Klassische vs. moderne Übersetzung

  • Wer die griechischen oder römischen Klassiker nicht im Original lesen kann, ist leider auf Übersetzungen angewiesen. In der Regel gibt es bei den bekannteren Werken eine Fülle an Übersetzungen, denken wir zum Beispiel an Homer. Da gibt es meistens eine Übersetzung, die besonders prägend war (bei Homer ist es zum Beispiel die Übersetzung von Voss), und neuere Übersetzungen, die meistens verständlicher sind und auch sonst Vorzüge gegenüber der klassischen Übersetzung haben, immerhin hat es in der Forschung Fortschritte gegeben und die Sprache hat sich ebenfalls weiterentwickelt.


    Mich interessiert: Zu welchen Übersetzungen greift ihr meistens? Zur klassischen, weil sie inzwischen zu einem unverzichtbaren Gut der eigenen Kultur geworden ist, oder zu einer gelungenen modernen Übersetzung, weil sie verständlicher ist und in philologischer Hinsicht in vielen Details dem Original besser gerecht wird?


    Wie sieht es ganz konkret bei Homer aus?


    Schöne Grüße,
    diogenes

    »Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechte der Menschen.« (Homer, Ilias 6.146)

    Einmal editiert, zuletzt von diogenes ()


  • Wie sieht es ganz konkret bei Homer aus?


    Also schauen wir mal, was wir im Haus haben:



    [li]Johann Heinrich Voß – berühmt, besonders weil es der Goethe-Homer ist (vgl. den »Werther«), aber für die meisten Leser heute sicherlich sprachlich schwer zugänglich. Man muss sich über längere Passagen einlesen. Voß hat – wie alle deutsche hexametrischen Übersetzung – den Nachteil, in eine Sprache übersetzen zu müssen, die wesentlich weniger lange Wörter aufweist als das Griechische Homers. Deshalb gerät im der lakonische Text Homers viel zu breit und geschwätzig, da er zur Einhaltung des Versmaßes lauter Füllwörter in den Text schieben muss, die bei Homer nicht vorhanden sind. [/li]
    [li]Rudolf Alexander Schröder – bewusst altertümelnd und rückwärtsgewandt in der Sprache. Nur eine Lektüre für Fans von RAS oder echten Homer-Connaisseure, die eine anachronistische Alternative zu Voß kennen lernen wollen. Unter den Voraussetzungen der Poetik des Übersetzers durchaus virtuos. [/li]
    [li]Sammlung Tusculum; Ilias üb. v. Hans Rupé, Odyssee von Anton Weiher; zweisprachige Ausgabe – ebenfalls hexametrische Übertagungen, in der Wortwahl aber wesentlich prosaischer als der vergleichsweise »hohe Ton« bei Voß. Deutlich angenehmer zu lesen, aber klar auf die Zielgruppe der philologisch vorgebildeten Leser abgezielt: Keine Worterklärungen, Nachworte auf einem studentischen Niveau. [/li]
    [li]Dietrich Ebener – moderne Standard-Übersetzung der DDR, ebenfalls hexametrisch (von mir bislang nicht gelesen). Vorwort und Erläuterungen sind auf eine breitere Leserschaft ausgerichtet. Auch diese Übersetzung ist deutlich besser zu lesen als der alte Voß und erscheint mir beim überfliegenden Hineinlesen auch weniger steif als die Tusculum-Übersetzung. Aber da kann die Stichprobe trügen. [/li]
    [li]Wolfgang Schadewaldt; Odyssee in Prosa; Ilias in freier Versifizierung – war lange Zeit mein unerreichter Lieblings-Homer. Die Entscheidung, das Versmaß in der Übersetzung fallen zu lassen, bekommt den Texten unglaublich! Schadewaldts Homer ist ein spannender, oft erstaunlich karger Text, der trotz der stehenden Adjektive prägnant und sehr präzise im Zugriff auf die Situation ist. Eine meiner beiden Empfehlungen zum Einstieg in die Welt Homers. [/li]
    [li]Gerhard Scheibner – Prosaübersetzung beider Epen; auch in der DDR entstanden – ist bei mir in direkte Konkurrenz zu Schadewaldt getreten. Scheibner ist der einzige Übersetzer, der deutlich darauf hinweist, dass es eigentlich keinen einheitlichen Original-Text Homers gibt. Er hat vor der Übersetzung daher erstmal eine eigene Textedition des Originals erstellt. Bislang habe ich nur die »Ilias« in dieser Ausgabe gelesen, die fand ich aber hervorragend. [/li]
    [li]Roland Hampe – in gewisser Weise auch eine Standard-Ausgabe, weil es die Reclam-Ausgabe ist, in der wahrscheinlich viele Leser Homer kennen lernen. Ist ebenfalls hexametrisch. Hampe widerspricht der Einsicht, das Deutsche müsse den Hexameter durch Fülsel auf die nötige Länge bringen; ihm sei dies nie beim Übersetzen passiert. Ob das an der seit Voß gewandelten Sprache oder an der natürlichen Geschwätzigkeit Hampes liegt, kann ich erst nach einer Lektüre beurteilen, die ich bislang gescheut habe. [/li]
    [li]Und zum guten Schluss: Richmond Latimore – eine der gängigen englischen Übersetzungen. Latimore verzichtet ebenfalls darauf, den Hexameter nachzubauen, behält aber die Versifikation grundsätzlich bei. Die Ausgabe ist elegant übersetzt, für den nicht muttersprachlichen Leser aber durchaus anspruchsvoll, was das Vokabular angeht. [/li]

    Einmal editiert, zuletzt von bonaventura ()

  • Herzlichen Dank für Deine interessante Antwort! Du liest demnach lieber moderne Übersetzungen und zwar bevorzugt Prosaübersetzungen. Voß empfinde ich als sehr pathetisch und schleppend, ganz anders als die Übersetzung von Hampe, den ich zumindest meinem ersten Eindruck nach trotz des Hexameters gar nicht so pathetisch oder schleppend empfinde. Die Übersetzung von Gerhard Scheibner interessiert mich sehr, nur ist sie leider vergriffen.


    Schöne Grüße,
    diogenes

    »Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechte der Menschen.« (Homer, Ilias 6.146)


  • Die Übersetzung von Gerhard Scheibner interessiert mich sehr, nur ist sie leider vergriffen.


    Na, das ist bei den heutigen Möglichkeiten ja kein besonderes Problem. zvab.com z. B. liefert bei der Suche nach Homer u. Scheibner zahlreiche Angebote.