Juni 2008 - Th. Mann: Der Tod in Venedig

  • Hallo zusammen,


    ich eröffne schon mal den Thread für unsere morgen startende Leserunde.


    Der Tod in Venedig war bei mir einst Schullektüre (anno 1993), deshalb habe ich auch eine entsprechend alte Ausgabe, die sogar mit Bleistiftnotizen versehen ist (allerdings nicht besonders ausführlich...). Auf die Angabe von Seitenzahlen werde ich dann wohl besser verzichten :smile:.


    Ich freue mich schon auf unsere gemeinsame Lektüre und auf viele interessante Diskussionen.


    Viele Grüße
    thopas

  • Ich freue mich auch schon. Ich habe die Novelle auch schonmal gelesen, allerdings ist vieles verschütt gegangen, sodass ich relativ "unbefleckt" lesen kann.


    Danke übrigens schonmal für die Links bei den Materialien.

  • So, ich bin auch bereit. Ich habe heute die Fischer-Taschenbuchausgabe gekauft. Und jetzt bin ich mal gespannt, ob mir das gemeinsame Lesen Spaß macht.
    Von Thomas Mann habe ich bisher nur die 'Buddenbrooks' und den 'Zauberberg' gelesen. Beides ist schon ewig her und ich erinnere mich nur noch schemenhaft.

    Das Buch, wenn es zugeklappt daliegt, ist ein gebundenes, schlafendes, harmloses Tierchen, welches keinem etwas zuleide tut. Wer es nicht aufweckt, den gähnt es nicht an. Wer ihm die Nase nicht gerade zwischen die Kiefer steckt, den beißt es auch nicht. <br />Wilhelm Busch

  • Schön, daß du das Buch noch rechtzeitig bekommen hast, picco. Ich habe die Buddenbrooks vor ca. 10 Jahren mal gelesen, den Zauberberg habe ich auch mal in Angriff genommen (da war ich, glaube ich, noch auf der Schule) aber nach der Hälfte dann abgebrochen. Den möchte ich auf jeden Fall irgendwann nochmal ganz lesen...


    Aber jetzt steht ja erst mal Der Tod in Venedig auf dem Plan :smile:.


    Viele Grüße
    thopas

  • Hallo, thopas,


    vielen Dank für die Materialsammlung.


    Zum Thema "Dekadenzliteratur" habe ich eine Ergänzung. Mario Praz, ein italienischer Anglist, hat in den 30er Jahren ein interessantes Buch mit dem Titel "Liebe, Tod und Teufel - Die schwarze Romantik" geschrieben. Darin stellt er die These auf, dass die Dekadenzliteratur der Höhepunkt einer Entwicklung war, die mit Miltons "Lost Paradise" (und dessen "Sympathy for the Devil") begann und über Autoren wie de Sade, die Spätromantiker (Lord Byron, E. A. Poe, E.T.A. Hoffmann) und Baudelaire zu den eigentlichen Décadents des Fin de siècle (J.K. Huysmans, O. Wilde, T. Mann) führte. Gemeinsame Klammer all dieser so unterschiedlichen Autoren sei die Beschäftigung mit den morbiden und z.T. lasterhaften Nachtseiten der menschlichen Seele. Auch Todessehnsucht und der Tod selbst (der als Versuchung in unterschiedlicher Gestalt daherkommt) sind Praz zufolge wichtige Dekadenz-Motive.


    Abgesehen davon, dass ich den geistigen Volten des Herrn Praz nicht immer zu folgen vermochte, finde ich seine These interessant genug, um sie hier kurz zu erwähnen.


    Viele Grüße und einen schönen Sonntag!


    Sir Thomas

  • Hallo Evelyne,



    Die Novelle beginnt auf Seite 9 und endet mit Seite 139. Stimmt das mit der Fischer-Taschenbuchausgabe überein?


    Ja, genau wie im Taschenbuch.


    LG
    picco

    Das Buch, wenn es zugeklappt daliegt, ist ein gebundenes, schlafendes, harmloses Tierchen, welches keinem etwas zuleide tut. Wer es nicht aufweckt, den gähnt es nicht an. Wer ihm die Nase nicht gerade zwischen die Kiefer steckt, den beißt es auch nicht. <br />Wilhelm Busch

  • Hallo Sir Thomas,


    vielen Dank für den Hinweis, das klingt ganz interessant. Von Mario Praz habe ich einmal ein Essay gelesen, das in meinem Penguin-Band "Three Gothic Novels" enthalten war. Die Gothic Novels behandlen ja auch Themen, wie den Tod und die Nachtseite der menschlichen Seele. Ich werde mich mal nach dem Buch umsehen.


    Viele Grüße
    thopas


  • Dann ist meine Ausgabe wohl doch nicht so verschieden (obwohl sie ein kleineres Format hat). Bei mir geht der Text von Seite 9 bis 140.


    Mir gefällt der Anfang der Erzählung immer ganz gut; wie Aschenbach zum Aumeister spazieren geht (übrigens auch heute noch ein schöner Biergarten am nördlichen Ende des Englischen Gartens) und dann vor dem Eingang zum Nordfriedhof auf die Straßenbahn wartet. Dabei ist mir wieder eingefallen, daß ich noch nie auf dem Nordfriedhof war, obwohl ich doch über 25 Jahre in München gewohnt habe. Beim nächsten München-Besuch muß ich da mal hinschauen...


    Das erste Kapitel ist ja schon sehr symbolträchtig. Und es enthält auch schon die "Leitfigur", den Todesboten, in Gestalt des Wanderers. (Schade, daß ich mir damals bei der Schullektüre nicht mehr Notizen gemacht habe...)


    Beim zweiten Kapitel hingegen tu ich mir jedesmal schwer. Da lese ich dann drüber und habe nachher nicht viel verstanden. Irgendwie wird das nie besser, egal wie oft ich Der Tod in Venedig lese. Aber danach wird es ja Gott sei Dank wieder handlungsorientierter :smile:.


    Viele Grüße
    thopas


  • Beim zweiten Kapitel hingegen tu ich mir jedesmal schwer.


    Hallo, thopas,


    das zweite Kapitel dient hauptsächlich der Charakterisierung und Beschreibung Aschenbachs, der - so habe ich gelesen - nach dem Wiener Komponisten und Operndirektor Gustav Mahler modelliert sein soll.


    Aschenbach wird uns als preußischer Pflichtmensch mit calvinistischem Arbeitsethos vorgestellt. Ein großer Geist, der weniger durch Genialität als durch hartes Ringen Ergebnisse erzielt. Wieviel Thomas Mann in Aschenbach enthalten ist, wird seit knapp einem Jahrhundert immer wieder gefragt.


    Ich kann leider mit Euren Seitenangaben (und Ihr mit den meinigen) nichts anfangen, weil ich die zweibändige Ausgabe sämtlicher Erzählungen T. Manns als Grundlage nutze.


    Eine Sache, die mir sofort auffiel, möchte ich Euch nicht verschweigen: "Der Tod in Venedig" ist eine der meist analysierten deutschen Novellen, weshalb es mir schwer fällt, einen neuen und originellen Gedanken zu entwickeln. Ich habe das Gefühl, bislang ausschließlich Bekanntes wiederkäuen zu können.


    Wie geht es Euch diesbezüglich?


    Viele Grüße


    Sir Thomas


  • ... Ich werde mich mal nach dem Buch umsehen.


    Hallo, thopas,


    es ist nicht einfach, an dieses Buch zu kommen. Ich habe einige Internet-Versandantiquariate "abklappern" müssen, bevor ich erfolgreich war. Und rabenteuer war es auch!


    Viele Grüße


    Sir Thomas

  • Hallo zusammen


    Ich schlage vor, wir wenden uns erstmal dem 1. Kapitel zu. Sekundärliteratur kann man ja immer noch an den passenden Stellen einflechten. Mich interessiert vor allem die Werkimmanenz und unsere literarischen, geisteswissenschaftlichen und empirischen Assoziationen zum Werk.


  • ...das habe ich inzwischen auch schon festgestellt, nachdem ich mal bei Amazon vorbeigeschaut habe. Alles vergriffen, egal ob auf deutsch oder englisch. Ich werde das Buch mal auf meine geistige Liste setzen und falls es sich mal zufälligerweise auftut, dann zugreifen :smile:.


    Viele Grüße
    thopas


  • Eine Sache, die mir sofort auffiel, möchte ich Euch nicht verschweigen: "Der Tod in Venedig" ist eine der meist analysierten deutschen Novellen, weshalb es mir schwer fällt, einen neuen und originellen Gedanken zu entwickeln. Ich habe das Gefühl, bislang ausschließlich Bekanntes wiederkäuen zu können.


    Wie geht es Euch diesbezüglich?


    Das ist mir auch aufgefallen. Man muß ja bloß auf die Wikipedia-Seite zum diesem Buch schauen und schon bekommt man alles fertig serviert und analysiert. Vielleicht hätten wir zum Thema "Dekadenz" doch eine andere Erzählung von Thomas Mann auswählen sollen...


    Aber einige hier in der Leserunde kennen die Erzählung, glaube ich, noch nicht. Warten wir einfach mal ab, was sich ergibt.


    Viele Grüße
    thopas

  • Liebe Mitstreiter,


    allen genannten Hemmnissen zum Trotz, hier ein Gedanke zum 1. Kapitel:


    Von Aschenbachs plötzlich aufkeimende Reiselust (beim Anblick des "Todesboten") läßt folgende Landschaft vor seinem inneren Auge entstehen:


    „[...] ein tropisches Sumpfgebiet unter dickdunstigem Himmel, feucht, üppig und ungeheuer, eine Art Urweltwildnis aus Inseln, Morästen und Schlamm führenden Wasserarmen [...]"


    Mir fielen sofort einige Landschaftsbilder des spätbarocken Venezianers Francesco Guardi ein (ein Canaletto-Schüler). Obwohl Guardi keine tropischen Sumpfgebiete gemalt hat, sind seine Landschaften in ein bedrohliches Licht getaucht: Bäume, deren verschnörkelte und verdorrte Äste sich gespenstisch wie eine Skeletthand in den gifitg-schwülen Himmel recken; eine Sonne, die allenfalls gedämpft durch grünlich schimmernden Wolkendunst dringt; wahre Endzeitlandschaften, in denen der Mensch (wenn er überhaupt vorhanden ist) höchst einsam umherirrt.


    Ob Thomas Mann Guardi kannte? Spekulation. Auf jeden Fall lässt die Vision Aschenbachs mich an Unheil, Fäulnis, Verwesung, also an die Nähe des Todes denken. Aschenbach spürt diese Nähe - und er sehnt sich nach dem Tod.


    Viele Grüße


    Sir Thomas


  • Hallo Sir Thomas,


    diese tropischen Landschaften, Sümpfe, Urwälder, Feuchtigkeit, Schwüle, werden ja immer wieder benutzt, um an Unheil, Fäulnis und Verwesung zu erinnern. Mir fällt da spontan Homo Faber von Max Frisch ein, wo Walter Faber in Mexiko/Guatemala ist und dort längere Zeit untätig warten muß bzw. dann den Erhängten auf der Plantage findet. Lovecraft schildert auch immer wieder so "ekelerregende", "abstoßende" Landschaften (ich lese gerade nebenher noch Der Schatten aus der Zeit).


    Ich werde mir das erste Kapitel am besten nochmal ausführlich vornehmen...


    Viele Grüße
    thopas