht Episoden zwischen 1894 und 1916 geschrieben. Von einem Erscheinen 1894 ist mir nichts gekannt. Wo hast Du das her? Sicher ist, dass das achte Kapitel 1916 geschrieben wurde, das heißt aber nicht, dass die ersten sieben Kapitel 1894 geschrieben wurden. Ich bin z.B. davon überzeugt, dass wenn das sechste Kapitel damit beginnt, dass sich Tewje und Reb Scholem Alejchem seit einem Schock Jahre nicht gesehen haben, auch zwischen dem Schreiben des fünften und des sechsten Kapitels ein Schock Jahre lag.


    In der Inselausgabe steht als Nachweis am Ende (Zu dieser Ausgabe):
    Der Titel der Originalausgabe lautet Tewje der Milchiger, erstmals erschienen 1894. Das nachgetragene Kapitel VIII. erschien erstmals 1914.


    Da der Obertitel das Schräggedruckte ist, gehe ich davon aus, dass alle sieben vorher erschienenen Episoden
    in der Ausgabe von 1894 enthalten sind. Auch im Kindler ist 1894 als Ersterschinungsdatum des "Romans" angegeben.


    Zitat von Hubert

    Ich habe das so verstanden, dass man als Jude sich höchstens illegal in Kiew aufhalten konnte, was natürlich mit hohen Kosten verbunden war, weil von Illegalen z.B. höhere Mieten verlangt wurden und nicht so, dass man sich ein Ansiedlungsrecht erkaufen konnte.


    Wie oben schon angeführt, wohnt der reiche Ehemann von Bejlke in Jehupez( Insel-Taschenausgabe S. 216 f).


    Du bist jetzt in die Karthausen-Leserunde involviert. Kann ich dann zu Ende lesen oder soll ich noch ein bisschen zuwarten, damit du mit beiden Lektüren zurandekommst?


    Schöne Arbeitswoche allen


    finsbury

  • Hallo finsbury,


    vielen Dank für Deine Hinweise.



    Wie oben schon angeführt, wohnt der reiche Ehemann von Bejlke in Jehupez( Insel-Taschenausgabe S. 216 f).


    So weit war ich noch nicht, also dann wäre das klar: Jehupez gehörte zwar nicht zum Ansiedlungsgebiet der Juden, aber für Leute mit Geld war (wie immer?) alles möglich.


    Auch den Erscheinungstermin 1894 habe ich inzwischen gefunden. Bei Wikipedia heißt es, allerdings zu Anatevka: „Die Geschichte spielt im Russischen Reich, im ukrainischen Dörfchen Anatevka, in der vorrevolutionären Zeit um 1905.“ Und auch auf der folgenden Seite, hier zum Roman, heißt es: „Die Handlung des Romans spielt um das Jahr1905 , kurz vor der Russischen Revolution, in den kleinen Dörfern Masepowka, Jehupez, Bojberik und Anatevka.“
    http://www.judentum-projekt.de…liter/alejchem/index.html


    Ich sehe da drei Möglichkeiten: entweder in der Ausgabe von 1894 waren noch nicht sieben Kapitel enthalten oder (für mich das wahrscheinlichste) die ersten sieben Kapitel wurden im Zusammenhang mit dem Schreiben des achten Kapitels nochmals überarbeitet (sprich: aktualisiert) oder wir haben gerade ein Buch gelesen das in der Zukunft spielt und Scholem Alejchem hatte hellseherische Fähigkeiten und konnte schon 1894 von einem 1904 in Kischinau stattfindenden Pogrom berichten. Was meinst Du?


    Auch Dir eine schöne Woche. (Ich bin jetzt im achten Kapitel und werde den Tewje fertig lesen bevor ich mit der Kartause beginne)..


    Gruß


    Hubert