Mai 2008 - J. Green "Leviathan"

  • Hallo zusammen,


    @ Jaqui: Mme Londes' merkwürdige Reaktion hat wohl auch damit zu tun, dass sie ja bereits die mit ihr verwandte Angèle in die Prostitution getrieben hat und hier erste Ansätze macht, das Gleiche mit Fernande zu tun. Sie nimmt die Wäschefrage mE zum Anlass, Fernandes körperliche Entwicklung zu überprüfen, um zu schauen, ob sie sich bereits als Alternative zu Angèle anbietet. Da Fernande
    aber noch eine Mutter im Hintergrund haben könnte, die vielleicht misstrauisch werden könnte, versucht sie vorzubeugen und das Mädchen einzuschüchtern, damit diese nichts weitererzählt.


    @ Sir Thomas,
    du meinst mit der zweiten Reihe, dass Green nicht sofort in die Augen fällt, wenn man an die Moderne denkt?! Da stimme ich dir zu. es gibt größere Namen. Was den literarischen Wert angeht, bin ich noch zu keinem Urteil gelangt, jedenfalls ist der Roman um viele Klassen besser als die von mir unten erwähnten Alterswerke.


    Mittlerweile bin ich auf S. 176 angelangt und habe Guérets "Amoklauf" hinter mir. Das ist ja ein ganz tolles Stück beklemmender Prosa und voll von unglaublich dichten Umgebungsbeschreibungen: Die Nacht auf dem Hof der Kohlenhandlung wird mir lange im Gedächtnis bleiben.
    Aber auch die wunderschöne Beschreibung der ersten Herbsttage auf S. 135 f. ist fast wie Lyrik: Man taucht in diesen dargestellten Moment ein!
    Guéret stößt mich ab, tut mir aber auch leid: Durch die Innensicht fühlt kann man seine emotionale Entwicklung hin zur Tat / den Taten
    sehr gut nachvollziehen, wenn auch nicht wirklich "verstehen". Dagegen geht mir Mme Grosgeorges immer noch gegen den Strich. Da gelingt es mir auch nicht, Greens Entwicklung ihres Charakters nachzuvollziehen, ebenso wenig wie bei Mme. Londes. Ich glaube, dass Greens "Sympathien" beim Schreiben auch eher bei Guéret und Angèle waren, während er die beiden Damen zwar sehr glaubhaft darstellt, aber selbst den Typ abstoßend fand. Natürlich heißt das nicht, dass Green deshalb Guérets Verbrechen in irgendeiner Weise billigt, er kann sich nur in ihn hinein versetzen wie ein moderner Profiler.


    So, das war's für heute.
    @ Madeleine: mit dem Lesen habe ich sicher auch noch bis Ende dieser Woche zu tun, und das Buch beschäftigt uns wohl alle noch länger. Da wirst du sicher noch mitdiskutieren können.


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)


  • du meinst mit der zweiten Reihe, dass Green nicht sofort in die Augen fällt, wenn man an die Moderne denkt?!


    Exakt. Ich kann das komplette Werk Greens nicht beurteilen, aber "Leviathan" und der zwei Jahre früher erschienene "Adrienne Mesurat" sind für mich Romane, die zu den Großen der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts zählen.


    Liebe Grüße


    Sir Thomas

  • Hallo,


    nur eine kurze Mitteilung,
    berufliche Leseerfordernisse bringen es mit sich, dass ich ein paar Tage lang - bis zum Pfingstwochenende - leider nicht mit dem 'Leviathan' fortfahren kann: Ich hoffe, dass es dann aber rasch weitergeht.


    HG


    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Hallo, Ihr Lieben!
    Gut, dass ich durch Euch auf dieses Buch gestoßen bin.
    Mir hat schon der Anfang gut gefallen, weil ich diese ausführlichen Personenbeschreibungen liebe, wie es auch viele russische Autoren so gut können, sodass man die Figuren bildhaft vor sich sieht.
    Sehr beeindruckend fand ich auch die Beschreibung des Restaurantbetriebes von Madame Londe. Das hat mich zuerst an einen Speisesaal in einem Internat erinnert.
    Ich bin jetzt auf Seite 100, und mich berühren die Personen schon. Guere in seinem unglücklichen Leben als Hauslehrer, verheiratet mit einer Frau, die er nicht liebt, verliebt in ein Mädchen, dass sich prostituiert, und wahrscheinlich spürt, dass seine Gefühle aufrichtig sind, seine Liebe aber vielleicht gerade aus dem Grunde nicht annehmen kann.
    Madame Londe, die in ihrem einsamen Leben zu einer verbitterten Frau wurde, die nur noch ihre krankhafte Neugier dazu bringt, sich für ihre Mitmenschen zu interessieren, und ein junges Mädchen an ihre Restaurantkundschaft mehr oder minder verkauft.
    Und sprachlich meisterhaft hat der Autor die Szene im Studierzimmer geschildert, als sich Madame Grosgeorge über das Können ihres Sohnes informieren will.
    Bei dieser Beschreibung stehen die Personen leibhaftig vor mir: der schmächtige, blasse Knabe, der vor seiner Mutter genauso große Angst hat wie der Lehrer, dem die Anwesenheit seiner Dienstgeberin den Schweiß auf die Stirne treibt.
    Diese sprachliche Gewandtheit zeichnet für mich das Genie des Schriftstellers aus, egal in welcher Reihe der Klassiker er auch stehen mag.


    Ich bin schon sehr neugierig, ob Julien Green diesen fulminanten Einstieg bis zum Ende durchzuhalten vermag.


    Liebe Grüße, Madeleine.


  • Madame Londe, die in ihrem einsamen Leben zu einer verbitterten Frau wurde, die nur noch ihre krankhafte Neugier dazu bringt, sich für ihre Mitmenschen zu interessieren, und ein junges Mädchen an ihre Restaurantkundschaft mehr oder minder verkauft.


    Ihr Lieben,


    Madame Londe gehört, zusammen mit Madame Grosgeorge, für mich zu den interessantesten Gestalten des Romans. Sie verkörpert einen Frauentyp, der, im Alter auf sich allein gestellt, eine seltsame Überlebensstrategie in der damals sicher von Männern dominierten Provinzwelt entwickelt hat. Sie ist nicht reich und muss daher über eine Einkommensquelle in Gestalt ihres Restaurants verfügen. Auch die von ihr betriebene Kuppelei ist Teil ihres „Geschäftsmodells“, denn ohne dieses subtile Spinnennetz, das sie um den männlichen Teil des Dorfs webt, ist ihr Restaurant zum Scheitern verurteilt. Den Männern, die dort verkehren, geht es nämlich mitnichten ums Speisen, sondern um ... na ja, Ihr wisst schon ...


    Männer sind in diesem Roman vielfach Getriebene (evtl. Ausnahme: Monsieur Grosgeorge). Sie gieren nach echter Liebe (Guéret) oder sexuellen Abenteuern, was sie zu einem Spielball weiblicher Raffinesse macht. Sie sind den Frauen hoffnungslos unterlegen und jämmerliche Figuren im kühl kalkulierten Spiel des „schwachen“ Geschlechts. Untereinander belauern sie sich neidisch und misstrauisch, gönnen einander nicht den Triumph eines Stelldicheins mit der jungen Angèle und wollen nicht merken, wie sie manipuliert werden.


    Das alles weiß Madame Londe – und nutzt es skrupellos aus. Eine Alternative steht ihr nicht zur Verfügung, zumindest nicht in ihrem engen Weltbild. Sie folgt dem Imperativ „Handle wie ein Filou, oder Du gehst unter!“ Auch Eva Grosgeorge fällt unter diese Kategorie, allerdings ein wenig anders. Sie wurde von ihrem Mann missbraucht und hasst ihn seitdem. Sie hat jedoch nicht den Mut, aus dieser dumpfen Welt auszubrechen, die ihr immerhin die notwendige materielle Sicherheit bietet. Deshalb rächt sie sich an dem „Produkt“ des ehelichen Missbrauchs – ihrem Sohn. Dabei entwickelt sie krankhafte und sadistische Züge, was sie zu einer der Gestalten macht, die wir aus den antiken Tragödien kennen (darauf wurde weiter oben bereits hingewiesen). In der Begegnung mit Guéret sieht sie ihre letzte Chance ...


    Ob sich in diesen Frauengestalten generell eine negatives Frauenbild des sexuell zerrissenen Autors offenbart, vermag ich nicht zu sagen. Ich halte es jedoch für wahrscheinlich - vor allem aufgrund des katholischen Hintergrunds.


    Sonnige Grüße!


    Sir Thomas

  • Hallo Sir Thomas!
    Und ich hab mich schon gefragt, ob diese Männer keinen heimischen Herd haben. Warum kommen sie Tag für Tag fast wie unter innerem Zwang stehend zu Madame Londe? Und warum sind keine Frauen unter den Gästen? Da hätte ich ja auch selber drauf kommen können, dass dieses regelmäßige Erscheinen mit den Diensten von Angele in Zusammenhang steht.
    Aber beschrieben hat er sie ganz großartig, diese Männerrunde. Kann ich mir so richtig gut vorstellen.
    Den 1. Teil habe ich jetzt beendet und Gueret hat mich in seinem Verhalten sehr enttäuscht. Ich dachte schon, er hat aufrichtige Gefühle für das arme Mädchen, und dann kann er mit seiner gekränkten Eitelkeit und der Demütigung der Zurückweisung nicht anders umgehen, als sie zu töten. Wenn ein Mord auch niemals zu rechtfertigen ist, hätte ich diese Tat, die aus Eifersucht entstanden ist, ja noch in gewisser Weise verstehen können, aber das er auch noch den unschuldigen alten Mann erschlägt, das hat ihm meine Sympathien endgültig verscherzt.


    Besonders gut gelungen finde ich die Beschreibung, wie Gueret versucht, in das Zimmer von Angele einzudringen. Ich habe so etwas in dieser Ausführlichkeit noch nie gelesen.


    Und einen wunderschönen Satz über die Liebe, oder eine Definition von Liebe habe ich gefunden, der mir sehr gut gefallen hat:
    "Man gibt seine ganze Freiheit auf, wenn man sich in ein Wesen verliebt; die Begierde kann aufhören, die Leidenschaft gänzlich erlöschen, aber auf dem Grunde des Herzens bleibt etwas Untilgbares zurück, etwas, das man geben, aber nicht zurücknehmen kann."


    Weißt Du mehr über das Leben von Julien Green, Thomas? Ich denke, ich werde einmal eine Biographie von ihm lesen, wenn ich eine finde.
    Womöglich hatte er auch Beziehungen, in denen es ihm danach war, einen Mord zu begehen. Gut, dass er das dann doch nur in Romanen getan hat.


    Natürlich bin ich auf den Fortgang des Buches schon sehr neugierig.


    Liebe Grüße, Madeleine.

    Einmal editiert, zuletzt von Madeleine ()


  • Weißt Du mehr über das Leben von Julien Green, Thomas?


    Hallo, Madeleine,


    im Material-Ordner dieser Leserunde findest Du einige Hinweise (einen Link zu wikipedia-Artikeln sowie den Auszug eines FAZ-Nachrufs). Mehr ist mir nicht bekannt.


    Liebe Grüße


    Sir Thomas

  • Danke für den Hinweis, Sir Thomas!
    Ich werde sicher noch andere Werke von Green lesen.


    Der Stil gefällt mir wirklich gut, eine wunderschöne Lektüre.


    Besonders berührt hat mich die Szene, in der die schlimm entstellte Angele (und ich dachte schon, Gueret hat sie getötet) herausfinden möchte, wie sie auf andere Menschen wirkt. Fernandes Reaktion, ihr Zurückweichen, obwohl sie nicht zugeben will, dass ihr vor dem Gesicht graut, die Verzweiflung Angeles, das hat er doch einfach wunderbar in Worte gefasst.


    Und auch Madame Londes Ängste bezüglich ihres Einkommens fand ich sehr interessant geschildert. Wie Sir Thomas schon erwähnt hat, muss sie als alleinstehende Frau jetzt um ihre Existenz fürchten, da die Aufbesserung durch Angele ja wegfällt.
    Momentan fehlt mir Gueret. Ich muss gleich weiterlesen, damit ich weiß, wo er sich jetzt aufhält.


    Gute Nacht, wünscht Madeleine.

  • Jetzt befaßt sich der Autor näher mit dem Charakter von Eva Grosgeorges.
    Ich glaube nicht, dass sie schon immer eine kalte und bösartige Frau war. Das Leben hat für sie nur nicht viel Gutes bereitgehalten, wodurch sie verbittert und hartherzig wurde. Materiell geht es ihr sicher nicht schlecht, aber die Leere ihres Lebens wird besonders mit den Worten verdeutlicht, die sie an Angele richtet: "Was für eine Idee. Unglücklich sind alle Menschen. Wenn man immer verreisen wollte, sobald man unglücklich ist, wäre das für die Eisenbahn wirklich ein gutes Geschäft. ...."


    Weiter bin ich leider noch nicht. Samstags muss ich in Haus und Garten aufarbeiten, was unter der Woche liegen geblieben ist. Aber jetzt habe ich Feierabend und kann gleich weiterlesen.


    Schönes Pfingstwochenende wünscht Euch Madeleine.

  • Hallo zusammen,


    nun bin ich auch wieder im Geschäft und ziemlich genau so weit, wie du, @Madeleine, bei deinem letzten Beitrag.
    Auch ich habe mit Interesse die Ausführungen zu Eva Grosgeorges Charakter gelesen, dennoch kann ich dieser Frau weiterhin am wenigsten abgewinnen: Diese absolute Verbitterung bleibt mir verschlossen, denn sie hätte aufgrund ihres Reichtums doch zu Beginn des letzten Jahrhunderts sich ein bisschen Lebensglück organisieren können. Ich verstehe auch nicht ihre Haltung gegenüber ihrem Kind: Selbst wenn sie es nur als Produkt der ehelichen Vergewaltigung sieht, müsste sie es doch wenigstens mit Gleichgültigkeit behandeln können und nicht quälen, denn sie weiß doch, wie es ist, wenn man nur gedemütigt wird.
    Was genau ihr Mann ihr angetan hat, bleibt auch offen: Dass er allerdings ein Unsympath ist, haben wir ja schon in der Szene mit dem Prälatenbild und Guéret mitbekommen.


    Viel werde ich an diesem Wochenende nicht lesen können: Heute waren Tätigkeiten in "Haus und Hof" angesagt, morgen und übermorgen muss ich meistenteils arbeiten.


    Euch ein schönes Pfingstwochenende


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Die Ausführlichkeit mit der beschrieben wird wie Gueret in das Zimmer von Angele eindringen will, fand ich sehr faszinierend. Schockiert hat mich die Szene als er auf das junge Ding einprügelt.


    Als abstoßend finde ich auch Madame Londe. Sie tut ja geradezu so als wüsste sie nicht was Angele mit den Männern macht. Sie kommt sie vor, wie wenn sie sich denkt: Was ich nicht weiß, existiert auch nicht und ich bin ja gut zu dem Mädl und zwinge sie zu nichts. Ich finde sie ist eine sehr unsympathische Person.


    Das Buch liest sich sehr flüssig, auch wenn ich nicht wirklich oft zum Lesen komme.
    Aber ich bin schon sehr gespannt wie es weitergeht.


    Katrin


  • Als abstoßend finde ich auch Madame Londe. Sie tut ja geradezu so als wüsste sie nicht was Angele mit den Männern macht. Sie kommt sie vor, wie wenn sie sich denkt: Was ich nicht weiß, existiert auch nicht und ich bin ja gut zu dem Mädl und zwinge sie zu nichts. Ich finde sie ist eine sehr unsympathische Person.


    Hallo, Katrin,


    ich finde alle Hauptpersonen des Buchs (Guéret, Madame Londe, Madame Grosgeorge, Angèle) mehr oder weniger unsympathisch und gehe davon aus, dass Green dies beabsichtigt hat. Er nimmt dem Leser bewusst jede Identifikationsmöglichkeit mit seinen Figuren. Mich hat das anfangs etwas irritiert und ich habe mich gefragt, warum dieser Autor ein derart finsteres Bild malt. Ich vermute, dass sich dahinter religiöse Anschauungen verbergen (die Welt als Jammertal, der Mensch als Sünder etc.).


    Liebe Grüße


    Sir Thomas

  • In einem anderen Thread habe ich soeben etwas gelesen, das in unsere kleine Runde passt. "Die Leserin" hat dort über Julien Green geschrieben:


    " ... eine ungesunde und unverarbeitete Mischung aus Katholizismus und Homosexualität ...".


    Ich lass das mal sacken, wie man bei uns im Ruhrpott zu sagen pflegt.


    Viele Grüße


    Sir Thomas


  • In einem anderen Thread habe ich soeben etwas gelesen, das in unsere kleine Runde passt. "Die Leserin" hat dort über Julien Green geschrieben:


    " ... eine ungesunde und unverarbeitete Mischung aus Katholizismus und Homosexualität ...".


    So, nach einer Tasse Kaffee und einer Zigarette ist dieses Zitat halbwegs verdaut. Ich (als heterosexuelles, männliches Wesen evangelischen Glaubens) kann nicht erkennen, warum die Mischung aus Katholizismus und Homosexualität prinzipiell „ungesund“ sein soll. Aber: Motive für den „Leviathan“ lassen sich vor diesem Hintergrund durchaus ableiten:


    · die Ehe der Familie Grosgeorge als Hölle
    · der brutale Züge annehmende Trieb Guérets
    · Kindesmissbrauch und Kinderprostitution (Madame Londe in wunderbarer Eintracht mit den männlichen Dorfbewohnern).


    Der französische Dekadenz-Romancier Joris Karl Huysmans hat in seinem Buch „Gegen den Strich“ (1884) über den Zusammenhang von Katholizismus und Sadismus philosophiert. Beide seien seit den Schriften des Marquis de Sade Brüder im Geiste, so Huysmans Schlussfolgerung. Eine gewagte These, und das von einem Erzkatholiken! Möglicherweise sind dies aber genau die Abgründe, in die wir im „Leviathan“ oder im aktuellen Amstetten-Verbrechen blicken ...


    Nachdenkliche Pfingstgrüße von


    Sir Thomas

  • Hallo zusammen!
    Ich finde die Charaktere ja auch nicht furchtbar sympathisch, aber ich versuche für mich immer zu erklären, warum jemand so kalt und gleichgültig auf seine Umwelt reagiert, oder nur den eigenen Vorteil im Auge hat und dabei über Leichen geht. Das hängt vielleicht aber auch mit meinem Beruf zusammen.
    Jedenfalls ist Madame Grosgeorge ein gutes Beispiel dafür, wie eine lieblose Ehe einen Menschen trotz allen Reichtums seelisch vernichten kann, und die Möglichkeiten, aus so einer Beziehung auszubrechen, waren damals ja auch kaum gegeben. Was sie ihrem Sohn mit ihrem Verhalten antut, kann sie in ihrer Lage nicht mehr wahrnehmen.
    Wen ich momentan nicht so recht verstehe, ist Angele. Sie sehnt ihren Peiniger Gueret herbei und nun will sie auch noch mit ihm fliehen.
    Treibt sie nur die Angst und ihre ausweglose Situation dazu oder empfindet sie tatsächlich etwas für ihn?
    Über Guerets Gefühle bin ich mir auch nicht im klaren. Wie kann man seine große Liebe, auch wenn man enttäuscht wird, fast ermorden? Oder gehört er zu den Männern, die ihre Besitzansprüche, die sie mit Liebe verwechseln, nur mit einem gewissen Potential an Gewalt aufrechterhalten können?


    Das Zitat, das Du da nennst, Sir Thomas, finde ich sehr interessant.
    Ich persönlich glaube ja, dass der Katholizismus allein schon für eine Reihe seelischer Fehlsteuerungen bei vielen Menschen verantwortlich gemacht werden kann. Du brauchst Dir nur vor Augen zu halten, mit wieviel Angst die Kinder erzogen wurden und wie intolerant die Katholische Kirche mit Fragen der Sexualität umgegangen ist. Das hat sicher schon die seelische Entwicklung vieler "normaler" Menschen gestört; frage nicht, was passierte, wenn da noch Homosexualität ins Spiel kam.
    Ich finde zwar das heutige Getue um die gleichgeschlechtliche Liebe sehr übertrieben, aber ich glaube auch, dass man sich nicht aussuchen kann, ob man homo- oder heterosexuell wird. Zumindest habe ich einmal gelesen, dass Homosexualität auf eine Fehlentwicklung zwischen Mutter und Sohn zurückzuführen sei, wobei diese sich bis zum Alter von 3 Jahren bereits manifestiert habe, wenn sie natürlich auch erst in der Pubertät zum Vorschein kommt. Genaueres hat der Artikel auch nicht verraten.


    Hast Du das Buch "Gegen den Strich" gelesen? Das würde mich auch sehr interessieren.


    Hier stoße ich überhaupt auf so viele Autoren und Bücher, von denen ich noch nie etwas gehört habe.
    Wirklich ein tolles Forum, das Ihr hier ins Leben gerufen habt.


    Angenehme Pfingsten
    wünscht Madeleine.

  • Hallo zusammen,


    nun bin ich noch gute 20 Seiten vom Schluss entfernt und hoffe, diesen in ruhigen Nachtstunden noch zu bewältigen. Der Abend hält gleich erst noch Anderes bereit.


    Zu dem Themenbereich Katholizismus und / oder Homosexualtiät will ich hier nur soviel bemerken, dass
    1. der Katholizismus mir kaum eine Rolle zu spielen scheint, jedenfalls nicht als "Morallehre", da alle Hauptakteure frei von jedem Schuldbewusstsein sind, jedenfalls können sie Ansätze dazu immer schnell verdrängen,
    2. Greens sexuelle Orientierung höchstens in der Triebgesteuertheit Guérets sublimiert ist, das könnte aber jeder heterosexueller Autor, der sich für die seellischen Abgründe von Leidenschaft interessiert, genauso schreiben.


    Die Äußerung von Leserin kenne ich nicht aus dem Zusammenhang, bezüglich unseres Romans finde ich sie ausgesprochen unzutreffend.

    Nun zu meinen weiteren Leseeindrücken: Summa --> mir hat der erste Teil deutlich besser gefallen: Da spielen Natur, Kleingestadtgesellschaft, Gespräche und Ereignisse eine ausgewogene Nebenrolle neben den seelischen Einblicken. Dagegen treten alle diese Dinge im zweiten Teil fast völlig zurück und die Nabelschau herrscht vor. Das finde ich auf die Dauer ermüdend.


    Gelungen finde ich dagegen den Aufbau des Romans: Die Katastrophe am Ende von Teil 1 ist auch gleichzeitig der Beginn für die Auflösungserscheinungen und Ausbrüche von Trieben (bei Mme Grosgeorge) des zweiten Teils: Alles treibt unausweichlich auf ein weiteres finales Unglück hin.


    Man wird sehen.


    Euch noch einen schönen Abend und Pfingstmontag


    HG
    finsbury

    Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. (Kafka)

  • Schönen Pfingstmontagmorgen, liebe Mitleser!


    Ich habe das Buch in den frühen Morgenstunden beendet, und es traf ein, was mir in der zeitgenössischen Literatur so gut wie nie passiert. Ich habe es bis zum Schluss mit großer Anteilnahme gelesen. Julien Green ist der Atem nicht ausgegangen, und er hat auch rechtzeitig ein Ende gefunden, sodaß man der Charaktere nicht überdrüssig wurde.
    Gegen Ende hin war es ja noch mal richtig spannend, allerdings will ich nicht mehr dazu sagen, weil ich nicht weiß, wie weit Jaqui schon ist, um ihr den Schluß nicht vorwegzunehmen.
    Finsbury, du bist sicher fertig geworden. Irgendwie klingt das, was Du gestern geschrieben hast, nach Nachtdienst. Du hast mein Mitgefühl, ich habe das 20 Jahre lang durchgestanden. Aber solange ein paar ruhige Stunden zum Lesen bleiben, ist es erträglich.


    Mit dem Leviathan ist wohl Gueret gemeint, nehme ich an, oder könnte es sich auch um Madame Grosgeorge handeln?
    Oder sind sie alle gemeint, die ganze Gesellschaft als riesiges biblisch-mythologisches Seeungeheuer?


    Gestern habe ich noch den sehr ausführlich diskutierten Thread zum Thema "Wie definiert man einen Klassiker?" gelesen.
    Für mich ist die Definition sehr hilfreich, zumindest ein Anhaltspunkt, wenn man sich auch nicht strikte daran halten sollte, weil dann Julien Green noch keiner ist, aber vielleicht auf dem besten Wege einer zu werden.


    Ich bin jedenfalls froh, durch diese LR den "Leviathan" kennengelernt zu haben. Zurück bleibt das Gefühl, nach langer Zeit wieder einmal ein sehr gutes Buch gelesen zu haben.
    Ich habe schon überlegt, ob ich mich von der zeitgenössischen Literatur nicht gänzlich verabschieden werde. Die Lebenslesezeit ist viel zu kurz, um sich mit schlechter Lektüre abzumühen.


    Liebe Grüße, Madeleine.

    Einmal editiert, zuletzt von Madeleine ()


  • Hast Du das Buch "Gegen den Strich" gelesen? Das würde mich auch sehr interessieren.


    Liebe Madeleine,


    ja, ich habe es gelesen. "Gegen den Strich" war damals (1884) so etwas wie die "Bibel der Dekadenz", insbesondere Oscar Wilde hat das Buch sehr geschätzt. Im Mittelpunkt steht ein dekadenter, adeliger und extrem wohlhabender Dandy, der sich nach Exzessen und Ausschweifungen in die Einsamkeit eines luxuriösen Landsitzes zurückzieht, um sich dort voll und ganz geistigen Genüssen (insbes. der Literatur) und philosopischen Gedanken hinzugeben. Die Handlung des Buchs wäre schnell erzählt, aber darauf kommt es nicht an. Es ist ein sonderbares Werk und bildet, sprachlich sehr gelungen, das dekadente Weltbild der l´art pour l´art-Bewegung ab. Fazit: Lesenswert, wenn man sich auf einen exotisch-kranken Charakter einlassen kann.


    Liebe Grüße und einen schönen Restfeiertag


    Sir Thomas

  • Hallo Sir Thomas!


    "Gegen den Strich" gibt es erfreulicherweise und wider erwarten sogar in unserer Bücherei.
    Sollte es demnächst in den Tiefen des Kellerarchivs gefunden werden, kann ich mich alsbald auf den von Dir beschriebenen Charakter einlassen.


    Liebe Grüße, Madeleine.


  • Gegen Ende hin war es ja noch mal richtig spannend, allerdings will ich nicht mehr dazu sagen, weil ich nicht weiß, wie weit Jaqui schon ist, um ihr den Schluß nicht vorwegzunehmen.


    Ich bin leider nicht ganz so weit wie ich gerne wäre, bei Seite 140, aber ich werde mich jetzt in die Sonne legen und weiter lesen.


    Ihr könnt übrigens gerne über das Ende diskutieren, ich lasse mir das Buch nicht vermiesen, auch wenn ich den Schluss hier lese. :winken:
    Ihr könnt ja nichts dafür, dass ich so langsam bin.


    Katrin