Irène Némirovsky

  • Hallo zusammen,


    habt ihr schon etwas von Irène Némirovsky gelesen?
    Vom "Der Ball", eine kleine Erzählung, war ich entzückt; von "Suite francaise" , ein Romanfragment, beeindruckt.


    Ein aktueller Artikel in der FAZ bringt mir die Autorin wieder ins Blickfeld:
    Mein Gott, was tut mir dieses Land an?


    In diesem Jahr kam auch eine Biographie heraus:


    Irène Némirovsky: Die Biographie von Olivier Philipponnat
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    Ich bin am überlegen ob ich mir die Biographie kaufen soll und natürlich auch weitere Bücher von der Schriftstellerin.


    Welche Leseerfahrungen habt ihr ?


    Hier gehts zu weiteren Rezensionen:
    http://www.perlentaucher.de/au…678/Irene_Nemirovsky.html


    und hier zu Wikipedia:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Ir%C3%A8ne_N%C3%A9mirovsky


    Grüße von
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Zitat von Autor: JMaria« am: Gestern um 14:05

    habt ihr schon etwas von Irène Némirovsky gelesen?


    Ja, Suite francaise, den Ball und Le maître des âmes. Sehr lesenswert!
    Suite francaise ist ein Zeitdokument. Es gibt meines Wissens sonst keine zeitgleiche Dokumentation oder literarische Verarbeitung der deutschen Okkupation. Es ist eine schonungslose Bestandsaufnahme, bei der die Franzosen nicht unbedingt gut wegkommen. Ein früheres Tabuthema! Im Anhang der französischen Ausgabe sind die Bittbriefe von Irenes Ehemann Michel Epstein abgedruckt, die er in der kurzen ihm bis zu seiner eigenen Deportation verbleibenden Zeit zur Rettung seiner Frau geschrieben hat, u. a. an den deutschen Botschafter in Paris Otto Abetz. Erschütternde Dokumente der Selbsterniedrigung, Naivität und Nutzlosigkeit.


    Gut, dass es nach New York jetzt auch in Paris eine Ausstellung gibt, ich würde sie gern besuchen.
    Es gibt noch eine Reihe anderer Werke der Autorin, die mich interessieren würden, ihre Biographie natürlich mindestens ebenso!

  • Im Anhang der französischen Ausgabe sind die Bittbriefe von Irenes Ehemann Michel Epstein abgedruckt, die er in der kurzen ihm bis zu seiner eigenen Deportation verbleibenden Zeit zur Rettung seiner Frau geschrieben hat, u. a. an den deutschen Botschafter in Paris Otto Abetz. Erschütternde Dokumente der Selbsterniedrigung, Naivität und Nutzlosigkeit.



    dieser Anhang befindet sich auch in der btb-Ausgabe. Naivität und Nutzlosigkeit- das trifft es. Erschreckend.
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    ein sehr reifes Werk.


    Danke für den Link. "Leidenschaft" ist sogleich auf meine Wunschliste gekommen.


    Grüße,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

  • Le maître des âmes. Sehr lesenswert!



    "Herr der Seelen" - ja, wirklich, die Beschreibung bei Amazon klingt sehr sehr gut.
    Schön, dass ich noch einige Bücher von ihr entdecken kann.


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    Edit:
    im November kam ein neues Buch heraus. Aus diesem Anlaß kam die Tochter Denise Epstein zum ersten Mal nach Deutschland um einer Lesung daraus beizuwohnen. Sie hatte sich bisher geweigert nach Deutschland zu kommen.


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    Zitat von "Gontscharow"

    Gut, dass es nach New York jetzt auch in Paris eine Ausstellung gibt, ich würde sie gern besuchen.



    ein schönes Vorhaben. Wie ich las, ist die Ausstellung im "Mémorial de la Shoah" in Paris noch bis zum 08.03.2011.



    Gruß,
    Maria

    In der Jugend ist die Hoffnung ein Regenbogen und in den grauen Jahren nur ein Nebenregenbogen des ersten. (Jean Paul F. Richter)

    Einmal editiert, zuletzt von JMaria ()

  • Irène Némirovsky: Suite Francaise (posthum 2004)


    Die Autorin wurde 1903 als Tochter eines reichen jüdischen Bankiers und einer sehr ich bezogenen, ihre Tochter ablehnenden Mutter in Kiew geboren. Die Familie zog im Zuge der Folgen der russischen Revolution 1918 aus Russland über Umwege bis nach Frankreich, wo sie sich 1919 in Paris niederließen. Dort baute ihr Vater eine Dépandance seines Bankhauses aus und erneuerte seinen Reichtum. Später heiratete Irène den ebenfalls jüdischen Bankier Paul Epstein, mit dem sie zwei Töchter hatte. Im Angesicht des zunehmenden Antisemitismus auch in Frankreich und einer drohenden Besetzung durch die Deutschen trat die Familie zum Katholizismus über. Im Juli 1942, kurz nachdem sie die beiden ersten Bände ihres opus magnus „Suite Française“ beendet hatte, wurde sie verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sie kurz nach der Ankunft ums Leben kam. Ihrem Mann geschah wenige Monate später das gleiche Schicksal, dem die beiden Mädchen durch den Einsatz ihrer Pflegemutter entkamen. Die Töchter führten durch Jahrzehnte einen Koffer mit Briefen und Notizen ihrer Mutter bei sich, aber erst nach dem Tod der jüngeren 1996 entdeckte man, dass der Koffer die ersten beiden Teile eines auf fünf Teile geplanten Romans enthielt, der sich mit der Schilderung der französischen Bevölkerung bei der Eroberung und Besatzung durch die Deutschen 1940 und 41 beschäftigt. Diese ersten beiden Teile wurden unter dem geplanten Namen für das ganze Werk „Suite Française“ 2004 veröffentlicht, im gleichen Jahr auch auf Deutsch, übersetzt von Eva Moldenhauer.

    Inhalt
    Im ersten Teil „Sturm im Juni“ fliehen zahlreiche Familien und Einzelpersonen aus Paris, da die Einnahme durch die Deutschen unmittelbar bevorsteht. Anhand einiger Protagonisten, die auch in den späteren Bänden auftauchen, beschreibt die Autorin die unterschiedlichen Reaktionsweisen auf die Gefährdung insbesondere ihres Besitzes und ihrer gesellschaftlichen Stellung durch die Besatzung. So geht es der gutbürgerlichen Familie Péricand vor allem um ihre Besitzsstandswahrung, und sie packen ihre Autos bis obenhin mit Haushaltstand und Tafelsilber voll. Später wird der zweitälteste, noch minderjährige Sohn Hubert sich von dieser rein materialistischen Denkweise abwenden und versuchen, sich den Deutschen mit den Resten der französischen Truppen entgegenzuwerfen. Er entkommt nur knapp der Gefangenschaft. Der älteste Sohn und Kleriker Philippe verliert sein Leben, als er versucht, eine Gruppe von Waisenjungen in Südfrankreich in Sicherheit zu bringen. Diese, dem strengen Reglement des Waisenhauses entflohen, bringen ihren Beschützer um. Daneben lernen wir einen eingebildeten berühmten Schriftsteller mit seiner Geliebten kennen, der sich nicht entblödet – mitten im Flüchtlingszug - ein durch Beziehungen erhaltenes edles Picknick einzunehmen und sich dann entrüstet, als ihm dieses entwendet wird. Ebenso ist ein reicher Junggeselle nur damit beschäftigt, seinen Porzellannippes so einzupacken, dass ihm auch wirklich nichts geschehen kann. Nur das kleinbürgerliche Ehepaar Michaud, dessen Sohn Jean-Marie im Krieg ist und von dem sie keine Nachrichten haben und einige Bäuerinnen und Damen der Landbevölkerung, zu denen sich der Flüchtlingsstrom hinwälzt, fallen positiv durch Mitgefühl auf.

    Der zweite Teil „Douce“ spielt ein paar Monate später im Dorf Bussy im von den Deutschen besetzten Teil Frankreichs. Hier steht Lucile im Mittelpunkt, eine junge Ehefrau, deren Mann in Gefangenschaft ist und die bei der sie ablehnenden Schwiegermutter lebt. Ein junger deutscher Offizier wird bei ihr einquartiert, der leidenschaftlich gerne Klavier spielt und komponiert. Die beiden verlieben sich, doch verhindert eine Bluttat ihr endgültiges Zusammenkommen, da ein Pächter der Familie einen anderen bei der Bauersfamilie einquartierten Offizier ermordet, weil dieser um seine Frau herumstreicht. Lucile wird nun von dieser Frau gebeten, den Mörder bei sich zu verstecken, was sie auch tut. Durch diese patriotische Inpflichtnahme und die Heimlichtuerei kommt es aber zu einer Entfremdung zu dem bei ihnen wohnenden Offizier. Am Ende des Bandes erklärt Russland dem Deutschen Reich den Krieg und das Besatzungsregiment wird abgezogen.

    Meine Meinung
    Das Buch ist einerseits leicht zu lesen und auch spannend, aber es hat mich sehr irritiert. Némirovsky schildert im Vergleich die Franzosen meist sehr viel negativer als die deutsche Besatzungsmacht. Ihr Thema ist ja wohl der Egoismus der meisten angesichts einer alle bedrohenden Lage, insofern kann ich die Negativität zum Teil verstehen. Was ich nicht begreife, ist diese positive Schilderung der Deutschen, die auch vor Klischees nicht zurückschreckt. So sind die deutschen Soldaten alle blond, frisch und jung, ebenso willenlos in einen Krieg getrieben wie die Franzosen in die Besatzung durch die fehlende Durchschlagskraft ihrer eigenen Armee. Manche von den Franzosen sind sich gar nicht sicher, ob sie einen Sieg der Engländer über die Deutschen wollen, denn auch die westlichen Nachbarn sind Erbfeinde über Jahrhunderte. Die Ideologie des Nationalsozialismus und der zerstörerische Antisemitismus werden gar nicht erwähnt.

    Mich hat diese Erzählattitüde besonders deshalb erschüttert, als die Autorin selbst kurz nach Abschluss des zweiten, besonders deutschenfreundlichen Bandes ein Opfer des Holocaust wird. Vielleicht hat sie ja gemeint - was auch in den beigegebenen Notizen zur Fortsetzung des Romans angedeutet wird - dass die Besatzung von Dauer sei und/ es einen deutschen Siegfrieden geben werde. Unter solchen Umständen dachte sie vielleicht so schreiben zu müssen, damit ihr Werk eine Chance auf Veröffentlichung hatte. Dennoch, mich lässt dieses Romanfragment verwirrt und beunruhigt zurück. Auch habe ich gelesen, dass die Autorin selbst in ihren anderen Veröffentlichungen durchaus auch antisemitische Positionen vertreten hat, besonders gegenüber den osteuropäischen reichen Flüchtlingen, die an der Côte d’Azur ein Leben in Saus und Braus führten, ähnlich wie ihre von ihr gehasste Mutter.

    Ich bleibe zwiegespalten zurück, einerseits sehr traurig über dieses so früh zerstörte Leben einer begnadeten Erzählerin, andererseits abgestoßen von der merkwürdig unpassenden Darstellung.

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)