Mai 2003: Michel de Montaigne - "Essays"

  • Hallo zusammen,


    ich habe inzwischen mit dem nächsten Essay begonnen: „Über die Kindererziehung“ und – bin begeistert. Dieses Kapitel sollte zur Pflichtlektüre für alle Eltern und für alle Lehrer erhoben werden. Man ahnt, was eine Erziehung im Sinne Montaignes aus einem hätte machen können, oder doch nicht? Ist dies überhaupt durchführbar?


    Übrigens habe ich einen genauen Leseplan für die erste Staffel in „Gemeinsames Lesen –Chronik“ eingestellt.


    Liebe Grüsse


    Hubert

  • Montaignes Essay über die Kindererziehung ist ein Aufruf gegen Pedantentum, Lernzwang, Bücherwissen und lebensfremdes Studium. Die Abneigung gegen Pedanten, gegen die dieses und das vorherige Kapitel zu Felde ziehen, ist gleichzeitig eine Ablehnung des Spezialistentums. Das vorherige Kapitel („Von der Schulmeisterei“), hatte „jemand gesehen“ und Montaigne gesagt er „hätte sich ein wenig mehr über den Gegenstand der Kindererziehung verbreiten sollen.“ (Sollten die Essais doch nicht so wahllos zusammen gestellt sein?).


    Montaigne erzählt nun in diesem (an die Gräfin von Gurson gerichteten) Kapitel zunächst von seiner eigenen Erziehung. Sein Vater war bei einem Feldzug in Italien mit den Gedanken der Renaissance bekannt geworden und hatte sich in den Kopf gesetzt, seinen Sohn mit Latein als 1. Sprache bekannt zu machen. Auf diese Idee wurde nun das ganze Familienleben abgestellt: mit erstaunlichem Erfolg. Montaigne folgert daraus, dass man das für das Leben Notwendige nicht früh genug erfahren kann und es dann aber selbst erproben muss. Aber das Gegenteil ist der Fall: „Man lehrt uns, zu leben, wenn unser Leben dahin ist. Hundert Scholaren haben sich den Tripper geholt, bevor sie im Aristoteles bis zum Kapitel von der Mäßigung gekommen waren.“


    Nicht der hat seine Lehren gut studiert, der sie auswendig hersagen kann, sondern der, der sie ausübt. Der wahre Spiegel unserer Schulweisheit ist unser Lebenswandel.


    Zum Schluß des Kapitels kommt Montaigne noch auf seine ersten Leseabenteuer zu sprechen: Mit sieben oder acht Jahren stahl er sich von allen Lustbarkeiten hinweg, um sich an den Fabeln von Ovids Metamorphosen zu vergnügen. Aber über seine Erfahrungen mit Bücher erfahren wir sicher mehr im nächsten Kapitel unseres Leseplans: „Über die Bücher“!!!

  • Hallo Sonja,


    Zitat:
    Habt ihr bemerkt, dass .... Shakespeare bei seinem "Sturm" auf das Menschenfresseressay zurückgreift?


    Gestern abend habe ich in meiner Shakespeareausgabe einmal nachgesehen und eine Stelle gefunden bei der Shakespeare nicht nur von Montaigne beeinflusst ist, sondern meiner Meinung nach eine Passage aus dem Essay „Über die Menschenfresser“ regelrecht abgeschrieben hat. Im II. Aufzug von „Der Sturm“ sagt Gonzalo:“Hätt ich, mein Fürst, die Pflanzung dieser Insel – und wäre König hier, was würd ich tun? – Ich wirkte im gemeinen Wesen alles durchs Gegenteil; denn keine Art von Handel erlaubt ich, keinen Namen eines Amts; Gelehrtheit sollte man nicht kennen, Reichtum, Dienst, Armut gäbs nicht, von Vertrag und Erbschaft, Verzäunung, Landmark, Feld- und Weinbau nichts, auch kein Gebrauch von Korn, Wein, Öl, Metall, kein Handwerk, alle Männer müßig, alle; -- In der gemeinsamen Natur sollt alles Frucht bringen ohne Müh und Schweiß, Verrat, Betrug, Schwert, Speer, Geschütz, Notwendigkeit der Waffen gäbs nicht bei mir, es schaffte die Natur von freien Stücken alle Hüll und Fülle, mein schuldlos Volk zu nähren.“ – Genau das gleiche möchte Montaigne im Essay ja an Plato über die brasilianischen Ureinwohner berichten.


    Also nochmals vielen Dank für deinen Hinweis.


    Hubert

  • Hallo Elfenkönigin,
    Hallo Sonja,


    seid Ihr noch dabei?


    Ich stecke mitten in dem Essay „Über die Bücher“ und möchte am liebsten alles was Montaigne empfiehlt, erst einmal selbst lesen – vorallem Plutarch! Aber wenn ich recht informiert bin, hatte Montaigne in seinem Turmzimmer mehr als tausend Bücher stehen, und das würde unseren Leseplan doch etwas verzögern. Toll die Stelle, in der Montaigne schreibt, was er in Büchern sucht: „nichts weiter als mich bei einem ehrbaren Zeitvertreib zu vergnügen; oder wenn ich mich in sie versenke, so suche ich darin nur die Wissenschaft, die von der Erkenntnis meiner selbst handelt: und die mich lehrt, recht zu leben ...“ –
    Also: mich selbst erkennen und bei einem vergnüglichen Zeitvertreib lernen recht zu leben – - ja genau, deshalb lese ich auch!


    Gruß


    Hubert

  • Hallo Hubert,


    habe jetzt "Über die Kindererziehung" gelesen. Erstaunlich in welchen Alter Montaigne bereits Klassiker gelesen hat. Ovids Metamorphosen gehörten damals zu den Klassikern und gehören heute immer noch dazu. Obwohl ich heute schon mehr als dreimal so alt bin, als Montaigne damals war, habe ich sie immer noch nicht komplett gelesen, obwohl mir natürlich einige Mythen daraus bekannt sind. Ich habe die Metamorphosen in die Lesevorschläge geschrieben, vielleicht gibt es ja noch mehr, die diesen Klassiker noch nicht gelesen haben.


    Sonja

  • Hallo Sonja,


    es freut mich, dass Du noch dabei bist. Wenn ich Ovid nicht schon kennen würde, hätte ich das Buch selber in die Lesevorschläge aufgenommen. Das heißt nicht, dass ich nicht, wenn eine interessante Runde zusammen kommt, nicht nochmals mitlese. Einen echten Klassiker kann man nicht oft genug lesen! Ich bin mal eine Zeit lang (als ich für ein Jahr in Berlin war) jeden Morgen eine Stunde früher aufgestanden, um eine Lesung in Fortsetzungen dieses Klassikers zu hören (im Radio) – und ich kenne nicht viel Literatur, für die ich dieses Opfer bringen würde.


    LG


    Hubert

  • Montaigne: Über die Bücher


    Hätte es das Internet schon 500 Jahre früher gegeben, Montaigne wäre sicherlich Mitglied im Klassikerforum geworden. Kaum je greift er nach zeitgenössischer Literatur, weil ihm „die alten (Klassiker) mehr Kraft und Fülle zu haben scheinen. Klassiker das waren für Montaigne:


    1. Plutarch (vor allem die kleinen Schriften) und Seneca (die Briefe)


    Montaignes Urteil:
    Plutarch folgt den platonischen Anschauungen, Seneca den stoischen und epikuräischen; Plutarch ist überall freimütig, Seneca ist voll geistreicher Wendungen.
    Neben diesen beiden „dünkt ihm die Schreibweise von Ciceros Werken (Montaigne liest insbesondere die Werke, die von der Moralphilosophie handeln) langweilig“ und „die Gesprächskünste Platos schleppend“


    2. Die Geschichtsschreiber Diogenes Laertius und Sallust (dessen Sprachreinheit Montaigne noch über die Ciceros stellt.)

    3. Die Komödienschreiber Plautus und Terenz (wobei nach Montaigne Terenz höher steht als Plautus:. „Terenz, die Zierde der lateinischen Sprache ist bewundernswert in der Schilderung der Seelenregungen und der Sitten“.)


    4. „In der Dichtkunst nehmen Vergil, Lukrez, Catull und Horaz (für Montaigne) bei weitem den höchsten Rang ein“ – vor allem Virgils „Georgica“, hält Montaigne für das vollendestste Werk der Dichtkunst – und in der Aeneis das fünfte (eher ruhige) Buch für das vollkommenste.


    Am Beispiel von Vergils Aeneis und Ariosts L’Orlando Furioso macht Montaigne den Unterschied zwischen Klassikern und (damaliger) zeitgenössischer Literatur deutlich:


    „Jenen (Vergil) sehen wir auf starken Schwingen in hohem und festem Fluge immerfort auf sein Ziel zustreben; diesen (Ariost) von einer Erzählung zur andern wie von Ast zu Ast flattern und hüpfen, als traute er der Stärke seiner Flügel nur für eine kurze Strecke, ...“.


    Montaignes Meinung zur beliebtesten Literaturgattung des 20. Jahrhundert, der „short story“ würde mich schon interessieren?


    An Ariost findet Montaigne aber als Erwachsener keinen Spaß mehr und die Amadisromane (damals Dauerbrenner auf den –noch nicht vorhandenen- Bestsellerlisten) hatten ihn nicht einmal in seinen Kinderjahren anzuziehen vermocht. An zeitgenössischer Literatur findet Montaigne nur „den Decamerone des Boccaccio, den Rabelais und die Basia des Johannes Secundus, ..., des Verweilens würdig.“


    Während Johannes Secundus „Basia“ (Küsse) noch zu Goethes Lieblingslektüre zählte, gehört Boccaccio und Rabelais auch heute noch zu den bekannten Literaturklassikern. Hingegen kennt man den „Rasenden Roland“ von Ariost und die Amadisromane heute höchstens noch dadurch, dass sie den 25 Jahre nach den Essais auf der Literaturbühne erschienenen „Don Quixote“ in den Wahnsinn trieben und im sechsten? Kapitel des gleichnamigen Klassikers verbrannt werden. Aber gelesen werden sie heute eigentlich nicht mehr.


    Würde es uns heute auch gelingen, aus der zeitgenössischen Literatur, Klassiker für die nächsten 400 und mehr Jahre vorherzusagen?!!!?

  • Hallo Hubert


    vielen Dank für die Zusammenfassung des Bücheressay. Ist bekannt, welche Werke von Plutarch, Montaigne gelesen hat? Ich habe inzwischen in anderen Essais weitere Hinweise auf Montaignes Leseverhalten entdeckt z.B. im 1. Buch, Kapitel 36 (Der junge Cato) läßt er seine 3 Lieblingsdichter über Cato zu Wort kommen. Montaigne selbst las diese 3 in folgender Reihenfolge:


    Zuerst fesselten ihn die von heiteren Erfindungen geprägten Metarmorphosen des Ovid,


    später dann der gehobenere, scharfsinnige Stil bei Lukan und schließlich


    die Kraft und Reife Vergils (Georgica und Aeneis).


    Mein Gedanke war, ob diese drei verschiedenen Stile, auch über den Essais stehen könnten und zwar Heiterkeit über dem ersten Buch, Scharfsinn über dem zweiten Buch und Reife über dem dritten Buch?????

  • Bemerkungen und Gedanken über Montaigne von anderen Autoren:


    "In den meisten Autoren sehe ich den schreibenden Menschen,
    in Montaigene den denkenden Menschen." (Charles de Montesquieu)


    "Michel de Montaigne, Autor der Essais, die man lesen wird,
    solange es Menschen geben wird, die die Wahrheit lieben,
    die Kraft, die Schlichtheit." (Denis Diderot)


    "Ich empfehle Ihnen Montaigne. Lesen Sie ihn von Anfang bis Ende,
    und wenn Sie fertig sind, beginnen Sie wieder von neuem".
    (Gustave Flaubert
    )


    "Montaigne. Dass ein solcher Mensch geschrieben hat,
    dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden."
    (Friedrich Nietzsche)

  • Hallo Sonja,


    Ist bekannt, welche Werke von Plutarch, Montaigne gelesen hat?


    Mir nicht. Da Plutarch aber, obwohl er im römischen Reich lebte (er war sogar mit den Kaisern Trajan und Hadrian bekannt), nicht lateinisch (somit Montaignes Kindheitssprache) sondern griechisch (er war ja Grieche) geschrieben hat, werden es wohl nur die, ins französisch übersetzte Werke gewesen sein. Aber welche waren das?


    Mein Gedanke war, ob diese drei verschiedenen Stile, auch über den Essais stehen könnten und zwar Heiterkeit über dem ersten Buch, Scharfsinn über dem zweiten Buch und Reife über dem dritten Buch?????


    Ein spannender Gedanke, spannend für mich, da ich noch zu wenig kenne, um diese berechtigte?, interessante Frage zu beantworten.


    Liebe Grüße


    Hubert

  • Ist bekannt, welche Werke von Plutarch, Montaigne gelesen hat?


    Hallo Sonja,


    in einem Band der Essais, den ich mir zum Vergleich der Übersetzungen aus der Bücherei geholt hatte, habe ich soeben neben dem Namen Plutarch, die an den Rand geschriebenen Bemerkungen „Lebensbeschreibungen“ und „Moralia“ gefunden. Ob damit die von Montaigne gelesenen oder die dem Randbeschreiber bekannten Werke gemeint sind, war aber leider nicht feststellbar.


    Ich habe mir auf jeden Fall das Werk „Moralia“, das in der deutschen Ausgabe „Von der Heiterkeit der Seele. Moralia“ heißt, bestellt und bin auf die Lektüre gespannt. In Plutarachs Lebensbeschreibungen habe ich schon öfter geschmökert: „Fünf Doppelbiographien“, Hier werden fünf berühmte Römer, fünf berühmten Griechen gegenübergestellt. Also z.B.:
    Alexander d. Gr. und Caesar. Soll auch Shakespeare (wieder einmal) als Vorlage (Caesar) gedient haben.


    Liebe Grüße


    Hubert

  • Hallo Elfenkönigin,
    hallo Sonja,


    ich bin nun mit dem Essay „Über den Dünkel“ durch und würde gerne mit Euch darüber diskutieren, möchte allerdings nicht durch oberlehrerhafte Kommentare nerven und warte deshalb zunächst Eure Beiträge ab.


    Liebe Grüße


    Hubert

  • Hallo Hubert


    was hat dich den verärgert? Dieses Kapitel habe ich nicht verstanden. Warum macht sich Montaigne selbst so schlecht? Eine Stelle hat mich aber doch zum Lachen gebracht. Montaigne (der Managementlehrer) bringt ein Beispiel dafür, dass Motivation mehr bewirkt, als Befehl und Zwang:
    Selbst an meinem Körper, schreibt er, verweigern die Glieder, die eine gewisse Selbstherrlichkeit besitzen, zuweilen den Gehorsam, wenn ich sie zu bestimmter Zeit und Gelegenheit zu einer auferlegten Dienstleistung anweisen will. Diese erzwungene Fristsetzung macht sie störrisch: sie verkümmern und stellen sich tot. :breitgrins: Wie wahr!


    Liebe Grüße


    Sonja

  • Hallo Sonja,


    was hat dich den verärgert?


    Nichts, im Gegenteil, ich komme gerade gut gelaunt, von einem Pfingstausflug zurück. Nein, im Ernst, ich hatte den Eindruck, die Montaigne-Diskussion alleine zu führen und das muß ja nicht sein. Ich kann auch „leise“ lesen.

    Dieses Kapitel habe ich nicht verstanden. Warum macht sich Montaigne selbst so schlecht?


    Ob ich dieses Kapitel verstanden habe - : ??? Mein Eindruck: Montaigne macht sich hier nicht schlecht, sondern hat quasi als Eigen?-Therapie „gegen den Dünkel“ (Achtung Oberlehrer: Hochmut) alles aufgeschrieben was er nicht ist/kann/hat. Ich habe zumindest manchmal in einen Spiegel geschaut und werde diese Übung gelegentlich mal für mich machen.


    Gruß


    Hubert